von Nadja
(Aus telegraph #100)
Im folgenden Beitrag soll anhand der Erfahrungen, die die Abschiebehaftgruppe Leipzig1 bei ihrer Arbeit gemacht hat, untersucht werden, ob es „ostdeutsche“ Spezifika in diesem Bereich der Flüchtlingssozialarbeit gibt. Zu Beginn wird erklärt, was Abschiebehaft ist und worin die Arbeit der Abschiebehaftgruppe besteht.
1.Vorbemerkungen zur Abschiebehaft
Abschiebehaft ist in den letzten Jahren zu einem der wichtigsten Bestandteile der bundesdeutschen Anti-Flüchtlingspolitik geworden. Sie erfüllt drei Funktionen: Zum einen soll die Abschiebung von ausreisepflichtigen AusländerInnen durch ihre Inhaftierung erleichtert und effektiviert werden; zum anderen hat sie eine abschreckende Wirkung, die die Flüchtlinge im Land diszipliniert (im Sinne der „freiwilligen Ausreise“) und selbst auf potentielle Flüchtlinge in ihren Herkunftsländern bei ihrer Fluchtwahl wirken soll. Außerdem unterstützt die Inhaftierung von „unschuldigen“ Flüchtlingen den Kriminalisierungdiskurs, der die Themengebiete Migration und (organisierte) Kriminalität immer enger miteinander zu verknüpfen versteht: Die Wahrnehmung, dass Flüchtlinge vor der Abschiebung inhaftiert werden, suggeriert, dass sie etwas verbrochen haben müssen, und sei es, dass sie „Asylbetrüger“ seien.
Abschiebehaft gewährt den Ausländerbehörden den ständigen Zugriff auf die AusländerInnen zwecks Vorbereitung und Durchführung der Abschiebung. Die Inhaftierung erleichtert die behördlichen Maßnahmen noch dahingehend, dass die „Mitwirkungspflichten“ der AusländerInnen leichter erpreßt werden können: Wenn du vor der Wahl stehst, weitere 6 Monate hinter Gittern verbringen zu müssen, überlegst du es dir besonders gut, ob du das dir vorgelegte Paßantragsformular ausfüllst oder nicht.
1.1. Wann und wie wird Abschiebehaft verhängt?
Abschiebehaft wird gegen ausreisepflichtige AusländerInnen, die abgeschoben werden sollen, verhängt. Das betrifft z.B. Flüchtlinge, deren Asylantrag abgelehnt wurde und die nicht „freiwillig“ ausgereist sind, illegale Flüchtlinge und ArbeitsmigrantInnen, Flüchtlinge, die beim Grenzübertritt aufgegriffen werden2 und AusländerInnen, die aus anderen Gründen ihren Aufenthaltsstatus verloren haben oder wegen Straftaten ausgewiesen werden sollen.
Im Abschiebehaftparagraphen des Ausländergesetzes (§57) sind fünf zwingende Haftgründe für die Anordnung der Abschiebehaft bei ausreisepflichtigen AusländerInnen festgeschrieben: 1) illegale Einreise 2) Aufenthaltsort gewechselt, ohne dies der Ausländerbehörde mitzuteilen 3) zum angekündigten Abschiebungstermin nicht anwesend gewesen 4) in sonstiger Weise der Abschiebung entzogen 5) es besteht der begründete Verdacht, daß sich der Abschiebung entzogen werden soll. Vor allem die beiden letzten pauschalen Haftgründe kommen meist zur Anwendung; in Sachsen werden 80% der Haftbeschlüsse mit dem oft nicht näher spezifizierten Verdacht des Untertauchens begründet.3
Abschiebehaft wird von den Amtsgerichten auf Antrag der Ausländerbehörden oder des BGS im 10-Minuten-Takt verhängt. Vom Gesetz her ist zwar eine Anhörung der Betreffenden vorgesehen, die RichterInnen wollen sich jedoch weder die Zeit nehmen noch könnten sie auf die Einwände der Flüchtlinge eingehen, da sie von der Materie (Ausländerrecht ist Sache der Verwaltungsgerichte) keine Ahnung haben und dafür nicht zuständig sind.
