von Matthias Bernt
(Aus telegraph #1 _ 1998)
„Ost-Identität“ gilt bei den meisten Linken als peinliche Macke. Obwohl die Existenz von Ost-West-Konflikten heute von kaum noch jemandem bestritten wird, wird ihnen nur selten gesellschaftliche Bedeutung zugesprochen. Oft werden sie als „Mauern in den Köpfen“ beschrieben, die mit zunehmendem wechselseitigen Sich-Kennen-Lernen abgetragen würden. Der Grund für die andauernden Spannungen wird in psychologische Defekten und kulturellen Prägungen verortet – Ostler können sich mit ausreichend Alkohol über die blödesten Pionierlieder freuen, was Westler „niemals“ verstehen werden; Ostler sind „bescheidener“ und „menschlicher“, was ganz im Gegensatz zu den „selbstbewußten“ Westlern steht etc. In dieser Sicht werden Ost-West-Konflikte als „Übergangsphänomen“ begriffen, das mit der nun mal verschiedenen Vergangenheit zusammenhängt und mit fortdauernder Einheit an Wirkung verlieren müsse und irgendwann von selbst verschwinde.
In einigen Beiträgen wird das wachsende Selbstbewußtsein im Osten allerdings auch als Gefahr beschrieben. Ostidentität wird dann zu einem gefährlichen und natürlich reaktionären Nationalismus hochstilisiert, der zur über kurz oder lang zur „Jugoslawisierung“ Deutschlands führen müsse. Einige linke Theoretiker (Günter Jacob) glauben in „Ost-Power“ auch einen neuen regionalistischen und völkischen „Sub-Nationalismus“ zu erkennen, der auf Anschluß an Superdeutschland angelegt sei, „niemals“ zu einer Kapitalismuskritik führen könne und deswegen abzulehnen sei.
Obwohl Ost-Identität in der öffentlichen Meinung entweder gar nicht, nur als Übergangsphänomen oder als reaktionäre Randerscheinung existiert, ist sie in der ehemaligen DDR selbst in den letzten Jahren zu einer dauerhaften und wachsenden Tatsache geworden. Ostdeutsche „verklären“ in zunehmendem Maße ihre Vergangenheit, Jugendweihen und Ostprodukte erfreuen sich wachsender Beliebtheit, beim Fußball-Sieg von Cottbus über Karlsruhe jubelt die ganze Nation und Ost-West-Ehen sind selbst in Berlin eine große Seltenheit. Nach Umfrageergebnissen fühlen sich nur 18% der Ostdeutschen als Bürger der Bundesrepublik, 80% fühlen sich irgenwo zwischen DDR und BRD. Das politische, wirtschaftliche und soziale System vor `89 wird in Umfragen in der DDR immer besser bewertet, während das heutige und das in Zukunft erwartete immer schlechter wegkommt.
Diese Realitäten stehen in offensichtlichem Gegensatz zur öffentlichen Meinung. Auf der einen Seite sind Ost-Bezüge mit dem wechselseitigen Sich-Kennenlernen nicht verschwunden, sondern haben an Kraft gewonnen. Auf der anderen Seite ist es – ganz entgegen dessen, was man von einem reaktionären Sub-Nationalismus erwarten müßte – bisher nirgends zu Progromen an Westlern gekommen und nur sehr bösartige Beobachter vermögen in Berlin Sarajevo wiederzuerkennen.
Wenn Ost-Identität das Denken, Fühlen und Handeln von derart vielen Menschen in der ehemaligen DDR derart weit prägt, muß es dafür Gründe geben, die nicht in den Gemütern der Menschen, sondern in der gesellschaftichen Realität, in den spezifischen gesellschaftlichen Strukturen einer angeschlossenen DDR wurzeln. Die Quellen dieses Bewußtseins lassen sich m.E. in vier Richtungen suchen: einer gemeinsamen historischen Erfahrung, einem anti-kolonialen Reflex, gemeinsamen Stellungen im Transformationsprozeß und einer abzusehenden dauerhaften strukturellen Marginalisierung im neuen Deutschland.
