Gegen Russland, Serbien und die Grenzen von 1919

„Za dom – spremni!“ „Für die Heimat – bereit!“ Mit dem alten Gruß der Ustaša-Faschisten beginnt der Song von Marko Perković und seiner Band Thompson, den die Spieler der kroatischen Fußball-Nationalmannschaft nach ihrem Sieg über Argentinien bei der Weltmeisterschaft 2018 in Russland in ihrer Kabine grölten.

Von Jörg Kronauer

„Za dom – spremni!“ „Für die Heimat – bereit!“ Mit dem alten Gruß der Ustaša-Faschisten beginnt der Song von Marko Perković und seiner Band Thompson, den die Spieler der kroatischen Fußball-Nationalmannschaft nach ihrem Sieg über Argentinien bei der Weltmeisterschaft 2018 in Russland in ihrer Kabine grölten. „Bojna Čavoglave“, „Bataillon Čavoglave“, heißt das Lied; es war ein Hit in den Reihen kroatischer Freischärler in der ersten Hälfte der 1990er Jahre, und wenngleich es noch keine Zeilen enthielt wie „Oj, Neretva, fließ abwärts, treib die Serben in die blaue Adria“, die Perković in späteren Liedern sang, so bejubelte es doch den Krieg rechter Milizen („Werft Granaten, jagt die Bande über die Quelle des Flusses zurück“) – und es ließ den traditionellen Ustaša-Gruß wieder aufleben, der in etwa dem deutschen „Sieg Heil!“ entspricht. Videoaufnahmen, die kroatische Spieler beim begeisterten Mitsingen zeigten, verbreiteten sich Ende Juni 2018 rasch im Internet. Eine kleine Welle der Empörung folgte; doch dann geriet der Vorfall ziemlich bald wieder in Vergessenheit. Konsequenzen hatte er nicht.
Wieso auch. Wenn‘s nur die kroatischen Fußballer und ihre Fans wären, die sich immer wieder mit „Za dom – spremni!“-Rufen und Ähnlichem hervortun; so weiß man etwa von Davor Šuker, dem Präsidenten des kroatischen Fußballverbandes, seit Jahren, dass er sich einst stolz am Grab des Ustaša-Führers Ante Pavelić fotografieren ließ. Ultrarechte Positionen sind in Kroatien insgesamt en vogue; einen kleinen Eindruck bietet die Tatsache, dass zu Konzerten von Perković – in seinen Liedern findet man Verse wie „Leuchtender Stern über Metković, grüß uns den Ante Pavelić“ – regelmäßig Zehntausende strömen. Glaubwürdigen Schätzungen zufolge haben bis zu 60.000 Personen oder sogar mehr seinen Events beigewohnt; das wären mindestens 1,5 Prozent der kroatischen Bevölkerung. Im Mai 2018 hat die Antirassismus-Kommission des Europarats einen Bericht über Kroatien publiziert, in dem sie konstatiert, „Rassismus und intolerante Hassrede“ besonders gegen Serben, Roma und LGBT nähmen „in der Öffentlichkeit rasch zu“. Nationalismus wachse unter jungen Menschen massiv an, und er finde „vor allem die Form eines Lobpreises auf das faschistische Ustaša-Regime“. Dieser Eisberg bringt immer wieder Spitzen hervor wie den Politiker Zlatko Hasanbegović, der im Januar 2016 zum kroatischen Kulturminister ernannt wurde. Hasanbegović, ein Historiker, vertritt unter anderem die Position, der bosnische Imam und SS-Hauptsturmführer Husein Đozo sei „einer der markantesten und interessantesten Bosniaken“ gewesen – und überhaupt dürfe man die Geschichte des Zweiten Weltkriegs „nicht immer nur aus der Optik der Alliierten“ betrachten. Hasanbegović ist seit Oktober 2016 nicht mehr im Amt. Dafür hat nun aber Staatspräsidentin Kolinda Grabar-Kitarović mitgeteilt, ihr Lieblingsmusiker heiße Marko Perković.