Abschiebehaft kann für sechs Monate angeordnet werden, sie kann „in Fällen, in denen der Ausländer seine Abschiebung verhindert“ (§57 Ausländergesetz) um weitere 12 Monate verlängert werden. Als Verhinderung werden alle Handlungen und Nicht-Handlungen ausgelegt, die die eigene Abschiebung nicht beschleunigen und begünstigen.4
Gegen die Abschiebehaft sind weniger und schlechter greifendere Rechtsmittel möglich als gegen die U-Haft, obwohl Abschiebehaft nur der Vollstreckung einer Verwaltungsmaßnahme5dient. Gegen die Abschiebehaft kann nur innerhalb von zwei Wochen eine Beschwerde eingelegt werden. Die Entscheidungen über die Beschwerden werden von den zuständigen Landgerichten in der Regel jedoch solange verzögert, bis sie hinfällig werden, da die Abschiebehaft (oft „nur“ für drei Monate angeordnet) inzwischen abgelaufen ist und die/der Betreffende abgeschoben wurde oder einen neuen Abschiebehaftbeschluss erhalten hat (der vom Wortlaut identisch sein kann, gegen den die alte Beschwerde dann jedoch nicht mehr greift). Über den Erfolg der Beschwerden sei weiter unten (Punkt 3.1.) noch was gesagt.
1.2. Geschichte der Abschiebehaft
Abschiebehaft ist, auf den Punkt gebracht, eine bayerische, antisemitische Erfindung aus der Weimarer Republik, die jedoch erst in den 90er Jahren richtig zur Geltung gelangte und zum deutschen Exportschlager avancierte.
Nach der Münchner Räterepublik kochten in Bayern antisemitische Diskurse über den vermeintlichen Anteil von Juden und Jüdinnen an den Unruhen hoch. Als Feindbild waren dann schnell OstjüdInnen ausgemacht, die die deutsche Arbeiterschaft mit dem Virus des Bolschewismus infiziert hätten. Dementsprechend kam es im Mai 1919 zu der Verabschiedung des Fremdengesetzes. Neben der Überwachung der Grenzen und der Registrierung der „Fremden“ wurde in diesem Gesetz die Ausweisung, Ausreisefrist und Festnahme bei nicht erfolgter Ausreise festgelegt. Im Frühjahr 1920 wurde in Ingolstadt das erste Abschiebelager in einer ehemaligen Kaserne eingerichtet, die 600 Plätze in diesem Gefängnis wurden jedoch nie voll, so daß es 1924 aufgelöst wurde. Die Parallelen zur heutigen Abschiebehaftpraxis sind unübersehbar.6
Der Kommandeur des Lagers beschwerte sich beim Fremdenamt, daß Fragen der Bettwäsche und der Portokosten unzureichend geklärt wären und drohte deshalb mit der Schließung. Es mußte also schon damals alles seine Ordnung haben… Die beiden Abschiebegefängnisse, die Preußen 1921 einrichtete, hießen folgerichtig auch Konzentrationslager.7 In der Ausländerpolizeiverordnung von 1938 tauchte der Paragraph zur Abschiebehaft wieder auf, der in Westdeutschland unverändert bis 1965 galt. Es gab zwar 1938/39 von Seiten der Behörden im Dritten Reich Überlegungen, Juden und Jüdinnen aus Osteuropa vor der Ausweisung in Konzentrationslager zu internieren; in die Praxis umgesetzt wurden diese dann nicht mehr, da sie den Planungen zum Holocaust entgegenliefen.
Von 1965 bis 1990 galt unverändert die Fassung des §16 Ausländergesetz, der die Abschiebehaft bis maximal ein Jahr regelte. Es gab in dieser Zeit kaum Abschiebehäftlinge und keine Abschiebehaftgefängnisse. Erst nach der Wende, mit der fast alljährlichen Verschärfung der ausländer- und asylrechtlichen Bestimmungen und der de facto Abschaffung des Asylrechts nach Art. 16 GG, kam es zu mehreren Änderungen am neu geschaffenen §57: Zwingende Haftgründe wurden eingeführt, die maximale Haftdauer um sechs Monate erhöht usw. Parallel dazu schnellte die Zahl der Abschiebehäftlinge in die Höhe: 1992 gab es schon zu einem Stichtag ca. 700 Abschiebehäftlinge, 1993 2.600 und 1994 2.800.8 Diese Zahlen korrespondieren dabei keineswegs mit dem Anstieg der Flüchtlinge, die einen Asylantrag stellten oder abgeschoben werden sollten, sondern spiegeln den politischen Willen wieder, restriktiver gegen Flüchtlinge vorzugehen.
Im Zuge der europäischen „Harmonisierung“ der Asyl- und Flüchtlingspolitik übernahmen viele westeuropäischen Länder das Instrumentarium der Abschiebehaft seit Beginn der 90er Jahre. Obwohl sich die Länder am Vorbild Deutschland orientierten gerieten ihre Abschiebehaftanstalten und -gesetze nicht so schlimm wie hier. Die maximale Dauer der Abschiebehaft beträgt in den meisten westeuropäischen Ländern nur einige Tage oder Wochen, das Verhältnis Abschiebung zu Freilassungen ist eher zugunsten der Häftlinge und in Italien können nur „kriminelle“ Flüchtlinge in Abschiebehaft genommen werden, was der italienischen Regierung schon Ärger aus Deutschland eingehandelt hat.
