telegraph 2/98
von Matthias Naumann und Michael Wuttke
„Regierungs- oder Tolerierungsverantwortung (ist) möglich sowie sinnvoll und wird angestrebt.“1
Bestrebungen, sich auf „Ost-Identität“ politisch zu beziehen, rufen bei den meisten Linken Schaum vor dem Mund hervor. Ehemalige Oppositionelle befürchten eine Verklärung der DDR, während West-Linke schon einen völkischen Konsens zwischen Linken und Nazis im Osten heraufziehen sehen bzw. einen reaktionären regionalen Folklorismus entdecken, den man kulturell schon lange hinter sich gelassen hat.
So mutet es erstaunlich an, wenn die PDS in ihrem „Rostocker Manifest“ völlig selbstbewußt und eindeutig mit dem Begriff „Osten“ operiert. Dies verwundert um so mehr, da es im krassen Widerspruch zum Konzept der Westausdehnung „Gysis bunterTruppe“ zu stehen scheint.
Ist das „Rostocker Manifest“ also ein Signal, die Bundestagswahlen im Osten und zwar nur dort gewinnen zu wollen? Kehrt die Partei, nachdem sie lange versuchte, das Image der ostdeutschen Regionalpartei loszuwerden, genau dorthin wieder zurück?2. Oder anders, ist das Papier das Ergebnis einer strategischen Diskussion innerhalb der PDS zum Thema Osten?
Der Umgang mit dem „Manifest“ innerhalb der Partei spricht eher dagegen. Das „Rostocker Manifest“, hauptsächlich von Mitgliedern des Bundesvorstandes3 verfaßt, wurde am 5. April 1998 auf dem Rostocker Parteitag der PDS verteilt. Gleichzeitig wurde dort eine Unterschriftenliste herumgegeben, auf der alle Delegierten des Parteitages4ihre Zustimmung zum „Manifest“ bekunden konnten – keine besonders offensive Umgangsweise mit den eigenen Inhalten. Es stellt sich die Frage, welche Form der demokratischen Entscheidungsfindung hier wohl praktiziert wurde, ohne daß eine Diskussion, Abstimmung oder sogenannte Akklamation5 stattgefunden hat.
Unabhängig von solch undemokratischem Prozedere ist dieses „Manifest“ einer der wenigen Versuche, sich in der Parteien- und Politiklandschaft der ’neuen‘ Bundesrepublik programmatisch auf die politischen und wirtschaftlichen Sonderbedingungen Ostdeutschlands zu beziehen. Da die PDS darüber hinaus den Anspruch hat, „Anwalt“ ostdeutscher Interessen zu sein, erscheint eine inhaltliche Auseinandersetzung mit dem „Rostocker Manifest“ angebracht.6
Das „Manifest“ beginnt mit einer Bilanz von knapp 8 Jahren deutscher Einheit. Die Autoren zeichnen in ihrer Analyse der Verhältnisse in Ostdeutschland ein nüchternes Bild der Konsequenzen des Anschlusses der DDR an die BRD: der Osten ist wirtschaftlich verödet, es gibt nur noch einen Bruchteil an Industrieproduktion. Die Arbeitslosenquote ist durchschnittlich doppelt so hoch wie in Westdeutschland und höher als in den osteuropäischen Nachbarländern. Die politischen und wirtschaftlichen Bedingungen sind heute maßgeblich durch die „Fremdbestimmung der Ostdeutschen“ gekennzeichnet, da Wirtschaft und Politik vom Westen gesteuert werden.
Die seit dem Anschluß gewonnenen spezifischen Erfahrungen der Ostdeutschen, ebenso wie DDR-Sozialisation und das kollektive Erleben der Wende7, betrachten die Autoren nicht als Hemmschuh oder Entwicklungsrückstand gegenüber den alten Bundesländern, sondern als eine Qualität, die Ansatz für gesellschaftliche Veränderungen sein kann.
