Im Kampf gegen das imaginierte und reale Fortleben der Sowjetunion können, von Nazis bis Linksliberale, eigentlich sehr disparate gesellschaftliche Gruppen in der Ukraine eine gemeinsame Plattform finden. Das Problem ist, dass die Bewohner des Donbass als Träger des zu bekämpfenden sowjetischen Prinzips identifiziert werden.
Von Peter Korig
Eines der herausstechenden Merkmale des derzeitigen Konfliktes in der Ukraine ist, dass weit verbreitet große Unklarheiten bestehen, was dort eigentlich überhaupt passiert. Daneben steht der Fakt, dass der dort ausgetragene internationale Konflikt zwischen Russland und „dem Westen“ sowohl innerhalb der Ukraine1 als auch – und dort mehr – im Ausland die Wahrnehmung der sozialen und politischen Widersprüche und Auseinandersetzungen innerhalb der Ukraine verhindert. Und das obwohl eine Vielzahl von Youtube-Videos, Nachrichten auf Facebook, Tweets und Blogeinträgen versucht, Informationen über das Geschehen zu transportieren. Dies erfolgt meist mit der Zielstellung, mit der Verbreitung dieser Informationen den Kampf einer der Konfliktparteien, von denen es weit mehr als zwei gibt, zu unterstützen. Der Flut von Bildern mit Hakenkreuzen und Einschlägen von Artilleriegeschossen, Flugzeugwrackteilen und Barrikaden, Massengräbern und Fahnen, mehrsprachig untertitelten professionell geschnittenen Videoclips und verrauschten Handycam-Aufnahmen, Hashtags und Postings steht jedoch keine kategoriale Analyse der politischen und sozialen Prozesse der letzten Monate, geschweige denn der letzten 20-30 Jahre, ohne die das aktuelle Geschehen nicht erklärbar sein dürfte, gegenüber.
Es gibt in der deutschsprachigen Linken, abgesehen von kleinen Zirkeln, die durchaus wichtige Diskussionen führen, damit aber meist noch nicht mal die eigene „Szeneöffentlichkeit“ erreichen, auch kein wahrnehmbares Bemühen, derartige Analysen zu leisten. Wenn es überhaupt ein Interesse an dem Geschehen in der Ukraine gibt, dann wird die Aufgabe, zu erklären was passiert, in der Regel an dortige „AktivistInnen“ delegiert. D.h. man lädt sich hierzulande Leute aus einer dem eigenen politischen Spektrum (vermeintlich) nahestehenden Szene in der Ukraine ein und lässt sich von denen erzählen, was so vom Maidan bis zur Antiterroristischen Operation der Kiewer Regierung passiert ist. Das bestätigt manchmal die eigene Wahrnehmung, führt oft zu Befremden (das dann aber, statt ihm nachzugehen, in der Regel mit der Feststellung, dass „man da nicht unsere Maßstäbe anlegen kann“ vom Tisch gewischt wird) und klärt für sich genommen eigentlich gar nichts. Was eigentlich auch nicht verwunderlich sein dürfte, wenn man sich das Setting nur einmal umgekehrt vorstellen möge. Das Resultat ist, dass zu den Ereignissen in der Ukraine vielfach einfach geschwiegen wird. Und wenn hiesige Linke sich dann doch dazu äußern, dann repetiert man in der Regel gefährliches Allgemeinhalbwissen und schlägt sich aus primär ideologischen Gründen auf die Seite einer der Parteien des Bürgerkrieges im Osten (tendenziell die traditionelle ML-Linke sowie antiimperialistische Strömungen auf die der Volksrepubliken, die postautonome, alternative Linke eher auf die des linken Flügels des Maidans).
Eine der häufig ungeprüft weiterverbreiteten Informationen über das Geschehen bezieht sich auf den ethnischen Charakter des Konfliktes. Zwar wird teilweise geleugnet, dass es in der Ukraine einen Bürgerkrieg (eben mit der für Bürgerkriege eher die Regel als die Ausnahme darstellenden Einmischung interessierter anderer Staaten) gibt. Zum Beispiel wenn auf Veranstaltungen mit ukrainischen Aktivsten behauptet wird, es handele sich um einen „Krieg Putins gegen 40 Millionen Ukrainer“ oder berichtet wird, auf der Seite der Volksrepubliken würden nur russische Söldner kämpfen, die in der lokalen Bevölkerung keinen Rückhalt genössen (wie es eine Weile lang taz-Linie war). In der der Regel wird der Konflikt jedoch entlang ethnischer Linien erklärt. So werden in den verschiedensten Medien immer noch Beiträge über die Auseinandersetzungen mit Landkarten illustriert, die die quotale Verbreitung der Muttersprachen – ukrainisch oder russisch – anzeigen.