Richtig zur Sache kommen die deutschen FlüchtlingsstrategInnen aber erst bei der Einflußnahme auf osteuropäische Länder. Auf Druck von Deutschland und Schengen-Europa mußten die osteuropäischen Länder ihre Grenzen besser bewachen, ein pro forma Asylrecht installieren und eine eigene Abschiebemaschinerie inkl. Abschiebeknäste aufbauen. So wurden die 25 Abschiebegefängnisse in Polen komplett mit deutschen Geldern finanziert (4,2 Mio DM), die Polen für den Abschluß eines Rücknahmevertrages mit der BRD bekommen hatte.9
1.3. Vollzug der Abschiebehaft
Es gibt kein bundeseinheitliches Gesetz zum Vollzug der Abschiebehaft und nur einige Bundesländer haben eigene Verordnungen verabschiedet. Somit unterliegt der Vollzug der Abschiebehaft den zuständigen Ministerien und Behörden (Innenministerium bzw. oft das Justizministerium in Amtshilfe) sowie den einzelnen AnstaltsleiterInnen.
In einigen Bundesländern (z.B. NRW, Berlin) gibt es eigene Abschiebeknäste, in anderen (z.B. allen Ostbundesländern) werden Abschiebehäftlinge in den normalen JVA’s (Justizvollzugsanstalten) inhaftiert. Mal abgesehen von den Sprachbarrieren und den meist rassistisch eingestellten GefängniswärterInnen und deutschen Mitgefangenen, sind die Bedingungen für Abschiebehäftlinge schlechter als für deutsche U- oder Strafgefangene. Sie dürfen nicht arbeiten, Kontakte zur Außenwelt werden so gut wie möglich unterbunden, von Anstaltsaktivitäten sind sie in der Regel ausgeschlossen, haben keinen Freigang, werden nicht über ihre Lage informiert (z.B. Termin der Abschiebung) usw. Vollzugsziel ist ja auch nicht die „Eingliederung in die Gesellschaft“, wie es bei deutschen StraftäterInnen zumindest vor ihrer Entlassung besteht, sondern die Abschiebung um jeden Preis und mit Gewalt.
Diesen ganzen Service müssen die Abschiebehäftlinge übrigens selbst bezahlen (sofern sie Geld oder Wertgegenstände haben, die dann beschlagnahmt werden): Die Unterbringung im Abschiebeknast kostet je nach „Komfort“ zwischen 150,- und 200,- DM/Tag, die Abschiebung wird inklusive der Kosten für die Reisebegleitung durch den BGS in Rechnung gestellt.
2. Arbeit der Abschiebehaftgruppe Die Abschiebehaftgruppe Leipzig hat sich 1995 auf Initiative des Flüchtlingsrates Leipzig e.V. gegründet. Auslöser dafür waren das Wissen um das Bestehen zweier Gefängnisse in Leipzig, in denen auch Abschiebehäftlinge inhaftiert wurden, von denen aber nichts an die Öffentlichkeit drang und selbst den Asylberatungsstellen nichts bekannt war, sowie die Recherchen einer anderen antirassistischen Gruppe zum Thema Abschiebehaft.
Nach einem Gespräch mit der zuständigen Sozialarbeiterin in der JVA Leipzig wurde die Zulassung als „ehrenamtliche MitarbeiterInnen der JVA“ beim Justizministerium beantragt, was nach Erfüllung der Formalitäten (Führungszeugnis, Belehrung über die Pflicht zur Zusammenarbeit mit der Anstaltsleitung etc.) nach einem halben Jahr positiv entschieden wurde.
Die Gruppe setzt sich seit Anbeginn aus durchschnittlich 10 ehrenamtlich arbeitenden Leuten zusammen; es herrscht – da es sich bei den meisten um StudentInnen handelt – um eine hohe Fluktation, was sehr zum Nachteil der Arbeit ist: Zum einen benötigen neue Mitglieder der Abschiebehaftgruppe aufgrund der Spezialisierung auf einen kleinen Teilbereich eine lange Einarbeitungszeit, zum anderen erweist es sich überhaupt als schwierig, neue Leute zu einer Mitarbeit zu bewegen, da die Arbeit sehr zeit-, nerven- und kostenintensiv ist.
2.1. Arbeitsbereiche
Am Anfang stand die Betreuung der Abschiebehäftlinge im Mittelpunkt der Arbeit der Abschiebehaftgruppe. Die Abschiebehäftlinge können einmal die Woche durch ein Mitglied (bei Bedarf unter Hinzuziehung einer Dolmetscherin oder eines Dolmetschers) besucht werden. Die Gespräche werden im Gegensatz zu Besuchen anderer Personen nicht überwacht und von der regulären Besuchszeit (eine Stunde im Monat) abgezogen.