NS-Kollaborateure wie die Ustaša-Faschisten feiern beileibe nicht nur in Kroatien eine fröhliche Auferstehung. Daran hat – indirekt – ein Spieler der kroatischen Fußball-Nationalmannschaft erinnert, als er nach dem Sieg seines Teams über Russland verkündete, er widme diesen Sieg Kiew, um anschließend auszurufen: „Ruhm der Ukraine!“ Die Parole „Ruhm der Ukraine! Den Helden Ruhm!“ („Slawa Ukraini! Herojam slawa!“) ist der Gruß der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) gewesen, eines Zusammenschlusses von Faschisten, dessen Milizen im Juni 1941 an der Seite der Deutschen die Sowjetunion überfielen und dort unter anderem am Massaker an der jüdischen Bevölkerung von Lviv (Lemberg) teilnahmen. Der Gruß der OUN ist während der Majdan-Proteste überaus populär gewesen, ebenso Stepan Bandera, der historische OUN-Führer, dessen Portrait man in Kiew während der Proteste immer wieder sah. Die krasse Entwicklung nach rechts, die die Ukraine seit dem Umsturz im Februar 2014 eingeschlagen hat, wird begleitet von einer Geschichtspolitik, die NS-Kollaborateure, weil auch sie schon gegen Moskau kämpften, hochleben lässt. So hat die ukrainische Regierung den 14. Oktober, der traditionell als Gründungstag der OUN gilt, unter dem Namen „Tag der Verteidiger des Vaterlandes“ zum nationalen Feiertag erhoben. Das Kiewer Bildungsministerium hat eine Direktive erlassen, der zufolge Schullehrer die Kollaborationsmiliz UPA, deren Mordbrennereien über 90.000 Polen und mehr als 1.500 Juden zum Opfer fielen, als ein „Symbol für Patriotismus und Opfergeist“, OUN-Führer Bandera wiederum als „herausragenden Repräsentanten“ des „ukrainischen Volkes“ zu ehren haben. Der Leiter des „Ukrainischen Instituts für Nationales Gedenken“, Wolodimir Wjatrowitsch, hat die Feststellung, die OUN und die UPA hätten mit den Nazis kollaboriert, als „Xenophobie“ und die Aussage, die UPA habe sich am Holocaust beteiligt, als „charakteristisch für sowjetische Propaganda“ diffamiert: Kritik an der NS-Kollaboration ist in der offiziellen heutigen Ukraine nicht mehr opportun.
Wie kommt‘s, dass NS-Kollaborateure in Kroatien und in der Ukraine neue Popularität genießen? Nun – in beiden Fällen haben Strukturen der historischen Kollaborateure in der Bundesrepublik überwintern können, und in beiden Fällen hat die deutsche Politik sich nach 1990 ihre Dienste zunutze gemacht, um den europäischen Kontinent politisch nach deutschen Interessen umzugestalten. Ustaša-Funktionäre und -Anhänger konnten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in der Bundesrepublik nicht nur Zuflucht finden, sondern dort von Anfang an auch völlig ungehindert politische Aktivitäten entfalten. So gründete sich bereits im Jahr 1950 in München unter Führung des Arztes Branimir Jelić, eines frühen Mitglieds der Ustaša, das Kroatische Nationalkomitee (Hrvatski Narodni Odbor, HNO) als Vereinigung rechter Kroaten in der Bundesrepublik. Im Jahr 1970, als Jelić, mittlerweile Träger eines goldenen Ehrenzeichens der CDU, sich an der Gründung eines CSU-Freundschaftskreises in Berlin beteiligte, sollen dem HNO rund 15.000 Kroaten angehört haben; Jelić leitete darüber hinaus von der Bundesrepublik aus einen westeuropäischen Zusammenschluss exilkroatischer Verbände mit insgesamt angeblich 25 Mitgliedsorganisationen. In München wurde auch die Zeitschrift Hrvatska Država (Der kroatische Staat) gedruckt, an deren Produktion sich der einstige Ustaša-Innenminister Mate Frković beteiligte. Ultrarechte Kroaten konnten es sich sogar leisten, in der Bundesrepublik politische Morde zu begehen: Im November 1962 erschossen 26 Täter bei einem Großüberfall auf die jugoslawische Handelsmission in Mehlem bei Bonn den Hausmeister, einen alten Partisanen; im August 1966 ermordete ein rechter Kroate den jugoslawischen Konsul in Stuttgart; im Februar 1978 wurde der jugoslawische Konsul in Frankfurt Opfer eines exilkroatischen Mordanschlags.
