Wendefrauen im betrieb und die Frauenwende

aus telegraph 2/98
von Bernd Gehrke

1997 veröffentlichte der Verlag Westfälisches Dampfboot eine Untersuchung von Renate Hürtgen über Frauen in den ersten betrieblichen Interessenvertretungen der neuen Bundesländer. Sie wurde im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung durchgeführt und beruht wesentlich auf den Interviews von 30 Frauen, die im Jahre 1990 in fünf Betrieben nach dem Betriebsverfassungsgesetz der BRD als Betriebs- oder Personalrätinnen gewählt worden waren. In ihrer Ausgangsfragestellung konstatiert die Autorin zunächst die bei West-Gewerkschafterinnen nach der Vereinigung vorhandene Enttäuschung über den von den Ost-Kolleginnen erhofften, aber ausgebliebenen frauenpolitischen Aufschwung. An diese Erfahrungsebene knüpft die Autorin mit ihrer Analyse an. Sie formuliert folgende Ausgangsfragen: „Welchen Ost-Frauen standen die Gewerkschaftskolleginnen aus dem Westen überhaupt gegenüber? Wer waren diese Partnerinnen auf betrieblicher Ebene? Wie war ihre bisherige Sozialisation verlaufen? Welche ‘Kultur der betrieblichen Vertretungspraxis’ ist mit ihrer Person verbunden?“

Die Antworten auf diese Fragen sind außerordentlich lesenswert. Weil Renate Hürtgen mit konsequent herrschaftskritischem Blick die Verhältnisse in der DDR, wie in der BRD betrachtet, sowie Herrschaftsverhältnisse als in sich widersprüchlich auffaßt, gelingt ihr mit ihrem Buch nicht nur eine wichtige Materialsammlung über Frauenleben in der DDR. Es liefert auch verschiedene interessante Erklärungsansätze, die sich durch die Benennung sozialer Widersprüchlichkeiten gegenüber den in der Transformations- und Frauenforschung vorherrschenden Darstellungen vorteilhaft abheben.

Die Autorin erschließt den Leserinnen und Lesern sowohl mittels ausgiebig dargestellter Auskünfte der interviewten Frauen, als auch aus der differenzierten Darstellung der DDR-Wirklichkeit diese Gesellschaft als eine spezifische Form patriarchalischer Herrschaft. Sie ließ wegen der besonderen Verknüpfung der Geschlechterverhältnisse mit den übrigen Herrschaftsverhältnissen bei den untersuchten Frauen weder das Bedürfnis, noch das Bewußtsein entstehen, ihre sozialen Interessen entlang der Gegensätze zwischen den Geschlechtern zu organisieren. Aufgrund der sozialen Organisation der DDR-Gesellschaft, als auch aufgrund der Spezifik des Umbruches in Wende und Wiedervereinigung dominierten für diese Frauen nicht die frauenspezifischen Interessen, sondern solche Interessen, die sie mit den Männern gemeinsam hatten. Weil die Autorin Geschlechterverhältnisse und Klassenverhältnisse in ihrer jeweils spezifischen gesellschaftlichen Verbindung zu fassen sucht, gelingt ihr die Herausarbeitung der Differenzen des Frauenverhaltens in der DDR gegenüber den Erwartungen der gewerkschaftlich engagierten Frauen aus dem Westen.

Diese Sicht auf gesellschaftliche Verhältnisse liefert ein schonungsloses Bild von den Verhältnissen in der DDR mit ihren spezifischen Entwicklungsblockaden für Indidividuen im allgemeinen und für Frauen im besonderen. Da Renate Hürtgendabei nicht nur ihre theoretische Position ausführlich begründet, sondern sich dabei mit den gängigen Auffassungen zum Thema auseinandersetzt und diese Auseinandersetzung zudem in einer für die geglättete akademische Debatte heute unüblichen Offenheit führt, ist ein zutiefst politisches Buch mit erfrischender Streitkultur entstanden. Durch die Kombination von dargestelltem Frauenleben, historisch-kritischer Erklärung und politisch-theoretischem Streit ist die vorliegende Untersuchung – bis auf wenige Stellen – nicht nur für akademisch gebildete Frauen und Männer interessant, sondern für alle in Ost und West, die wissen wollen, warum Ossis’s und vor allem Ossi-Frauen sind wie sie sind und welche Entwicklungs- und Veränderungspotentiale in ihnen stecken. Das heißt aber auch, das sich dieses Buch für all jene zu lesen lohnt, die wissen wollen, was für eine Gesellschaft die DDR war, welche patriarchalischen und sonstigen Herrschaftsstrukturen sie in den tatsächlichen Individuen von Frauen und Männern verankerte.

In besonderer Weise lohnend ist dieses Buch natürlich für diejenigen, die sich für die sozialen und politischen Entwicklungsprozesse der Wende-Zeit in Betrieben interessieren. Zu all diesen Aspekten liefert dieses Buch nicht nur eine Reihe von Anregungen für weitergehende Untersuchungen, sondern auch empirisch gestützte Einzelergebnisse, deren Kenntnisnahme eine weite Verbreitung zu wünschen ist – sie relativieren die oft anzutreffenden Einseitigkeiten in anderen Darstellungen erheblich.