Im Lauf der Zeit gewannen zwei andere Aufgabenbereiche an Bedeutung: Die Öffentlichkeitsarbeit und die politische Lobbyarbeit. Dies lag zum einen an dem gesammelten Wissen über die konkreten Zustände in der Abschiebehaft in Leipzig, an der persönlichen Betroffenheit, die erst durch den direkten Kontakt mit den Abschiebehäftlingen entsteht, und der mühsam gemachten Erfahrung, dass alle humanistisch motivierten, klassisch sozialarbeiterischen Aktivitäten gegenüber den Abschiebehäftlingen nicht viel bringen und an der Situation nichts grundlegend ändern können.10
Die Öffentlichkeitsarbeit reicht von der Organisierung eines alljährlichen Friedensgebetes11 über die Erstellung einer Ausstellung („Abschiebehaft in Sachsen“) und der Durchführung von Informationsveranstaltungen bis hin zur Mobilisierung für linksradikale, antirassistische Demonstrationen gegen Abschiebehaft. Die Presseerklärungen der Abschiebehaftgruppe finden in den bürgerlichen Medien kaum Resonanz, die Artikel werden nur in der Zeitschrift des Flüchtlingsrates „Flucht & Asyl“ oder linken Szeneblättern aus Leipzig – beides Publikationen für ein sehr beschränktes Nischenpublikum – abgedruckt. Es wurden auch zwei Fernsehbeiträge über die Abschiebehaftgruppe Leipzig gedreht.
Die politische Lobbyarbeit umfasst den Kontakt zu und die Zuarbeit für andere Organisationen, die sich im Flüchtlingsbereich engagieren, die Vorbereitung diverser parlamentarischer Anfragen und Kontakte zu den Behörden. Die Behördenkontakte sind unterschiedlicher Qualität: Während die Ausländerbehörde nichts von der Abschiebehaftgruppe wissen will (und andersherum), gibt es einen regelmäßigen Kontakt und Austausch mit der Anstaltsleitung sowie seltener Gespräche mit den AmtsrichterInnen.
2.2. Spannungsfeld – Schmiermittel oder Sandkorn für die Abschiebemaschinerie
Im ersten Artikel der Abschiebehaftgruppe wurde das Problem schon ansatzweise richtig benannt: „Während einer Einweisung in die Gefängnisordnung wurde uns mitgeteilt, was sich die JVA von uns erhofft: wir sollen eine Art ‘Ventil’ sein. (…) Wir können und wollen keine Lückenbüßer für unzureichend besetzte Sozialarbeiterstellen sein, um danach möglicherweise auch nicht als Argument herhalten zu müssen, dass kein weiterer Bedarf an ihnen besteht. Außerdem wollen wir nicht eine Praxis unterstützen, die wir für menschenunwürdig halten und daher ablehnen. Andererseit sind die Möglichkeiten des Abschiebehäftlings, seine Interessen geltend zu machen, sehr eingeschränkt. Wir können versuchen, sie zu stärken. Außerdem können wir die Erfahrungen, die wir dabei sammeln, nutzen, um Öffentlichkeitsarbeit zu betreiben und so auch etwas für sie zu bewirken.“12 Richtig bewusst wurde es der Abschiebehaftgruppe jedoch erst im Lauf der Jahre. Denn die Feststellung von Ute Osterkamp, daß „‘Hilfe’ (…) unter diesen Voraussetzungen eher die Funktion (hat), Frustrationen und Aggressionen der Flüchtlinge gegen die sie einschränkenden Maßnahmen aufzufangen und ihre Widerständigkeit zu brechen als ihre Situation zu verbessern.“13 trifft besonders auch auf die Arbeit in der Abschiebehaft zu. Andererseit stimmt es gerade auch beim Thema Abschiebehaft, dass sich die Aggression der Flüchtlinge meist gegen sie selbst richtet (Selbstmord und -versuche, Hungerstreiks) bzw. die Widerständigkeit von Beginn an zum Scheitern verurteilt ist (erinnert sei nur an den Ausgang der diversen Knastaufstände). D.h. der Widerstand gegen die Abschiebeknäste muss von außen kommen – so illusionär dies auch erscheint. Und dieser Widerstand wird ohne Kenntnis der Zustände in der Abschiebehaft und dem Kontakt zu den Betroffenen nur schwer möglich sein.