Und während die äußerste kroatische Rechte in der Bundesrepublik politisch agitierte und Morde beging, begann Bonn sie zu nutzen, um Brücken zu rechten Kreisen in Zagreb zu schlagen. So pflegte der BND in den 1970er und 1980er Jahren nicht nur enge Beziehungen zu einem Kreis um Ivan Krajačić, einem Mitarbeiter des jugoslawischen Geheimdienstes Uprava državne bezbednosti (UBDA), der damals bereits Kurs auf die Abspaltung Kroatiens aus dem jugoslawischen Staatsverbund nahm. Er bemühte sich gleichzeitig, die Kontakte zwischen exilkroatischen Milieus in der Bundesrepublik und dem erstarkenden Separatismus in Kroatien selbst zu intensivieren. Der Geheimdienstexperte Erich Schmidt-Eenboom berichtet, in den 1980er Jahren seien „in Zagreb alle Entscheidungen in strategischen und personellen Fragen nur noch in Absprache des Zentrums von Krajačić mit BND-Instanzen und Ustaša-Repräsentanten getroffen worden“. Dem Krajačić-Kreis gehörte nicht zuletzt Franjo Tuđman an, der wenige Wochen nach der Sezessionserklärung vom 25. Juni 1991, nun als kroatischer Präsident, nach Bonn reiste, um dort mit Kanzler Helmut Kohl und Außenminister Hans-Dietrich Genscher das weitere Vorgehen bei der Spaltung Jugoslawiens zu besprechen. Tuđman hatte, alle Kräfte gegen Belgrad bündelnd, auf einen beinharten Rechtskurs gesetzt, hatte 1989 das Vernichtungslager Jasenovac als „Sammel- und Arbeitslager“ verharmlost und den Ustaša-Staat als „Ausdruck des Strebens des kroatischen Volkes nach Unabhängigkeit und Souveränität“ gelobt. Das war der Nährboden, auf dem dann zu Beginn der 1990er Jahre ultrarechte kroatische Milizen gedeihen und ihren Sezessionskrieg gegen Belgrad führen konnten. Perković, der 1991 zum ersten Mal „Bojna Čavoglave“ sang, gehörte einer von ihnen an.
Ähnlich liegen die Dinge im Falle der Ukraine und der OUN. Diese war übrigens 1929 unter federführender Mitwirkung der deutschen Regierung gegründet worden – und zwar absichtsvoll in Wien, um die Rolle Berlins nicht allzu deutlich hervortreten zu lassen. Es ging neben dem Streben, Polen unter Druck zu setzen, auch darum, ein Instrument zu schaffen, um bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit vielleicht sogar die Sowjetunion zu zerschlagen, was im Ersten Weltkrieg ja schon einmal gelungen war. OUN-Führer Bandera erhielt nach dem Zweiten Weltkrieg Asyl in München, wo er bis zu seiner Ermordung durch einen KGB-Mann im Oktober 1959 lebte. Die Führung der Exil-OUN ging anschließend auf Jaroslaw Stezko über, einen von Banderas Kumpanen aus der Vorkriegs- und Kriegszeit, der ebenfalls in München Zuflucht gefunden hatte. Von der bayerischen Landeshauptstadt aus leitete Stezko zudem den Antibolschewistischen Block der Nationen, einen Zusammenschluss antikommunistischer Exilorganisationen mit Hintergrund in Ost- und Südosteuropa, der sich vor allem aus geflohenen NS-Kollaborateuren rekrutierte. Unterstützt wurden die Münchner Strukturen von staatlichen Stellen der Bundesrepublik, nicht zuletzt von Theodor Oberländers „Vertriebenen“-Ministerium und vom BND. Wozu Bonn die ehemaligen NS-Kollaborateure förderte, lässt indirekt eine Gedenktafel erkennen, die an einem Wohnhaus in der Münchner Zeppelinstraße 67 angebracht wurde; auf ihr heißt es: „Hier lebten und wirkten die Eheleute Jaroslaw und Jaroslawa Stezko für die Freiheit der Ukraine.“ Das Hauptziel des Exil-OUN-Chefs und seiner Ehefrau war nach dem Zweiten Weltkrieg tatsächlich dasselbe wie bereits in der Zwischenkriegszeit: Die Abspaltung („Befreiung“) der Ukraine von der Sowjetunion. Das war ein Ziel, dem – so utopisch es damals noch schien – auch die Bundesrepublik eine Menge abgewinnen konnte.