Dabei dürfte schon bei einem nur kurzen Blick aus der Ferne auffallen, dass das so nicht hinhauen kann. In Odessa z.B., einer Stadt die in der russischen Geschichte eine weitaus bedeutendere Rolle spielte als z.B. Donezk und die kulturell so gar nichts mit dem Blut-und-Boden-Ukrainertum der Lwiwer UPA-Enkel zu tun hat, wurde keine Volksrepublik analog zu Lugansk und Donezk errichtet. Auch wenn nach dem Massaker vom 2. Mai und angesichts politischer und juristischer Repressionen gegen Anti-Maidan-Aktivisten von einem gewissen Einschüchterungsfaktor ausgegangen werden kann, deutet dies daraufhin, dass hier der Rückhalt für eine politische Entwicklung wie im Donbass nicht gegeben war. Große Teile der Bevölkerung, die die jetzige Regierung unterstützen, sind ethnische Russen bzw. vorrangig russischsprachig. Sicher gibt es tatsächlich durchgeknallte westukrainische Faschisten, die von der ethnischen Säuberung des Landes und der Austreibung der Russen träumen. Diese Vorstellungen sind aber dermaßen irre, dass sie nicht den Rückhalt und die Unterstützung, die der Kampf im Osten in weiten der Teilen der Gesellschaft durchaus hat, zu erklären vermögen.
Wenn es sich tatsächlich um einen Konflikt entlang ethnischer Trennungslinien handeln würde, dann würde die Front jetzt im Westen der Ukraine verlaufen. In der Westukraine hat das Thema nationale Identität seit der Gründung der Ukraine eine weit wichtigere Rolle gespielt als in der Restukraine. Die dort konstruierte ukrainische Identität knüpft an historische Ereignisse, Gebräuche, Personen etc. an, die außerhalb der Westukraine weitestgehend anders bewertet bzw. abgelehnt werden. Eine mögliche Annäherung an die ideologischen Grundlagen des Krieges in der Ostukraine ergibt sich über seinen Austragungsort. Das Donbass ist ein nahezu mythischer Ort. Ein industrielles Ungeheuer, ein Produkt der Sowjetunion, Kohlegruben und Stahlwerke, harte und schmutzige Arbeit, Plattenbauten und Knäste. Hier begann mit dem Schachty-Prozess 1928 die Serie der stalinistischen Schauprozesse. Hier übererfüllte Alexei Grigorjewitsch Stachanow am 31. August 1935 die Arbeitsnorm um 1457 Prozent. Das Bild, das die Staats- und Parteiführung von der Sowjetunion gerne haben wollte – ein Land, das von unermüdlich schaffenden Arbeitern aufgebaut und rasend schnell industrialisiert wird, wie auch antisowjetische Horrorvorstellungen von einer auf Zwangsarbeit und Ausbeutung beruhenden Massengesellschaft – ließ sich mit Bildern aus dem Donbass illustrieren. Das Donbass verdankt, auch wenn die Kohleförderung schon im 18. Jahrhundert begann, seine Existenz der Sowjetunion.
Dies prägt bis heute die Eigen- wie die Fremdwahrnehmung dieses Industriegebietes durch seine Bewohner wie auch durch den Rest der Ukraine. In Gesprächen mit jungen Ukrainern aus Kiew oder der Westukraine vernimmt man immer wieder die Behauptung, dort würden die Menschen noch der alten Zeit anhängen, dort hätten sie kein Verständnis für individuelle Freiheiten, für die Chancen der neuen Zeit, würden sich immer noch nach der Sowjetunion sehnen und könnten nur sowjetisch denken. Etwas drastischer bringt es das in letzter Zeit in Mode gekommene Schimpfwort „Watnik“ für die Menschen dort zum Ausdruck. Ein Watnik ist die typische sowjetische Wattejacke, wie sie u.a. Gulaghäftlinge und Arbeiter auf den Großbaustellen der ersten Fünfjahrpläne trugen.