An diesem Punkt dürfte wohl aber noch keine Abschiebehaftgruppe angelangt sein und so muss jedesmal aufs Neue abgewogen werden, was da überhaupt gemacht wird und welche Rolle man selbst in dieser Institution spielt. Deutlich wird es, wenn die Anstaltsleitung die Arbeit der Abschiebehaftgruppe lobt und das damit begründet, dass es seitdem viel ruhiger in der JVA geworden sei. Oder wenn sich die ÄrztInnen des Justizvollzugskrankenhauses in Leipzig intensiv um einen Besuch der Gruppe bei einem Häftling, der gerade im Hungerstreik ist, bemühen, da sie denken, so den Hungerstreik beenden zu können. Den meisten dürfte es wohl egal sein, ob ein Abschiebehäftling hier oder nach der Abschiebung stirbt, aber für das öffentliche Ansehen ist es schon günstig, wenig Tote im eigenen Arbeitsbereich zu haben.
Dass die Arbeit der Gruppe wenigstens der Ausländerbehörde ein ständiger Dorn im Auge ist, was sie auch deutlich zu verstehen gibt, ist dabei kein rechter Trost, da es nur zeigt, wie sie die Arbeit der Gruppe noch mehr entsprechend ihrer Vorstellung zurechtzustutzen gedenkt.
3. Abschiebehaft – ostdeutsche Spezifika?
Diese Frage hat sich bislang für uns nicht gestellt, aber für die „ostdeutsche quartalsschrift“ wollen wir uns bemühen, sie zu beantworten. Dies übrigens, ohne den Ansatz der Redaktion, dass der Osten vom Westen in einem quasi Kolonialverhältnis gehalten wird und die vermeintliche Kritik daran emanzipatorische Prozesse in Gang setzen könne,14 zu teilen.
Die Beantwortung der Frage muss unzureichend bleiben, da es
– bislang keine Untersuchung zu diesem Thema gibt,
– keine Vernetzung zwischen den Abschiebehaftgruppen besteht und somit kein konti- nuierlicher Austausch,
– die Abschiebehaftgruppe Leipzig meines Wissens nach die einzige im Osten ist (außer Berlin), somit die Erfahrungen der Gruppe nicht repräsentativ für „den Osten“ stehen können.
Wir denken jedoch, dass es prinzipiell innerhalb der BRD keine relevanten Unterschiede bei der Abschiebehaft gibt. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass am Ende fast alle Abschiebehäftlinge auch abgeschoben werden und dementsprechend Fragen des Vollzugs oder Dauer der Abschiebehaft für die Betreffenden selbst keine große Rolle spielen. Dies spiegelt sich auch an der Zahl der Selbstmorde, Hungerstreiks und Aufstandsversuche von Abschiebehäftlingen wieder, die sich über alle Anstalten gleich verteilen. Es gibt keine mehr oder weniger humanistische Abschiebehaft, auch wenn einige rot-grüne Landesregierungen anderes glauben und deswegen Verordnungen verabschiedet haben, die die Inhaftierung von Kindern und Schwangeren untersagt oder die Haftdauer im Regelfall auf sechs Monate beschränkt.
Wenn diese eigentlich belanglosen Unterschiede doch Betrachtung finden sollen, ergeben sich natürlich sehr wohl Differenzen, die sich auch an einer West-Ost-Problematik festmachen lassen, aber nicht nur: Die Verhältnisse haben sich inzwischen so weit angeglichen, dass die Situation von Abschiebehäftlingen in vielen Bereichen nicht von der Frage Ost oder West abhängt sondern vom Bundesland15 oder der jeweiligen Haftanstalt (was die Anstaltsleitung oder z.B. die Entfernung zur nächsten Großstadt betrifft). Diese Unterschiede sollen im folgenden näher beleuchtet werden.
3.1. Bundeslandspezifische Unterschiede
Von Bundesland zu Bundesland verschieden sind das Agieren der Ausländer- und anderer Behörden (weisungsgebunden ans Innenministerium) und der Gerichte (eigentlich unabhängig, aber…). Die Abschiebehaftgruppe Leipzig hat z.B. versucht, letztinstanzliche Urteile von Oberlandesgerichten anderer Bundesländer zugunsten von Abschiebehäftlingen16 in eigene Beschwerden gegen Abschiebehaftbeschlüsse einfließen zu lassen. Dies war jedoch nie von Erfolg gekrönt. Die Beschwerden wurden alle abgelehnt, selbst Grundsatzurteile anderer Gerichte einfach ignoriert (d.h. es wurde nicht einmal versucht, dagegen zu argumentieren, sondern es wurde einfach nie darauf eingegangen). Beschwerden der Gruppe hatten nur dann Erfolg, wenn die Haftbeschlüsse direkt und offensichtlich gegen geltende Gesetze verstießen, d.h. die beteiligten RichterInnen und BehördenmitarbeiterInnen sich der illegalen Freiheitsberaubung schuldig gemacht hatten (und dafür natürlich nie belangt wurden). In anderen, auch ostdeutschen, Bundesländern haben jedoch 20% bis 50% der Beschwerden, die zu einer Entscheidung gelangen (zu dieser Problematik siehe unter: 1.1.), Erfolg, d.h. die Abschiebehäftlinge müssen freigelassen werden.