Als die Ukraine sich Ende 1991 tatsächlich von Moskau löste, zog Jaroslawa Stezko, die nach dem Tod ihres Ehemannes Jaroslaw im Jahr 1986 die Führung der Exil-OUN übernommen hatte, in den neuen Staat um – und beteiligte sich an der Gründung des Kongresses Ukrainischer Nationalisten (KUN), einer Partei, die sich als direkte Nachfolgeorganisation der OUN betrachtete. Für den KUN ist Stezko schließlich sogar in die Werchowna Rada gewählt worden, wenngleich die Partei nie eine größere Bedeutung erlangen konnte. Letzteres ist einer anderen Partei namens Swoboda vorbehalten geblieben, die, ebenfalls unmittelbar in Tradition zur OUN stehend, an den Majdan-Protesten maßgeblich beteiligt war. In diesem Kontext nahmen auch deutsche Stellen Kontakt zu ihr auf: Am 29. April 2013 traf der Swoboda-Parteichef zu Gesprächen beim Botschafter Deutschlands in der Ukraine ein. Worum ging‘s? Berlin war dabei, Kiews EU-Assoziierung durchzusetzen, um es fest an sich zu binden und es endgültig aus Moskaus Einflusssphäre zu lösen. Proteste gegen Präsident Wiktor Janukowitsch, der noch Schwierigkeiten machte, liefen bereits; die härtesten antirussischen Kräfte, und das war die äußerste Rechte in der Tradition der OUN, liefen sich warm, um ihn zu stürzen und die Ukraine endgültig von Russland zu trennen. Die Bundesregierung griff gezielt auf ihre Dienste zurück: Die alten Kollaborateure erwiesen ihren Nutzen für den Umbau Europas nach deutschen Zielen erneut.
Halfen die Ustaša und ihre späteren Anhänger Berlin zweimal bei der Zerschlagung Jugoslawiens, so unterstützten die OUN und ihre Epigonen dreimal den deutschen Versuch, die Ukraine dem Moskauer Herrschafts- bzw. Einflussbereich zu entreißen. Dabei hat sich der Kampf zur Zurückdrängung Russlands nicht nur auf ukrainischem Territorium abgespielt; auch die baltischen Staaten nahmen dabei eine wichtige Rolle ein. Und auch im Baltikum werden die am stärksten antirussischen Kräfte heute wieder in Ehren gehalten: alte NS-Kollaborateure aus Estland, Lettland und Litauen, die in vielen Fällen in der Waffen-SS gekämpft hatten. „Viel wichtiger“ als mögliche „Berührungsängste gegenüber der Waffen-SS“ erscheine mittlerweile zahlreichen Polit-Aktivisten „die Wendung gegen den großen und aggressiven Nachbarn Russland“, und diese werde von den alten NS-Kollaborateuren glaubwürdig verkörpert: So formulierte den Grundgedanken im Juni 2018 die Tageszeitung Die Welt. Anlass der Feststellung war, dass ein Veteranenverein in der kleinen estnischen Ortschaft Mustla eine Gedenktafel für den Esten Alfons Rebane aufgehängt hatte. Rebane hatte es im Zweiten Weltkrieg bis zum Standartenführer der Waffen-SS gebracht. Nach Kriegsende hatte er zunächst, gestützt auf den britischen MI6, in Estlands Untergrund gegen die Sowjetunion gekämpft, bevor er 1961 in die Bundesrepublik floh. Die CIA vermutete, das geht aus inzwischen veröffentlichten Geheimpapieren hervor, dass er damals für den BND tätig war. Rebane verstarb 1976 in Augsburg. Im Jahr 1999 – der Osten stand wieder offen – wurden seine Gebeine nach Estland überführt, wo sie mit militärischen Ehren bestattet wurden. Im Jahr 2004 wurde im nördlichen Estland ein Denkmal für ihn aufgestellt, an dessen Enthüllung der Parlamentsabgeordnete und vormalige Außenminister Trivimi Velliste teilnahm. Die EU, der Estland in jenem Jahr beitrat, schwieg: Rebane stand für den Kampf gegen Moskau; seine Vergangenheit war sicherlich manchem peinlich, der antirussische Impetus aber passte ins Bild.