Die besondere Situation in Ostdeutschland wird als „Experimentierfeld für Sozialabbau“ und als „Schlachtfeld des Liberalismus“ bezeichnet. Die Bundesregierung betreibt, so stellen die Autoren fest, mit ihrer neoliberalen Politik die „Demontage des Sozialstaates“ das „Aushöhlen der Tarifverträge“ und „unproduktive Privatisierung“. Es gehe bei dieser Politik darum, daß die im Westen erkämpften und geschlossenen Kompromisse im Osten aufgekündigt bzw. gar nicht erst dorthin übertragen werden sollen. Die sich daraus ergebenden Ungleichheiten zwischen Ost und West, führten zu einem „gespaltenen“ Deutschland mit zwei zunehmend „ungerechten“ Gesellschaften, verursacht durch die „verfehlte“ Politik der Bonner Regierenden.
Die Schlußfolgerung der Verfasser lautet: mehr Selbstbestimmung für Ostdeutschland. Sie schlagen ein Pilotprojekt Ost „Gerechtigkeit und Entwicklung“ vor, das auf einer „Politik der sozialen Gerechtigkeit, nachhaltiger Entwicklung und demokratischer Selbstbestimmung und Selbstverantwortung“ beruhen soll. Grundlage einer solchen Politik sei ein „Vetorecht für die ostdeutschen Bundesländer“ und ein „Staatsvertrag“ zwischen ihnen und dem Bund.
Die Forderungen nach „Selbstbestimmung statt Fremdbestimmung“ bzw. „Vetorecht für die neuen Bundesländer“ als notwenige Voraussetzung für „einen zukunftsfähigen Osten“ werden jedoch durch Floskeln wie „Erprobung von mehr Dezentralität im föderalen Aufbau der Bundesrepublik“ wieder relativiert.
Hinter der Forderung nach mehr Selbstbestimmung für den Osten steht ein Interessenkonflikt zwischen Ost und West, der auch nur so geführt werden kann. Die Forderung nach mehr Mitbestimmung, so wie sie im „Rostocker Manifest“ gestellt wird, entbehrt ihrer materiellen Basis, da im Osten ja gerade die materiellen Grundlagen fehlen, die das Fundament für mehr Selbstbestimmung bilden könnten. Ohne daß diese erkämpft wird, bleibt die Forderung nur ein Appell an die Herrschenden – wobei nicht klar ist, warum diese einer solchen Forderung folgen sollten. Daher bleibt der Satz, „Politik muß maßgeblich von Menschen gestaltet werden, die aus dem Osten kommen“, nur so lange richtig, wie er sich nicht als einer von vielen Unterpunkten eines beliebigen Forderungspaketes wiederfindet.
Die ständig wiederholten Beteuerungen, die Selbstbestimmung des Ostens gemeinsam und auch für den Westen durchzusetzen, zielen auf eine „gerechte“ Politik, die im ‚Sinne der Menschen‘ betrieben, gleichzeitig Ausgangspunkt für „dringend anstehende bundesdeutsche“ Reformen sein soll.
Für das wirtschaftspolitische Konzept heißt das z. B.: Besteuerung von Banken, umfangreiche Investitionen der BvS und Grundstücksübertragungen der TLG an die Kommunen. Darüber hinaus wird eine „regionale Wirtschaftsentwicklung“ und Abkehr von der Weltmarktlogik propagiert. Damit unterscheidet sich die PDS mit ihren wirtschaftspolitischen Vorstellungen für Ostdeutschland konzeptionell eindeutig von den Grünen oder der SPD. Die Vorstellungen von der praktischen Umsetzung der Konzepte jedoch erinnern an ein Crossover aus grünen und sozialdemokratischen Forderungen und Populismus. Nahverkehrsausbau, landwirtschaftlicher Selbstversorgung, erneuerbarer Energien, Arbeitszeitverkürzung oder Entbürokratisierung der Förderung, sollen so alle zusammen die Arbeitslosigkeit drastisch senken. Die Verfasser orientieren mit ihrem Programm der „regionalen Wirtschaftsentwicklung“ auf die Förderung des Kleinunternehmertums und des Mittelstandes und der „Verknüpfung von Wettbewerbsfähigkeit, Beschäftigung und sozial-ökologischen Umbau“. Grundlage eines solchen wirtschaftspolitischen Konzeptes sei die Gründung einer „Innovationsbank Ost“ bzw. eines „Fonds für soziale und ökologische Gesellschaftsaufgaben“.