Analog der Vollzug der Abschiebehaft: In einigen (nur westlichen) Bundesländern gibt es eigene Abschiebeknäste, in anderen Bundesländern sind die Abschiebehäftlinge auf die normalen JVA’s verteilt. Dies hat natürlich verschiedene Auswirkungen: Die Konzentration von vielen Abschiebehäftlingen öffnet den Gefangenen mehr Möglichkeiten, sich auszutauschen und zu wehren. Außerdem sind sie nicht mit deutschen Gefangenen konfrontiert, was von Vorteil sein kann. Theoretisch können sich die anstaltseigenen SozialarbeiterInnen – sofern es sie überhaupt gibt – besser um die Abschiebehäftlinge kümmern, da sie sich spezialisieren könnten (was aber in der Praxis kaum der Fall sein wird). Da die reinen Abschiebeknäste meist weit ab liegen, sind die Besuchs- und Betreuungsbedingungen erschwert. Die Zentralisierung erleichtert andererseits den mit der Abschiebung befassten Behörden ihre Arbeit und erlaubt es, mehr Flüchtlinge zu inhaftieren. In Sachsen sind die Abschiebehäftlinge vorrangig in den U-Haft-Anstalten untergebracht. Aus Gründen der anstaltsinternen „Gerechtigkeit“ unterliegen sie den gleichen rigiden Vorschriften wie U-Häftlinge, obwohl es dafür weder eine gesetzliche Grundlage noch einen plausiblen Grund gibt. Da die JVA’s in Sachsen alle hoffnungslos überbelegt sind, hat das Justizministerium ein Kontingent von 55 Abschiebehaftplätzen für Sachsen festgelegt, welches nicht überschritten werden darf. D.h. dass es in Sachsen vergleichsweise wenig Abschiebehäftlinge gibt.17
Einige Bundesländer haben Verordnungen zur Anordnung und zum Vollzug der Abschiebehaft verabschiedet, die diese Bereiche entweder nur konkretisieren (und damit mehr Rechtssicherheit schaffen) oder zugunsten der Flüchtlinge minimal entschärfen. Es handelt sich dabei aber meist nur um kosmetische Korrekturen oder betrifft nur kleine Flüchtlingsgruppen (Schwangere, Familien, Kinder etc.) – auch wenn diese Verordnungen erst auf den jahrelangen Druck von Flüchtlingsorganisationen hin entstanden sind.
3.2. Ostspezifika
Wie auch in anderen Bereichen der Flüchtlingsarbeit lassen sich in der Abschiebehaft einige besondere Bedingungen ausmachen, die mit der Lage im Osten zu tun haben. Angefangen von dem Mangel an kompetenten RechtsanwältInnen, über die Struktur der Flüchtlings- und MigrantInnengruppen (z.B. unter den Illegalen mehr ArbeitsmigrantInnen aus Osteuropa als politische Flüchtlinge, die lieber im Westen untertauchen18, bei den Abschiebehäftlingen wegen der Grenzlage mehr, die beim illegalen Grenzübertritt aufgegriffen wurden usw.) bis hin zu einem schlechteren Beratungsangebot für Flüchtlinge.
Dies sind alles Folgen der Tatsache, dass es in der DDR kein Asylrecht gab, die ausländerrechtliche Bestimmungen sich von denen in der BRD natürlich unterschieden und die DDR-VertragsarbeiterInnen nach der Wende fast alle ausreisen mußten. D.h. in allen Bereichen fing es nach 1989 beim Punkt Null an, so dass nur wenige Strukturen existieren, die Flüchtlinge unterstützen (sei es Flüchtlingscommunities, RechtsanwältInnen, Beratungsstellen und antirassistische Gruppen). Da, wo sich diese Strukturen im Lauf der Jahre entwickelt haben, haben sie einen schweren Stand: weniger Unterstützung von anderen Gruppen oder der (kaum existenten) liberalen Öffentlichkeit; es muß sich alles erst erarbeitet werden; Anfeindungen aus der Gesellschaft.19 Da der rechte Konsens im Osten weiter verbreitet ist, fehlt es an AdressatInnen einer antirassistischen Politik. Der verbreitete Rassismus wirkt sich aber auch konkret auf die Abschiebehäftlinge aus: Die Bereitschaft zu denunzieren ist größer (in der Grenzregion gibt es extra eingerichtete Telefone des BGS zum Denunzieren und Bürgerwehren, die Jagd auf Flüchtlinge machen und ihre „Beute“ dem BGS übergeben), die meisten Abschiebehäftlinge kommen aber sicherlich ohne die Mithilfe der Bevölkerung ins Gefängnis. Dort angelangt, treffen sie aber auf rassistische BeamtInnen, RichterInnen und Mitgefangene: Die ostdeutschen Knäste sind voller Neonazis, nicht etwa wegen politischer Delikte, sondern weil sie nebenberuflich alle Klein- oder Großkriminelle sind.