Dass eine antirussische Grundströmung strategisch zum deutsch dominierten, daher stets weiter nach Osten expandierenden und deshalb strukturell mit russischen Interessen kollidierenden Europa dazugehört – unbeschadet der Tatsache, dass gerade Deutschland zur Rohstoffsicherung punktuell immer wieder mit Moskau kooperiert –, das kommt den Freunden der NS- Kollaborateure nicht nur in Estland, sondern etwa auch in Lettland zugute. Deutlich wird das jedes Jahr am 16. März, dem Tag, an dem in der Hauptstadt Riga ein Gedenkmarsch zur Erinnerung an die Soldaten der lettischen Waffen-SS durchgeführt wird. Im Jahr 2018 nahmen rund 1.500 Anhänger der alten NS-Kollaborateure daran teil. Das Waffen-SS-Gedenken ist durchaus populär: 1998 war der 16. März sogar zum offiziellen staatlichen Gedenktag erklärt worden; der Schritt musste allerdings zwei Jahre später wegen energischer Proteste aus dem Ausland rückgängig gemacht werden. Im Jahr 2016 fanden Wissenschaftler von der Latvijas Universitāte in Riga heraus, dass rund die Hälfte der ethnischen Letten sich für die Wiedereinführung des Gedenktags aussprachen. Ethnische Letten – das sind die rund zwei Drittel der Bevölkerung, die lettische Vorfahren haben; der lettische Staat verweigert nach wie vor fast der Hälfte der rund 550.000 russischsprachigen Einwohner die lettische Staatsbürgerschaft. Zur starken Verankerung des Waffen-SS-Gedenkens passt es, dass in Lettland mit der Nationalen Allianz eine Partei der extremen Rechten eine solide Basis hat. Die Partei, die bei der letzten Parlamentswahl im Jahr 2014 stolze 16,6 Prozent der Stimmen erhielt, gehört seit 2011 stets den – wechselnden – lettischen Regierungskoalitionen an. Nebenbei: Die Nationale Allianz unterhält enge Bindungen zu einer Organisation namens Daugavas Vanagi; bei dieser handelt es sich um einen 1945 gegründeten Zusammenschluss ehemaliger Waffen-SS-Männer, der den Kalten Krieg im nordamerikanischen und im westeuropäischen, insbesondere auch im bundesdeutschen Exil überdauert hat. Daugavas Vanagi hat in den 1950er Jahren den 16. März als Gedenktag zur Erinnerung an die lettischen Waffen-SS‘ler erfunden, die – nebenbei – bis heute Rentenzahlungen aus Deutschland bekommen; die Organisation ist damit traditionsbildend für das stolze heutige EU-Mitglied Lettland.
Sind – gestützt auf organisatorische Kontinuitäten – das Gedenken an NS-Kollaborateure und Kräfte der extremen Rechten nicht zufällig in jenen Ländern erstarkt, die Deutschland benutzt hat, um Staaten, die seiner Machtentfaltung im Osten und im Südosten des Kontinents im Wege standen – Jugoslawien, die Sowjetunion –, zu zerschlagen und Einflussrivalen wie Russland zu schwächen, so machen sich Kollaborationstraditionen auch in anderen Ländern Ost- und Südosteuropas längst wieder breit. Das wohl bekannteste Beispiel dafür bietet Ungarn. Das Land teilt historisch mit Deutschland einen völkischen Revisionismus: Beide Staaten mussten nach dem Ersten Weltkrieg Territorien abtreten; beide waren in den 1920er und den 1930er Jahren stets bestrebt, die verlorenen Gebiete zumindest zum Teil wiederzuerhalten, und sie argumentierten, sie müssten Regionen, die von „Blutsverwandten“ – „Auslandsdeutschen“ oder „Auslandsungarn“ – bewohnt seien, wieder in ihr Hoheitsgebiet eingliedern. Dieses Vorhaben, das seit dem Münchner Diktat vom September 1938 in mehreren Schritten verwirklicht wurde, hat der ungarischen NS-Kollaboration eine materielle Begründung verschafft. Nach dem Zweiten Weltkrieg gewährte die Bundesrepublik ungarischen Faschisten – ganz wie im Fall Kroatiens, der Ukraine und zahlreicher weiterer ost- und südosteuropäischer Staaten – nicht nur Asyl, sondern auch den Raum zu politischer Betätigung. Zu den bekanntesten ungarischen Exilanten gehörten etwa der Schriftsteller József Nyírő, der 1948 Vorsitzender des noch jungen Ungarischen Kulturbündnisses (Magyar Kulturális Szövetség) in München wurde, sowie der als Kriegsverbrecher verurteilte Autor Albert Wass, der bei dem CIA-finanzierten Sender Radio Free Europe ebenfalls in München beschäftigt war. Bei Radio Free Europe war auch Thomas von Bogyay aktiv, ein einstiger Ministerialsekretär aus dem Kultusministerium des Budapester Szálasi-Regimes. Bogyay wurde der erste Vorsitzende des 1962 gegründeten Ungarischen Instituts München, das zunächst vom Bund, seit 1972 vom Freistaat Bayern finanziert wurde und heute seinen Sitz in Regensburg hat.