Zur historischen Erfahrung: Wer in der DDR gelebt hat, hat die Erfahrung einer größeren Gleichheit gemacht, die nicht nur in der wesentlich geringeren Differenzierung der Einkommen zum Ausdruck kommt, sondern es den Individuen vor allem ermöglichte, hinter der offiziellen, planmäßigen Vergesellschaftung auf informeller Ebene bei weitem größere Bereiche der eigenen Gesellschaft zu überblicken und -informell- anzueignen. In den Worten des linken DDR-Oppositionellen Klaus Wolfram: „Im Gegensatz zur Markt-Vergesellschaftung, wo alle Dinge Wertgestalt annehmen und sich in einer Hierarchie ordnen, ging hier eine Realkonkretion gesellschaftlichen Reichtums vor sich… Eine Wohnung blieb eine Wohnung und wurde weder eine Wertanlage noch eine Lebensversicherung. Und so ging der kleine Mann hin und nahm sich eine große Wohnung, als hätte das nichts mit seiner Klassenlage zu tun.“ Die Erfahrung einer größeren sozialen Demokratie verschwindet natürlich nicht mit der Einführung der D-Mark, sondern sie wird durch den Kontrast zum heutigen System erst richtig deutlich. Je mehr Mieterhöhungen die Massen durchgemacht haben, desto deutlicher und wichtiger wird die Erfahrung, daß eine Wohnung eben wirklich mehr als eine Kapitalanlage sein kann und desto weniger werden die Spielregeln des bürgerlichen System als sinnvoll wahrgenommen. Die Erfahrung, daß es anders geht, läßt Ostdeutsche (nach allen Alltagserfahrungen) wesentlich mißtrauischer an die gegebenen Verhältnisse herangehen und es ist sicher berechtigt anzunehmen, daß, wo großes Mißtrauen ist, gesellschaftliche Alternativen auch leichter gedacht werden können. Die Fähigkeit, über das Bestehende hinaus denken zu können wird noch verstärkt durch die massenhafte Erfahrung gesellschaftlichen Umbruchs: Osteuropäer haben erlebt, wie schnell sich Geheimdienste auflösen können, wie schnell und gründlich Eigentumsverhältnisse umgestülpt und auch politische Mehrheiten verändert werden können und wo immer sie heute mit der gesellschaftlichen Realität konfrontiert werden, fließt diese Erfahrung als kollektives Gedächtnis in ihre Beurteilung mit ein.
Zum anti-kolonialen Reflex: genauso schnell, gründlich und öffentlich sichtbar wie den Zusammenbruch der DDR haben Ostdeutsche die Etablierung einer in weiten Zügen kolonialen Gesellschaftsstruktur erlebt. Inzwischen und noch immer sind praktisch alle Schlüsselpositionen der Gesellschaft von Westdeutschen besetzt. Die Währungsunion hat die ostdeutsche Ökonomie praktisch pulverisiert und eine quasi koloniale Wirtschaftsstruktur etabliert. Die Medienlandschaft wurde durch westdeutsche Konzerne monopolisiert. Die Treuhandverkäufe und die „Rückübertragungen“ haben zu einem massiven Vermögenstransfer in Richtung Westen geführt – fast das gesamte Produktivvermögen, der größte Teil der Vermögenswerte und Immobilien gehört irgendjemand außerhalb der DDR, im Allgemeinen Westdeutschen. Im Ergebnis dessen ist Herrschaft heute in der DDR nicht allein durch den Besitz von Fabriken oder ein dickes Bankkonto gekennzeichnet, sondern diese beiden Merkmale vereinen sich mit der Tatsache, daß ihre Träger i.A. von außen, aus dem Westen, kommen.
An dieser konkreten Erfahrung setzt „Ost-Identität“ an, wo sie sich als Anti-West artikuliert. Ost-Identität entsteht so in der Auseinandersetzung mit der Kolonialsierung. Deutlich wird das z.B. in folgendem Witz: „Wann ist die deutsche Einheit vollendet? Wenn der letzte Ossi aus dem Grundbuch gestrichen ist.“ Die Entostung des Grundbesitzes wird hier zu einer kollektiven Erfahrung, die „uns hier“ verschieden und entgegengesetzt zu „denen da drüben“ macht. Macht im Westen und Machtlosigkeit im Osten werden zu einem Grundthema, sie bilden ein starkes Band massenhafter Erfahrungen, das gesellschaftliche Konflikte in der Ex-DDR
vorstrukturiert. Die Konflikte, an denen diese Erfahrung praktisch wird, sind natürlich nicht von vornherein vorgegeben, sondern sie entstehen erst durch eine Vielzahl von Entscheidungen im Transformationsprozeß. Dabei ergeben sich immer wieder Konstellationen, in denen es sinnvoll ist, von gemeinsamen „ostdeutschen“ Interessen zu reden. Während so (in der absolouten Mehrheit) westdeutsche Hausbesitzer ein Interesse an einem freien Mietwohnungsmarkt haben, der es ihnen ermöglicht, ihre Immobilien gewinnbringend zu verwerten, haben ostdeutsche Mieter ein Interesse daran, so lange wie möglich die noch verhandenen mietbegrenzenden Sonder-Regelungen für den Osten zu behalten, während es West-Mietern im wesentlichen Wurst sein kann, ob Ost-Mieter mehr oder weniger Miete zahlen.