Frappierend ist auch die Beliebigkeit und Themensetzung einiger aufgestellter Forderungen, wie etwa die nach Rehabilitierung stalinistischer Opfer bei gleichzeitiger Amnestie für die Täter, dem Erhalt von Seniorentreffs, der Durchsetzung der Lokalen Agenda 21, umweltgerechter Abwasserregelungen, der Forderung nach stärkerer Verantwortung der öffentlichen Hand oder nach feministischen Projekten usw. Diese programmatischen Forderungen sind ein Spiegelbild der lokalen und basisorientierten Projekte der PDS und so muten sie eher wie ein „Pilotprojekt PDS“, als ein „Pilotprojekt Ost“ an.
Die Forderungen nach Reparationen, nach einem „regionalen Wirtschaftskreislauf“ und nach Abkehr von der Weltmarktlogik sind ein mögliches Programm zur „Dekolonialisierung“ des Ostens. Bei zunehmenden Etablierung der PDS in Ostdeutschland8 wird sich das versteckte Programm der „Dekolonialisierung“ aber auch an sozialistischen Prämissen und emanzipatorischem Gehalt messen lassen müssen. Die vorgestellte Programmatik läßt da nichts Gutes erwarten: sie entspricht eher einer Politik des sich Gebenlassens, als einer des sich Erkämpfens. Sie ist lokal/regional und sozial ausgleichend orientiert. Von „Sozialismus als unverzichtbares Ziel der PDS“, wie er noch 1994 vollmundig vom Parteivorstand postuliert wurde, ist im „Manifest“ keine Rede mehr9. Wurde 1995 noch eine „neosozialistische Alternative“ für Deutschland gefordert10, begnügt sich die Partei 1998 mit dem Ruf nach sozialdemokratischen Reformen.
Darüber hinaus wird aber im „Rostocker Manifest“ eine gesellschaftliche Stimmung in Ostdeutschland zum Ausdruck gebracht, um die sich die Verfasser nicht herumdrücken können. Dabei scheint die Analyse der politischen und ökonomischen Verhältnisse in Ostdeutschland auf den ersten Blick alles in allem vielversprechend zu sein, da sie von einer „Fremdbestimmung“ der Ostdeutschen ausgeht und deren Erfahrungen, die sich aus DDR-Sozialisation, Wende- und Nachwendezeit speisen, als eine mögliche Grundlage für gesellschaftliche Veränderungen im Osten bzw. in der ganzen Bundesrepublik begreift.
Die daraus abgeleiteten Forderungen nach einer „anderen Politik“ sind dagegen weder konkret pragmatisch, noch emanzipatorisch. Die Forderung nach mehr „Selbstbestimmung der Ostdeutschen“, die ja zu begrüßen ist, bleibt allenfalls plakativ und populistisch und deren Umsetzung unklar, da sowohl Analyse, als auch Forderungskatalog, in einem staatsadministrativen Denken verhaftet bleiben11. Das wirtschaftspolitische Konzept, das Ansatzpunkte für mögliche ‚Dekolonialisierungsprozesse‘ bietet, löst in seiner Unentschiedenheit somit nicht ein, was es verspricht.
Das „Manifest“ ist letztlich Ausdruck eines Spagates der Partei zwischen Ostbezug und versuchter Westanbindung. Mit einem breitgefächerten Forderungskatalog versucht die PDS gleichzeitig in ostnostalgischer Wahlkampfmanier bzw. mit radikalen Parolen ihr ostdeutsches Wählerpotential voll auszuschöpfen und, indem sie verfassungskonforme Politikansätze anbietet, mögliche Westwähler anzusprechen.