Das gewendete Ungarn hat sich ab 1990 am bis heute geltenden deutschen Blutsrecht orientiert – wer deutsche Abstammung hat, gilt als Deutscher –, und es zielt, verstärkt seit dem ersten Amtsantritt von Viktor Orbán im Jahr 1998, darauf ab, sämtliche Wohngebiete von „Auslandsungarn“ so eng wie möglich an den ungarischen Staat anzubinden. In gewisser Weise wendet es sich damit erneut gegen die Grenzziehungen von 1919. Dieser völkische Revisionismus öffnet rechter Politik Tür und Tor. Dabei geht der allgemeine Rechtskurs unter Orbán mit einer zuweilen sogar offiziellen Rehabilitierung von NS-Kollaborateuren einher. Nach dem „Reichsverweser“ Miklós Horthy, dem Führer des faschistischen Ungarn von 1920 bis 1944, wurde 2012 ein Platz in der Gemeinde Gyömrő unweit des Budapester Flughafens benannt. In Kereki, unmittelbar südlich des Plattensees, ist im selben Jahr eine Horthy-Statue errichtet worden. Gyula Gömbös, unter Horthy zeitweise Ministerpräsident und ein großer Fan der Nazis, wurde 2010 zum Ehrenbürger der Kleinstadt Orosháza im Südosten Ungarns ernannt. Schriften der einstigen Münchner Exilanten Nyirő und Wass sind 2012 in den Lehrplan für Ungarns Schulen aufgenommen worden; der begeisterte Goebbels-Fan Nyirő hatte einst gedichtet: „Aus dem Weg mit den Brunnenvergiftern, mit denjenigen, die die ungarische Seele destruieren, die unseren Geist infizieren, die die ungarische Kraftentfaltung verhindern.“ Kein Wunder, dass sich bereits im Jahr 2012 in einer Umfrage zwölf Prozent der befragten Personen als „gemäßigt antisemitisch“, 23 Prozent sogar als „stark antisemitisch“ einstuften. 70 Prozent waren damals der Auffassung, „die Juden“ hätten „zu viel Einfluss“ auf dem globalen Finanzmarkt.
Sogar weit im Südosten Europas, in Bulgarien, leben inzwischen alte Traditionen der NS-Kollaboration wieder auf. Jedes Jahr Mitte Februar hält der Bulgarische Nationalbund (BNS), eine eher marginale, klar neonazistisch geprägte Partei, einen Gedenkmarsch zur Erinnerung an Hristo Lukow ab. Lukow, von 1935 bis 1938 bulgarischer Kriegsminister, führte den faschistischen, NS-treuen Bund der Bulgarischen Nationalen Legionen, bis er am 13. Februar 1943 von kommunistischen Partisanen erschossen wurde. Geflohene Mitglieder seiner Organisation gründeten 1947 in München die als Nachfolgevereinigung konzipierte Bulgarische Nationale Front, die Bulgariens NS-Kollaborationstradition in der Bundesrepublik konservierte. Nach der „Wende“ transferierten Mitglieder des Zusammenschlusses wie etwa der alte NS-Kollaborateur Ivan Docheff die Bulgarische Nationale Front und mit ihr ihre frühere Politik nach Bulgarien zurück. Dort haben sie die wiedererstehende ultrarechte Szene nach Kräften mitgeprägt.
