Wir reden über Flucht und Migration? Überlegungen zur aktuellen lage der Linken

Peter Nowaks Plädoyer für einen proletarischen Antirassismus übersieht, dass diesem hier wie im Trikont die Grundlagen abhanden kommen.

Von Marek Winter

Im Juni, als die neue rechte italienische Regierung die Häfen für die im Mittelmeer in der Seenotrettung für afrikanische Migrantinnen aktiven NGOs sperrte, der deutsche Innenminister von einer deutsch-österreichisch-italienischen Achse der Flüchtlingsabwehr träumte und eine rassistische Massenbewegung die deutsche Politik vor sich her trieb, unterzeichneten knapp 17.000 Personen den Aufruf „Solidarität statt Heimat“ und in verschiedenen deutschen Städten fingen Menschen an, für eine „Seebrücke“ zur Rettung der im Mittelmeer Ertrinkenden auf die Straße zu gehen. Es handelt sich dabei um die ersten großen, überregionalen Aktionen jenes Milieus von Linksradikalen bis -liberalen, das 2015 Willkommensinitiativen gründete, Fahrradwerkstätten für Flüchtlinge aufmachte, ehrenamtlich Deutschkurse einrichtete etc. und das in den letzten zwei, drei Jahren unter dem Eindruck der Eskalation des Rassismus hierzulande nahezu verstummte. Im Aufruf der „Seebrücke“ heißt es: „Menschen auf dem Mittelmeer sterben zu lassen, um die Abschottung Europas weiter voranzubringen und politische Machtkämpfe auszutragen, ist unerträglich und spricht gegen jegliche Humanität. Migration ist und war schon immer Teil unserer Gesellschaft! Statt dass die Grenzen dicht gemacht werden, brauchen wir ein offenes Europa, solidarische Städte, und sichere Häfen. […] Wir solidarisieren uns mit allen Menschen auf der Flucht und fordern von der deutschen und europäischen Politik sichere Fluchtwege, eine Entkriminalisierung der Seenotrettung, und eine menschenwürdige Aufnahme der Menschen, die fliehen mussten oder noch auf der Flucht sind.“

Dieser Aufruf dürfte exemplarisch für die meisten linken/linksliberalen Kritiken an der aktuellen Migrationspolitik der deutschen Regierung stehen. Die Versuche, die Migration zu stoppen sind unmoralisch („gegen jegliche Humanität“) und die betroffenen Migrantinnen gezwungen, sich auf den Weg nach Europa zu machen – sie sind also eher Objekt als Subjekt des Geschehens („Menschen, die fliehen mussten“). Zu Ursachen und Hintergründen der Migration nur soviel, dass sie „schon immer Teil unserer Gesellschaft“ war. Dieser Aufruf scheint also Peter Nowaks Kritik, dass die in der Flüchtlingssolidarität Aktiven vorwiegend moralisch argumentierten und keine sozioökonomische Analyse der aktuellen Wanderungsbewegungen betrieben, zu bestätigen. Und tatsächlich ist in weiten Teilen des linken und linksliberalen Redens über die Migrationsbewegungen nach Europa von den Menschen, die sich auf den Weg machen als Flüchtlinge und Hilfsbedürftige die Rede. Tatsächlich wird da häufig vorwiegend moralisch argumentiert. Wie ja auch zu fast allen anderen Themen weite Teile der Linken in der Regel hauptsächlich moralisch argumentieren. Was auch nicht verwunderlich ist in einer Linken, der die Gewissheit, die Welt neu und besser einrichten zu können, endgültig abhandengekommen ist. Die Reste der Neuen Linken haben das Opfer und seine Gefühle in den Mittelpunkt ihres Denkens und Handelns gerückt. Solidarität verkommt hier zu dem warmen Gefühl, das sich einstellt, wenn man sich empathisch ins Opfer einfühlt. Relevante Reste der Alten Linken hingegen glauben, wenn sie sich in den Verteilungskämpfen unter den Beherrschten auf die Seite der arischen FacharbeiterInnen schlagen, würden sie endlich wieder die lang verdrängte Klassenfrage stellen. Um sich für Flüchtlinge einsetzen zu können, müssen sie diesem Milieu als Opfer erscheinen, denn sonst wären sie ja Konkurrenten und mit denen lässt sich schlecht solidarisch sein.

Angesichts dieser Ausgangslage ist die Tonlage des „Solidarität statt Heimat“-Aufrufs oder der Verlautbarungen aus dem „Seebrücke“-Kontext eigentlich überraschend wenig moralisierend. Bzw. sind sie es an einer anderen Stelle als der von Peter Nowak ausgemachten. Nämlich nicht da, wo das Bündnis von Flüchtlingen und Fluchtursachen redet, sondern da, wo sein eigentlicher Fokus liegt: auf der aktuellen Faschisierung der deutschen Gesellschaft im Kontext eines sich faschisierenden Europas. Tatsächlich wird hier das Wort „Faschismus“ nicht in den Mund genommen, sondern stattdessen von Rechtsruck, Rechtspopulismus, rechter Hegemonie und Ähnlichem geredet. Dieser Prozess wird in seinen Ursachen und seinem Verlauf nicht analysiert und ihm wird der Appell an Humanismus und Demokratie entgegengesetzt. Das ist besser als deren Verneinung als unproletarisches Gedöns, aber natürlich zu wenig. Eine ehrliche, materialistische, sich vor der Beschäftigung mit dem möglichen Schlimmsten nicht wegduckende Analyse aktueller Faschisierungstendenzen ist dringend notwendig. Und sie würde, so sie über den Rahmen von Publikationen wie dieser hinauswachsen und diskursmächtig werden würde auch die Diskussionen, die Peter Nowak anspricht, verändern. Die über die Flüchtlinge – und die über die deutschen ArbeiterInnen. Denn in den meisten Texten, die im Gefolge von „Retour à Reims“ erschienen und die für eine neue Hinwendung der politischen Linken zur Arbeiterklasse plädieren, wird sich um die Frage, wie man mit einer faschisierten Arbeiterklasse umgehen sollte, herumgedrückt, indem der Linken die Verantwortung für die Hinwendung der Arbeiterklasse zur Rechten zugeschoben wird, die ArbeiterInnen in dieser Hinsicht aber nicht als Akteure ernstgenommen werden.