An diesem Punkt legt das „Manifest“ den Widerspruch offen zwischen dem Anspruch, eine bundesdeutsche linke Partei sein zu wollen und der Tatsache, lediglich eine ostdeutsche Regionalpartei zu sein. Das „Manifest“ bietet bestenfalls die Grundlage zu einer Diskussion über die grundsätzliche Notwendigkeit einer breiten gesellschaftlichen Bewegung für mehr Selbstbestimmung. Denn Forderungen lassen sich nicht allein mit Hilfe von Wahlarithmetik und sich professionalisierender Gremienarbeit durchsetzen, sondern nur mittels eines breiten aktiv, eingreifenden Teils der Gesellschaft. Eine solche Bewegung muß sich aber auch von faschistischen und rassistischen Tendenzen abgrenzen, wie sie in Ostdeutschland – aber nicht nur dort – zunehmend zu verzeichnen sind. Sowohl in der Analyse, als auch in der politischen Zielsetzung des „Manifestes“ fehlt eine solche eindeutige Abgrenzung zum Nationalismus, Rassismus und Neofaschismus. Das hat sicherlich mit der Angst der Autoren zu tun, bei einem klaren antifaschistischen und antirassistischen Bekenntnis, den „staatlich verordneten Antifaschismus“ aus alten Tagen um die Ohren gehauen zu bekommen. Sich mit dieser Problematik nicht auseinanderzusetzen, verdeutlicht letztlich das geringe Maß der Aufarbeitung eigener Geschichte und die geringe Bewußtheit der gesellschaftlichen Verantwortung.
Eine emanzipatorische Bewegung läßt sich nicht ersetzen – ohne außerparlamentarische Ansätze, wie etwa einen Mieten- oder Steuerboykott, zu diskutieren und gegebenenfalls zu unterstützen, bleiben alle Bemühungen good will – Erklärungen.
1 aus: „Analyse zur Politik der SPD im Wahljahr 1998“; in: JungeWelt 11.06.1998
2 Die Umfrageinstitute bescheinigen der PDS jedenfalls in regelmäßigen Abständen, daß sie im Osten über ein stabiles Wählerpotential verfügt (20%), ihr Stimmenanteil im Westen dagegen kaum im Bereich des Meßbaren liegt (1,5%); Zahlen nach emnid-Umfrage vom 24.5.1998
3 Die Autoren sind: Christa Luft, Wolfgang Methling, Dieter Klein, Angelika Gramkow, Petra Pau, Lothar Bisky, Gregor Gysi, Dietmar Bartsch, André Brie, Judith Dellheim, Barbara Höll, Rolf Kutzmuz, Wolfgang Leuchter und Gabi Zimmer.
4 mehr als 350 Delegierte unterzeichneten das „Manifest“
5 steht parteideutsch im allgemeinen für „Beifallklatschen“
6 Bereits am 2. 10.1996 erschien „Ostdeutschland – Herausforderung und Chance“ – ein gemeinsam von Parteivorstand und Bundestagsgruppe der PDS herausgegebener Forderungskatalog.
7 Die Formulierung über „die Erfahrungen des Herbstes 1989 mit dem Widerstand gegen Politik, die die Nöte der Menschen nicht mehr versteht“, läßt ein Politikverständnis erkennen, indem die Autoren zwar ‚Fehler einräumen‘, aber keine weitergehende Kritik an der SED üben.
8 Erinnert sei an dieser Stelle, an das Tolerierungsmodell in Sachsen-Anhalt: Die PDS unterstützt das wirtschaftspolitische
10 Punkteprogramm der Höppner-Regierung und segnete auch Schucht (ehemaliger Treuhandchef in Sachsen-Anhalt), als Wirtschaftsminister ab.
9 „10 Thesen zum weiteren Weg der PDS“, Entwurf des Parteivorstandes zum Parteitag im Januar 1995; in Neues Deutschland“ vom 06.12.1995
10 „Probleme und Aspekte der Ausarbeitung einer Strategie der PDS“, ein Entwurf von Bisky und Brie; in Frankfurter Rundschau von 20.02.1995
11 Formulierungen wie z.B. die „verfehlte Politik der Bundesregierung“ oder „die PDS will dazu beitragen, demokratischen Druck und Einfluß von unten zu entwickeln“, zeigen das sehr deutlich.
© telegraph. Vervielfältigung nur mit Genehmigung des telegraph