Diese Bedingungen machen den Osten zum Experimentierfeld für neue Techniken der Anti-Flüchtlingspolitik. Denn wo die kritische Öffentlichkeit fehlt, die BeamtInnen in ihrem Eifer nicht zu bremsen sind und die Presse jede Maßnahme gegen Flüchtlinge lobend kommentiert, ist es eine Freude, geplante Gesetze auszuprobieren und Verwaltungsabläufe zu perfektionieren. In anderen Bereichen der Flüchtlingspolitik läßt sich diese Entwicklung auch deutlich belegen, auf dem Gebiet der Abschiebehaft ist dies jedoch nur teilweise im Osten Praxis. Dies mag daran liegen, dass in den ersten Jahren nach der Wende, die für die Entwicklung des Instrumentarium Abschiebehaft die „innovativsten“ und entscheidensten waren, die Behörden hier erst an den Weststand anschließen mussten.20 Hier galt die Devise: Kein Überholen ohne vorher Einzuholen. Und da war viel zu tun – die ersten Jahre gestalteten sich für Abschiebehäftlinge sehr chaotisch, manchmal zu ihren Gunsten, oft aber auch nicht. So ist die Tatsache, dass Abschiebehäftlinge in Sachsen über zwei Jahre lang kein Taschengeld nach Asylbewerberleistungsgesetz erhielten, eher eine Folge der Faulheit der beteiligten Behörden als ein Experiment zur „Verfeinerung“ des AsylblG gewesen.21 Die Rückständigkeit läßt sich selbst heute noch an Abschiebehaftbeschlüssen beobachten: Da werden in den Haftbegründungen – trotz vorgefertigter Computerphrasen – Gesetze zitiert, die es gar nicht gibt, Daten falsch eingetragen oder einem Algerier kurzerhand eine „arabische Nationalität“ zugeordnet.
An einem anderen Punkt ist nicht klar, ob Sachsen als Experimentierfeld genutzt wurde: Im Mai 1996 wurde bekannt, dass Abschiebehäftlinge in Sachsen nach Asylerstantragsstellung nicht freigelassen wurden, obwohl das Gesetz dies vorsah. Als die Abschiebehaftgruppe dies in einer Presseerklärung, die bundesweite Resonanz fand, bekannt machte, wurden die Betreffenden auf Anweisung des Amtsgerichtes Leipzig freigelassen. 1997 wurde der entsprechende Paragraph im Asylverfahrensgesetz dahingehend geändert, daß ein Asylerstantrag nicht mehr zur Freilassung aus der Haft führt.
Was die Arbeit der Flüchtlingsorganisationen betrifft, ist im Osten schon zu bemerken, daß das Engagement von Seiten der Behörden mit weniger Gelassenheit geduldet wird. Auf Vereine, die öffentliche Gelder erhalten, wird permanent Druck ausgeübt – bis hin zu Personalfragen. Der Abschiebehaftgruppe Leipzig versuchte die Zentrale Ausländerbehörde (ZAB) mit der Androhung der Einleitung eines Strafverfahrens wegen §92a AuslG (Einschleusen von Ausländern) und §84 AsylVfg (Verleitung zur mißbräuchlichen Asylantragsstellung) beizukommen (Strafandrohung: Freiheitsstrafe bis zu 5 Jahren). Als dies nichts half – weil es völlig haltlose Vorwürfe waren und eine Anzeige ein Novum in der Rechtsgeschichte gewesen wäre – bediente sich die ZAB des „sanfteren“ Mittels Rechtsberatungsgesetz. Dieses Gesetz aus dem Jahr 1935 untersagt die gewerbsmäßige Rechtsberatung und schützt von der Sache her den Berufsstand der RechtsanwältInnen (damals vor jüdischen RechtsanwältInnen, heute vor politisch unliebsamen Beratungsstellen). Aufgrund dieses Gesetzes kam es zu einem Ausschlußverfahren vor dem Verwaltungsgericht Leipzig, d.h. es wurde einem Mitarbeiter untersagt, einen Abschiebehäftling juristisch zu vertreten.22
1Abschiebehaftgruppe beim Flüchtlingsrat Leipzig e.V., Sternwartenstr. 4, 04103 Leipzig, Tel. & Fax: 0341-9613872
2Egal in welche Richtung: auch wer illegal ausreist, kommt in Abschiebehaft, so unsinnig dies auch klingen mag. Dies trifft vor allem die ArbeitsmigrantInnen hart, die mit ihrem Gespartem nach Hause wollen und denken, die Grenze relativ gefahrlos überqueren zu können: in der Haft wird ihnen dann das ganze Geld abgenommen und sie kommen dann mit weniger Geld nach Hause als sie losgefahren sind.