Das gilt keinesfalls nur für den BNS, dessen Führer Bojan Rasate einst auf die Frage, ob er einen „Arierparagraphen“ in Bulgarien einführen wolle, erfreut antwortete: „Warum nicht!“. Eine Vereinigung, die lange zumindest mit einigen Mitgliedern auf dem Gedenkmarsch für den NS-Kollaborateur Lukow vertreten war, ist die Partei WMRO-BNB (Innere Mazedonische Revolutionäre Organisation – Bulgarische Nationale Bewegung). Sie ist – im Rahmen eines Bündnisses mit dem Namen Vereinigte Patrioten – Teil der Regierungskoalition in Sofia; ihr Vorsitzender Waleri Simeonow amtiert als stellvertretender Ministerpräsident Bulgariens mit Zuständigkeit für Wirtschaft und Demographie sowie als Integrationsbeauftragter des Landes. Letzteres verdient eine gewisse Aufmerksamkeit, denn Simeonow hat einst bekundet, er halte Roma für „zu Bestien gewordene menschenähnliche Wesen“. Wolen Siderow, Vorsitzender der Partei Ataka, die ebenfalls den Vereinigten Patrioten angehört und also Regierungsverantwortung trägt, hat einst ein Pamphlet publiziert, in dem er eine angebliche jüdische Weltverschwörung gegen die christliche Orthodoxie aufgedeckt zu haben meinte. Hetze gegen Roma gehört in diesen Kreisen zum „guten“ Ton.
Und nicht nur das. Kurz nach dem Amtsantritt der von den Vereinigten Patrioten mitgetragenen Regierung musste der stellvertretende Minister für regionale Entwicklung, Pawel Tenew, seinen Hut nehmen, als ein Foto bekannt wurde, das ihn im Pariser Musée Grévin mit Hitlergruß vor der Wachsfigur eines Nazioffiziers zeigt. Wenig später machte ein weiteres Foto die Runde, auf dem ein Abteilungsleiter aus dem Verteidigungsministerium zu sehen war, der – vor einem Panzer der Wehrmacht stehend – gleichfalls den rechten Arm zum Hitlergruß hob. Anders als der Vizeminister verlor der Abteilungsleiter seinen Job nicht: Verteidigungsminister Krassimir Karakatschanow weigerte sich, ihn zu entlassen. Karakatschanow ist Vorsitzender der erwähnten Partei WMRO-BNB. Und: Als Minister gehört er einer Regierung an, die im ersten Halbjahr 2018 die EU-Ratspräsidentschaft innehatte und gewissermaßen die Geschäfte der Union führte. Dazu ist sie tatkräftig von der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung beraten worden. Durch die erhobenen rechten Arme in den bulgarischen Regierungsapparaten hat die Stiftung sich nicht von ihrer Arbeit abhalten lassen: Schließlich richtet sich die Regierung in Sofia, was ihre äußere Orientierung – das für das deutsche Establishment Entscheidende also – angeht, strikt nach den Interessen Berlins.
Der 1990 gestartete Umbau Ost- und Südosteuropas gemäß den Interessen Deutschlands, der dominanten Macht in der Mitte des Kontinents, hat umfassende Folgen gehabt: Er hat die dortigen Ökonomien in eine periphere Rolle gedrängt, die dortigen Staaten in eine neue politische Abhängigkeit – die Abhängigkeit von Berlin – gebracht und mit alledem ihre eigenständige Entwicklung komplett unterbunden. Und: Er hat im Innern diejenigen Kräfte gestärkt, die sich traditionell mit einer Unterordnung unter die deutsche Herrschaft abfinden konnten. Das sind nicht nur, aber doch immer wieder Kräfte gewesen, die aus der Tradition der NS-Kollaboration kommen oder zumindest eine gewisse Offenheit ihr gegenüber aufweisen. Die deutsche Dominanz in Ost- und Südosteuropa hat also wohl nicht zufällig ein deutliches Erstarken ultrarechter, teilweise faschistischer Spektren mit sich gebracht.

Jörg Kronauer ist Soziologe, freier Journalist und Redakteur bei german-foreign-policy.com und lebt in London.