Und tatsächlich, noch Mitte der 90er Jahre stellten Sozialwissenschaftler fest2, dass auf die Frage, mit welchen Kategorien sie ihre eigene Identität beschreiben würden, sich im Donbass viele Menschen primär als „sowjetisch“ und „Arbeiter“ bezeichneten. Auch wenn die entsprechenden Zahlen im Laufe der Zeit sanken, so blieb gleichzeitig doch die Zahl jener hoch, die Nationalität nicht als wichtige Kategorie für die Kennzeichnung der eigenen Identität ansahen (im Gegensatz z.B. zur Westukraine).
Ihre materielle Wahrheit finden diese Wahrnehmungen darin, dass sich (unter durchaus als katastrophal zu bezeichnenden Bedingungen: der ukrainische Bergbau ist in Relation zur Menge geförderter Kohle der tödlichste in Europa) in der Industriearbeitergesellschaft des Donbass soziale und ökonomische Strukturen sowie Elemente der Alltagskultur der Sowjetunion stärker erhalten haben als in der Westukraine, aber auch stärker als in Kiew oder Odessa, Städten die keineswegs ethnisch ukrainisch sind.
Vieles deutet darauf hin, dass die Kämpfer in der ukrainischen Armee, der Nationalgarde und den diversen Freiwilligenbataillonen, so sie ideologisch motiviert handeln, eher gegen die „Sowjets“ als gegen die „Russen“ kämpfen. Und auch auf der anderen Seite bezieht man sich in Symbolik und Selbstdarstellung durchaus auf die Sowjetunion. Schon die Bezeichnung als „Volksrepubliken“ weist darauf hin. Dass es möglich ist, diese positive Bezugnahme auf die Sowjetunion mit Anleihen an russländisch-imperiale sowie christlich-orthodoxe Symbolik zu vermengen, sollte seit der Rehabilitierung der russländisch-imperialen Geschichte und der Orthodoxie im 2. Weltkrieg unter Stalin eigentlich nicht verwundern. Dass andererseits russisch und sowjetisch nicht deckungsgleich sein müssen, demonstrierte im August die englischsprachige Kyiv Post. Sie kündigte an, dass nach der Befreiung der Städte im Osten des Landes durch die ukrainischen Streitkräfte, sich dort eine authentische russische Kultur, gereinigt von sowjetischen Deformationen entwickeln könnte und als solche wiederum auf Russland, wo Putin an der Wiedererrichtung eben jener Sowjetunion arbeite, ausstrahlen würde.
Dafür, dass ein großer Teil der ideologischen Grundlage sowohl der Proteste auf dem Maidan als auch der bewaffneten Kämpfe im Osten vom Wunsch nach einer nachholenden Desowjetisierung (bzw. vice versa bei den Kämpfern der Volksrepubliken von der Verteidigung einer wie auch immer gearteten Sowjetidentität) geprägt ist, spricht auch, dass sich seit dem Maidan als Symbol des Sturzes der alten Regierung und der Etablierung der neuen Macht, die Beseitigung von Lenindenkmälern eingebürgert hat. Ausgehend von Kiew wird mit der Zerstörung von Lenindenkmälern – oder dem Widerstand dagegen – angezeigt, ob in einer Region pro-westliche Kräfte das Sagen haben oder nicht. Dabei sind durchaus Abstufungen erkennbar, so wird in einigen Städten das Lenindenkmal unter offener Anteilnahme von Politikern und Personen des öffentlichen Lebens fast feierlich beseitigt, anderswo wird es im Schutze der Nacht zerstört.