3Antwort auf Große Anfrage im Sächs. Landtag vom 15.2.1999, Az.: 62-0141.50/414
4Es gab aber auch schon Abschiebehäftlinge, die länger als die maximal gesetzlich vorgesehenen 18 Monate in Haft saßen: Sie wurden zwischenzeitlich kurz entlassen und nach der erneuten Inhaftierung wurde so getan, als ob die Zeit neu läuft.
5Vom juristischen her in etwa zu vergleichen mit der Eintreibung von Strafgebühren bei Falschparken: Und wer kommt dafür schon in Haft?
6So mußten in NRW inzwischen vier von sechs Abschiebeknästen wegen Fehlplanungen geschlossen werden.
7Walter, Dirk: Antisemitische Kriminalität und Gewalt, Bonn: 1999; Wippermann, Wolfgang: Konzentrationslager, Berlin: 1999
8Da die durchschnittliche Haftdauer ca. einen Monat beträgt, ist die Zahl der Abschiebehäftlinge im gesamten Jahr ungefähr das Zehnfache von den obigen Werten.
9Mehr zur Geschichte der Abschiebehaft im CEE IEH #54, http://www.nadir.org/nadir/initiativ/ci/nf/nf54/n54_15.htm; zur Entwicklung des §57 Ausländergesetzes seit 1938 in „Abschiebehaft in Sachsen“, Abschiebehaftgruppe Leipzig: 1998, Seite 42; zu Abschiebehaft in anderen Ländern: „Andere Länder – andere Sitten“ im CEE IEH #57, http://www.nadir.org/nadir/initiativ/ci/nf/nf57/n57_09.htm
10Etwas zynisch klang diese Erkenntnis schon in einem Artikel der Abschiebehaftgruppe im Mai 1996 durch: „In sehr vielen Fällen gibt es jedoch keinerlei sichtbaren Erfolg, und die ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer machen die Erfahrung, dass sie nichts mehr für den Betreffenden tun können als ihm zuzuhören. (…) Und es kann sein, dass sich beim nächsten Besuchstag zeigt: alles war zu spät; der Betreffende ist weg. (…) Manchmal war es noch möglich, einen kleinen Wunsch zu berücksichtigen. Einer wünschte sich eine Musikkassette, mancher etwas Kleidung, die beim Türdienst abgeliefert werden konnte.“ (Flucht & Asyl, Nr. 4)
11In der Leipziger Nikolaikirche, wo die „Wende ihren Anfang nahm“. An diese Breitenwirkung konnte mangels BesucherInneninteresses bislang leider nicht angeknüpft werden…
12Flucht & Asyl, Nr. 3, Januar 1996
13zitiert nach: Wurzbacher, Steffen: Gut beraten. Abgeschoben…, Karlsruhe: 1997
14siehe z.B. telegraph Nr. 1/1998 (Themenschwerpunkt: Kolonie Ostdeutschland)
15So läßt sich die Situation in Sachsen – und das nicht nur im Bereich der Flüchtlingspolitik – mit der in Bayern vergleichen, die in Sachsen-Anhalt dagegen eher mit der in Hessen.
16siehe: Abschiebungshaft in Deutschland. Rechtliche Aspekte, ZDWF-Schriftenreihe Nr. 62, Siegburg: 1995
17Die Gerichte wissen sich da aber zu helfen und stecken Abschiebehäftlinge wegen Verstößen gegen das Ausländergesetz kurzerhand in U-Haft, wenn das Kontingent ausgeschöpft sein sollte.
18siehe dazu: Alt, Jörg: Illegal in Deutschland. Forschungsprojekt zur Lebenssituation „illegaler“ Migranten in Leipzig, Karlsruhe: 1999
19Nach einem Artikel in der Leipziger Volkszeitung über die Abschiebehaftgruppe, der einen Aufruf zur Mitarbeit enthielt, gingen zu 50% Drohanrufe ein. Das ist ein Verhältnis, welches im Westen sicherlich nicht erreicht wird.
20Vorreiter in Sachen Abschiebehaft war immer unangefochten Nordrhein-Westfalen. Siehe u.a. Hommel, Gaby: Festungen in der Festung, in: konkret 12/1993 und dies.: Auf Hochtouren, in: konkret 9/1994
21 Taschengeld für Abschiebehäftlinge, in: Flucht & Asyl, Nr. 3
22„Soziale Wärme“ und mehr Haftplätze. Abschiebehaft in Sachsen, in: off limits, Nr. 13
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