Die Erfahrungen mit Macht im Westen und Ohnmacht und Abhängigkeit im Osten sind auf Dauer gestellt. Weder ist zu erwarten, daß die Inhaber von Macht und Geld diese freiwillig übertragen werden, noch wird es auf absehbare Zeit im Osten zu einem selbsttragenden Aufschwung kommen, der die Grundlage für ein stärkeres Gewicht ostdeutscher Interessen bilden würde. Das Institut für Wirtschaftforschung Halle prognostoziert daher mittlerweile, daß im Jahr 2010 ein Viertel bis ein Drittel der erwerbsfähigen Personen (im Vergleich zu prognostizierten 9% im Westen) keine reguläre Stelle haben werden. Noch stärker als bisher werden soziale Lagen und aus ihnen folgende politische Ansätze im Osten daher Unterklassenprobleme sein und die „soziale Frage“ wird noch stärker, als im Westen an Gewicht gewinnen. Aus diesem Grunde ist auch nicht zu erwarten, daß Ost-West-Konflikte verschwinden werden. Denn sie beziehen ihre Stärke nicht nur aus einer Verfestigung vergangener kultureller Differenz (wie es etwa der stark auf katholische Tradition und antipreußische Ressentiments abhebende bayerische Regionalismus tut), sondern sie sind neu und finden ihren Boden in neuen gesellschaftlichen Spaltungen, auf die sie reagieren.
Mit der Formulierung einer gemeinsamen Ost-Identität schaffen sich Ostdeutsche darum einen Boden, auf dem sie eine ganze Anzahl von sozialen Konflikten verstehen, interpretieren und sich in ihnen verorten können. Dabei erfinden sie sich selbst als ethnische Gruppe. Indem sie ihre gemeinsame Vergangenheit und ihre gemeinsame Unterprivilegierung in den gegenwärtigen Verhältnissen betonen und sich einen eigenen Raum symbolischer Politiken schaffen, setzen sie sich mit den Machtverhältnissen auseinander und versuchen, einen (naheliegenden) Schlüssel für ihre Interpretation und für die Selbstdefinition in ihnen zu finden.
Diese Selbstdefinition kann dann – je nachdem, wie der Begriff „Ostidentität“ ideologisch besetzt wird – ganz verschieden aussehen. Sie kann als bürgerlicher Opferdiskurs daher kommen, wenn die Sondersituation der ehemaligen DDR-Bürger als „Deutsche zweiter Klasse“ beklagt und die Forderung nach baldiger und „richtiger“ Integration in die BRD erhoben wird. Sie kann offen reaktionär, sexistisch und rassistisch auftreten, wenn auf die angeblich besonderen Qualitäten „der Ostdeutschen“ rekuriert wird (ein gutes Beispiel lieferte da die neofaschistische Nationale Alternative, die die Ansicht vertrat, der ostdeutsche „Volkskörper“ sei gesunder als der westdeutsche, da er – wegen der Mauer – in den letzten 40 Jahren nicht so stark der „Verniggerung“ und „Verjudung“ ausgesetzt gewesen sei).
„Ostidentität “ kann aber auch für etwas ganz anderes stehen: Wenn sie nämlich nicht das Überstülpen der neuen Ordnung und den ungewünschten eigenen Platz darin kritisiert, sondern diese Ordnung selbst. Wenn Ost-Identität auf die massenhaften Erfahrungen einer stärkeren sozialen Demokratie zurückgreift, diese Karte in gegenwärtigen Konflikten spielt und soziale Probleme in der ehemaligen DDR als Unterklassenprobleme begreift, dann eröffnet Ost-Identität einen neuen Raum für sozialistische Politik. Dann kann „Ostidentität“ für eine Souveränitat des Denkens, Wollens und Handelns jenseits der Fixierung auf das in der BRD Übliche stehen und revolutionäre Potenzen entfalten. Hier anzuknüpfen, wäre Aufgabe einer ostdeutschen Linken.
© telegraph. Vervielfältigung nur mit Genehmigung des telegraph