Angesichts dessen, dass im Unterschied zur DDR sich in der Ukraine die neuen Eliten nach der Unabhängigkeit 1991 aus den alten politischen und ökonomischen Eliten, d.h. vorwiegend aus dem Parteiapparat, rekrutierten und binnen kurzer Zeit das Land in einem kaum vorstellbaren Maße ausplünderten, erscheint das Ziehen von Kontinuitätslinien aus der Sowjetzeit bis zu Janukowitsch, bzw. rückwärts von Janukowitsch bis zurück in die Sowjetzeit nachvollziehbar. Gerade auch in Anbetracht dessen, dass sich die ersten Grundzüge dieser korrupten Plünderungsökonomie schon in der Endphase der Sowjetunion herausbildeten. Gleichzeitig zeugt dieses In-eins-Setzen von Janukowitsch-Ära und Sowjetunion, dass sich auch in der Anwendung von sonst für die SU benutzten Termini wie „Despotie“, „Diktatur“ und „Tyrannei“ auf die Ukraine unter Janukowitsch niederschlägt, von einem analytischen Totalausfall. Das historische Spezifikum derjenigen postsowjetischen Gesellschaften, in denen der Staat eben nur bloße Hülle der Etablierung einer eigenen Kapitalistenklasse auf offen kriminellem Wege war und Austragungsort ihrer Konkurrenzkämpfe bis zu einem Grade wo der Staat komplett dysfunktional wurde (wovon heute u.a. der Zustand der ukrainischen Armee und Polizei zeugen), wird so nicht verstanden. Dann können aber gerade auch nicht die politischen und sozialen Bewegungen die sich unter diesen Umständen mit dem Ziel von deren Überwindung bildeten bzw. bilden verstanden werden. Schon der Gehalt ihrer Parolen, die auf scheinbar allgemeinverständliche Begriffe wie „Demokratie“, „Freiheit“, „Europa“ etc. zurückgreifen, erschließt sich ohne diesen Hintergrund nicht. Im Kampf gegen das imaginierte wie das reale Fortleben der Sowjetunion können nämlich eigentlich sehr disparate gesellschaftliche Gruppen eine gemeinsame Plattform finden. Auf dieser treffen sich ukrainische Nazis und Nationalisten, die durchaus nachvollziehbar die Sowjetunion hassen, Wirtschaftsreformer, Technokraten und Oligarchen, die versuchen das Land ökonomisch und politisch nach Westen auszurichten und die perspektivisch mit der Aufgabe konfrontiert sind, die Thatcher im Großbritannien der 80er Jahre mit der Schließung der Bergwerke erfüllte, nämlich der Liquidierung unprofitabler Industrien und der Zerschlagung potentiell widerständiger Industriearbeitermilieus. Darüber hinaus sind dort Linksliberale, Intellektuelle und Anarchisten, die durchaus sehr begründete Kritik u.a. an der gesellschaftlichen Normierung und sozialen Repression gegen Abweichungen von der gesellschaftlichen Norm in den Überresten der Sowjetgesellschaft haben, zu finden. Auch Kinder aus der Mittelschicht, denen die Sowjetunion als Vorgeschichte und Ursache des ökonomischen und politischen Desasters erscheint, das der ukrainische Staat auch schon vor 2014 abgab, treffen sie sich an diesem Punkt. Das Problem dabei ist, dass mittlerweile immer wieder die Bewohner des Donbass als personifizierte Träger des zu bekämpfenden sowjetischen Prinzips identifiziert werden, als verantwortlich für das imaginierte wie reale Fortwirken der Sowjetunion. Sie sind es, die in dieser Vorstellung den Weg in eine lichte europäische Zukunft der ökonomischen Entwicklung, der Menschenrechte und der individuellen Freiheit versperren. Damit werden sie in letzter Konsequenz auch für viele Leute, die eben keine völkischen Nationalisten sind, legitimes Ziel der Granaten der ukrainischen Streitkräfte. Bedauerlicherweise reflektieren gerade in diesem Zusammenhang die ukrainischen undogmatischen Linken, die sich vor allem in anarchistischen Zirkeln organisieren sowie die eher im Bereich Menschenrechte und NGOs aktiven Linksliberalen ihre Rolle wenig und haben sich zu großen Teilen praktisch für eine Politik der Vaterlandsverteidigung mit Parteinahme im Bürgerkrieg entschieden. Und leider wird dies hierzulande wenig in Rechnung gestellt, wenn sich auf die Aussagen jener Linksliberalen und Linken bezogen wird, um die eigene Stellung zu dem Geschehen in der Ukraine zu begründen. Diese im Wortsinne merkwürdige Gemengelage, in der Nazis, Marktliberale, bürgerliche Intellektuelle und mehr oder weniger radikale Linke zumindest auf Zeit ein Bündnis eingegangen sind, getragen von der gemeinsamen Überzeugung, dass sich in der Bewohnerschaft des Ostens der Ukraine ein abgelehntes gesellschaftliches Prinzip verkörpert, würde erklären, warum sich die Auseinandersetzung der Anhänger des Maidans mit dem Osten der Ukraine in so kurzer Zeit brutalisiert hat. Es erklärt auch, warum diese Brutalisierung – die Folterungen und Morde der ukrainischen Streitkräfte, der Nationalgarde und der Freiwilligenbataillone – von all den jungen, engagierten und eloquenten Verteidigern der Menschenrechte und demokratischen Freiheiten bzw. kritischen Kritikern von Kapitalismus, Patriarchat und Fleischverzehr nicht öffentlich angeprangert werden. Selbst von jenen nicht, die sich in Westeuropa außerhalb des Zugriffs von Rechtem Sektor und Co. befinden.