Schwierige Bedingungen für einen proletarischen Antirassismus. Die noch schwieriger zu werden versprechen, wenn man Nowaks Forderung einlöst und eine ernsthafte sozioökonomische Auseinandersetzung mit dem Komplex Flucht-Migration-Emanzipation aufnimmt. Dann würde nämlich offensichtlich, dass die Hoffnung, mit dem Einsatz für bessere Lebensbedingungen in den Herkunftsländern der MigrantInnen ließe sich das Ruder in der aktuellen Flüchtlingspolitik herumreißen, vergebens sein dürfte. Denn Peter Nowak biegt sich den Zusammenhang von Migration und emanzipatorischen Bewegungen interessengeleitet etwas zurecht, wenn er emanzipatorische Bewegungen vor Ort als Grund zum Bleiben benennt. Gerade die von ihm angesprochene Reitzsche „andere Heimat“ verweist doch darauf, dass die Arbeitsmigration im 19. und frühen 20. Jahrhundert in die USA die Migration aus unterentwickelten agrarischen Regionen in die Zentren der Industrialisierung war. Sie brach im Falle Deutschlands ab, als auch hierzulande Industriestädte entstanden und Hunsrücker Bauernjungen und Mecklenburger Mägde sich dorthin und nicht mehr nach New York und Philadelphia auf den Weg machten. Die Migration junger chinesischer DorfbewohnerInnen in die Weltmarktfabriken und Millionenstädte wiederholt diesen Prozess in gewisser Weise. Gewerkschaften entstehen dann dort, wo die Leute ankommen, sie sind aber nie der Grund zu gehen oder zu bleiben.

Beim Blick auf China wird auch deutlich, was Nowak auslässt. Der Prozess nachholender Modernisierung, den die VR China offensichtlich erfolgreich meisterte und meistert, ist in den meisten Teilen des Trikont gescheitert. Eine ökonomische Entwicklung, die massenhaft Menschen eine auf den Verkauf ihrer Arbeitskraft beruhende, nicht prekäre Existenz ermöglicht, findet nicht statt, Staat und Gesellschaft zerfallen, Sicherheiten und Garantien gibt es nicht. Die Niederlage der Linken im von Nowak erwähnten El Salvador (und aktuell, tragisch nachholend, in Kolumbien) war auch die Niederlage eines Entwicklungsansatzes, der die Landbevölkerung in die Moderne führen wollte. Dessen Scheitern ist nicht nur ein Scheitern der Linken, ohne diesen Prozess der Modernisierung verwandeln sich Staat und Gesellschaft in ein Bündel von Gangs, Banden und Rackets die gegeneinander kämpfen. Auf allen Ebenen und mit allen Mitteln. Nicht weil die Linke Fehler gemacht hat oder weil die Menschen aus ökonomischen Gründen abwandern und so die emanzipatorischen Bewegungen schwächen, sondern auch und vor allem, weil die Entwicklung der Produktivkräfte Programmen der nachholenden Entwicklung und deren Trägern in den meisten Gegenden der Welt die Grundlage entzogen hat. Auch in Rojava, wo in einer der heißesten Zusammenbruchzonen von Staaten und Gesellschaften versucht wird, die Idee von Gesellschaftlichkeit zu retten, wird mit dem Problem zu kämpfen sein, dass dort eine entwickelte kapitalistische Ökonomie nicht entstehen wird und der isolierte Aufbau des Sozialismus nicht gelingen kann.

Nowak weist zurecht daraufhin, dass die afrikanischen MigrantInnen rational die Risiken des Versuchs der Einwanderung abwägen. Wenn dem so ist und sie den Tod in der Sahara, die lybischen Folterlager und die gefährliche Passage übers Mittelmeer dabei berücksichtigen und sich trotzdem auf den Weg machen, dann sagt das etwas darüber aus, wie unerträglich das Leben in den Herkunftsregionen sein muss. Eine europäische Linke, die nicht in der Lage ist, den Verheerungen der Austeritätspolitiken entgegenzutreten und effektiven Widerstand gegen die drohende Faschisierung Europas zu organisieren ist natürlich überhaupt nicht in der Lage, hierzulande gesellschaftliche Entwicklungen anzustoßen, die eine Verbesserung der Lebensverhältnisse in den Herkunftsländern der Migranten ermöglichen. Sie kann kein Partner emanzipatorischer Kämpfe vor Ort sein. Unter diesen Bedingungen besteht die Gefahr, dass Nowaks Wunsch, die Leute mögen zu Hause bleiben, um dort ihre Kämpfe auszufechten, zum linken Pendant des bürgerlichen „die sollen mal nach Hause gehen und ihr Land wieder aufbauen“ wird. Das ganze Desaster der Migration übers Mittelmeer ist ein Vorschein der Katastrophen, denen wir beschleunigt entgegen gehen. Um diesen entgegenzutreten muss hier was passieren. Und wir müssen‘s erledigen. So schwer und unwahrscheinlich das auch erscheint.