Die Behauptung ukrainischer prowestlicher Aktivisten, in der Ukraine würden Nazis gar keine relevante Rolle spielen, stimmt dann, wenn man ein an der Extremismustheorie des Verfassungsschutzes geschultes Faschismusverständnis hat, dass Nazis als außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft befindliche, dümmlich-brutale, anachronistische Außenseiter, die in der Regel schon eine optische Zumutung darstellen, ansieht. Wenn militanter Nationalismus, die Ethnisierung gesellschaftlicher Verhältnisse und der Wunsch nach gewaltsamer Erledigung des Feindes tatsächlich eine Massenbasis innerhalb einer Gesellschaft findet, scheitert dieser Ansatz. Gerade auch, wenn es sich bei den Trägern dieses Nationalismus um eine Bevölkerung handelt, die nach einer wie auch immer gearteten Modernisierung strebt und die nationalistische Mobilisierung untrennbarer Bestandteil dieses Modernisierungsstrebens wird. Wer den hässlichen stupiden Skinhead mit Reichskriegsflagge sucht, kann tatsächlich zum Ergebnis kommen, dass Neonazis in der Ukraine keine bedeutende Rolle spielen.
Das dem nicht so ist, wurde nicht zum ersten Mal im August deutlich, als sich die Bruchlinien im Bündnis von radikalen Rechten und prowestlichen Wirtschaftsreformern zeigten. Entscheidend sind hier zwei Ereignisse. Zum einen Mitte August die Verhaftung von Mitgliedern des Rechten Sektors, die offenbar versucht hatten, Kriegswaffen von der Front in dessen Hochburgen in der Westukraine zu transportieren. Die Organisation drohte daraufhin damit, ihre Einheiten von der Front abzuziehen und auf Kiew zu marschieren. Neben der Freilassung der Inhaftierten forderte die Organisation die Entlassung des stellvertretenden Innenministers Wladimir Jewdokimow, dem die Rechten vorwerfen, gegen die nationalen Interessen zu handeln und mit dem alten Machtapparat verbunden zu sein. Beide Forderungen wurden erfüllt. Das zweite Ereignis ist die militärische Niederlage, die die ukrainischen Streitkräfte ab dem 24. August in der Schlacht um Ilowaisk erlitten und die letztlich die Grundlage für den Waffenstillstand zwischen der ukrainischen Regierung und den Volksrepubliken schuf. Der Kommandeur des rechten Freiwilligenbataillons „Donbass“, Semjon Semjontschenko, wie auch viele weniger prominente Kämpfer, äußerte anschließend den Verdacht, die Regierung habe die rechten Freiwilligenbataillone gezielt als Kanonenfutter geopfert, um sie als politischen Faktor auszuschalten.
Hier werden einige Punkte deutlich, die für die weitere innenpolitische Entwicklung der Ukraine eine große Rolle spielen. Zum einen, aber das ist noch der am offensichtlichste und nur wenn man sehr verblendet auf die Entwicklung schaut überraschende Punkt: die radikale Rechte verfügte zumindest bis Ende August und wahrscheinlich immer noch über ein ausreichendes politisches Gewicht, um erfolgreich mit Putschdrohungen zu operieren.
Anderes ist relevanter: Die Forderung nach Absetzung des stellvertretenden Innenministers konnte vom Rechten Sektor als Teil des Kampfes für eine Lustration, d.h. Säuberung des Staatsapparates von Angehörigen des Sicherheitsapparates des alten Systems, vor allem aber von korrupten Beamten und Politikern, dargestellt werden. Die Forderung nach Lustration ist eine zentrale politische Forderung des Maidans bzw. des Milieus, das sich als Nachfolger oder Fortsetzer des Maidans versteht. Bei Demonstrationen für ein Lustrationsgesetz sind immer rechte Aktivisten dabei. Die radikale Rechte vertritt hier authentisch eine Forderung, die von vielen Ukrainern erhoben wird.
Wenn der Rechte Sektor bzw. einzelne Gruppen dieser Organisation Kriegswaffen beiseite schaffen, dann gehen sie offenbar davon aus, diese in absehbarer Zeit zu benötigen. Wenn sie damit nur Lwiw gegen die russische Invasion verteidigen wollten, wäre die Situation wohl nicht so eskaliert. Tatsächlich irrt ja die traditionelle, an Dimitrow geschulte Interpretation, die in den Nazibanden nur die bewaffneten Handlanger der Oligarchen (des Westens) der marktradikalen Reformer sehen will. Das Ziel ukrainischer Nazis ist die ukrainische nationale Revolution, nicht die Unterwerfung unter Diktate aus Brüssel oder Berlin. Die Dolchstoßlegende, die es legitimieren wird, die Mitglieder der derzeitigen Regierung als Verräter an der Nation darzustellen und die entsprechenden Aktionen zu unternehmen, haben Semjontschenko und andere schon geschrieben. Wenn sich perspektivisch die Lage im Osten des Landes stabilisiert und gleichzeitig der mit der EU-Assoziierung verbundene weitere Verarmungsschub seine volle Wirkung im Lande entfaltet, dann werden sich eine große Anzahl kampferfahrener, brutalisierter, im Umgang mit dem Feind enthemmter (vorwiegend) Männer um die Früchte ihres Kampfes betrogen sehen. Dann stellt sich für viele die Frage, ob sie ihr Leben für eine bloße Machtumverteilung unter den ukrainischen Oligarchen riskiert haben. Dieses Bedrohungspotential zu befrieden, wird eine existentielle Notwendigkeit für die künftigen ukrainischen Regierungen darstellen. Angesichts der ökonomischen und politischen Lage sind ihre Spielräume dafür jedoch eng begrenzt.
1 Wenn im Folgenden von der Ukraine, von innerukrainischen Widersprüchen etc. die Rede ist, dann bezieht sich das geographisch immer auf die Ukraine in ihren international anerkannten Grenzen, d.h. inklusive der Gebiete der Volksrepubliken Lugansk und Donezk. Als ukrainische Armee, ukrainische Streitkräfte o.ä. bezeichne ich hingegen die Kräfte die unter dem Kommando der Kiewer Regierung stehen. Diese Benennung erfolgt so aus Gründen analytischer und sprachlicher Zweckmäßigkeit, nicht um auf diese Art und Weise Position innerhalb der Konflikte zu beziehen. Aus dem gleichen Grund wird im Folgenden nicht von „sogenannten“ Regierungen, Republiken etc. die Rede sein. Ich vertrete die Auffassung, dass es für eine Analyse und Kritik des Geschehens zweckmäßiger ist, politische und soziale Strukturen, die sich im Gefolge der Ereignisse des letzten Jahres in der Ukraine gebildet haben, in ihrem Selbstverständnis ernst zu nehmen (was etwas anderes ist, als Partei zu ergreifen) als sich von vornherein mit Gänsefüßchen und einem vorangestellten „sogenannt“ den Zugang zum Verstehen des Geschehens zu verbauen.
2 Yaroslav Hrytsak: On Relevance and Irrelevance of Nationalism in Ukraine,
https://www.ualberta.ca/CIUS/stasiuk/st-articles/2004-02-20_Cambridge%20Lecture%202004.pdf.
Peter Korig, lebt, reist und arbeitet in den Transformationsgesellschaften östlich der Elbe und versucht, Dinge zu verstehen, die dort passieren.