Die erste Erkenntnis, die das Buch vermittelt und die gleichsam einen Schlüssel für die Auffächerung aller Problemfelder liefert, ist, das Ossi ebenso wenig gleich Ossi ist, wie Wessi gleich Wessi oder Franzose gleich Franzose. Mit anderen Worten, weil DDR-Gesellschaft und -Betriebe als Herrschaftsverhältnisse befragt werden, werden von der Autorin auch politische, soziale und kulturelle Prägungen untersucht. Die empirische Untersuchung ergab, daß unter den interviewten Frauen fast ausschließlich Angestellte vertreten waren und ein überdurchschnittlich hoher Anteil von ihnen ein Hoch- oder Fachschulstudium absolviert hatte, deshalb auch bereits vor der Wende (vorwiegend) mittlere Leitungsfunktionen ausübte. Dieses Ergebnis bestätigt für Frauen, was die entsprechende Forschung der letzten Jahre geschlechtsunspezifisch über das Engagement von Angestellten und Hochqualifizierten für demokratische Interessenvertretungen im Betrieb während Wende und Wiedervereinigung hinreichend belegt hatte. In der vorliegenden Untersuchung war damit nicht nur ein hoher Anteil von Vertreterinnen haupt- und ehrenamtlicher Funktionen im FDGB verbunden (Mitglieder und Vorsitzende von Abteilungs- und Betriebsgewerkschaftsleitungen), sondern auch ein überproportionaler Anteil von SED-Mitgliedern. Das Gros dieser Frauen war bis zur Wende nicht nur durch eine geschlechtsspezifische Erziehung zum Anpassen und „Dienen“ geprägt, sondern auch durch ein Sozialverhalten, für das Renitenz ein Unwert war. Nur eine Minderheit der Untersuchten hatte deshalb die Wende begrüßt, die Mehrheit fühlte sich betrogen, als die Spitze der Hierarchie, in der sie sich eingerichtet hatten, keine Antwort auf ihre Fragen nach der Zukunft mehr gab. So traten sie auch aus der SED aus und nur ganz wenige von ihnen verbanden damit den Verlust einer Utopie. Sie blieben in der Zeit der demokratischen Bewegung passiv und nur drei von den dreißig Frauen nahmen an einer der Demonstrationen auf den Straßen teil. Für das Gros dieser Frauen verband sich die Erinnerung an die Zeit der Demokratiebewegung in der DDR vor allem mit jenen Veränderungen, die sich im Rahmen der Reproduktion ihrer Familien abzeichneten.

„Konfliktscheue“ ist eine wesentliche Seite jener Sozialisation, mit deren Prägung das Gros dieser Frauen in die neuen betrieblichen Interessenvertretungen geriet, als sie dafür geworben wurden: „Du hast das doch früher schon gut gemacht“. Nur eine kleine Minderheit der interviewten Frauen hat sich eigenständig engagiert, darunter allerdings auch solche, die in ihren Betrieben die bestimmenden Aktivistinnen zur Schaffung neuer Interessenvertretungen, zunächst einer erneuerten Betriebsgewerkschaftsleitung (BGL), sodann eines Betriebsrates wurden. In den neuen Interessenvertretungen betätigen sich die meisten Frauen wie schon vor der Wende im FDGB ihren eigenen Neigungen folgend vor allem im „karitativen“ Sinne. Das bedeutete vor allem die Wahrnehmung sozialer Betreuungsaufgaben im Zusammenhang mit den Massenentlassungen nach der Wiedervereinigung. Mit der Verschlankung ihrer Betriebe sind die meisten Frauen aus den Betriebs- und Personalräten ausgeschieden. Ihr Ausscheiden haben die interviewten Frauen vor dem Hintergrund der Massenentlassungen nicht als spezifischen Geschlechterkonflikt wahrgenommen, sondern einerseits als Teil der alle betreffenden Gesamtentwicklung, andererseits als Konsequenz aus dem praktischen Wegfall ihrer spezifischen Aufgabe. 

Mit dem Ausscheiden des Gros’ dieser Frauen aus den Betriebs- und Personalräten wurde ein Prozeß vollendet, dessen Verdeutlichung eines der wesentlichen Verdienste der Arbeit von Renate Hürtgen ist: Das häufig beklagte starke Co-Management-Verhalten ostdeutscher Betriebsräte sowie ihre Distanz zu den Gewerkschaften ist nach der Lektüre dieses Buches nicht nur durch die besonderen historischen Konstellationen der schockartigen Anpassung an den kapitalistischen Weltmarkt im allgemeinen, sondern auch als Resultat eines mehrfachen Selektionsprozesses erklärbar. Vier relevante Seiten dieses im großen und ganzen einheitlichen Selektionsprozesses innerhalb der ersten Betriebs- und Personalräte wurden von der Autorin belegt und deren Ursachen von ihr in unterschiedlicher Weise diskutiert: Da ist zunächst die faktische Ausscheidung von Arbeiterinnen und Arbeitern zugunsten der Angestellten im Prozeß der Reorganisation der Interessenvertretungen in der Wende-DDR. Im Zuge der Übernahme des westdeutschen Rechts und der Durchsetzung von Rationalisierung und Privatisierung setzten sich innerhalb der Betriebs- und Personalvertretungen auch immer stärker jene Gruppierungen durch, die vor dem Hintergrund der Massenentlassungen ihr eigenes Überleben bedingungslos an die Betriebsleitung knüpften – während die Aufmüpfigen ausgeschieden wurden. Im Zuge der „Normalisierung“ der Interessenvertretungen in jenen Betrieben, die überlebt hatten, bedurfte es dann auch nicht mehr jener „karitativen“ Betreuungsfunktionen, die im Zuge der Massenentlassungen noch gebraucht wurden. Jetzt war „normales“ (männliches) Machtverhalten gefragt. Die meisten Frauen wurden ausgeschieden. Diese quasi internen Prozesse sind dabei aber eng verbunden mit jenem Selektionsverfahren, in dem sich auch die westdeutschen Gewerkschaftsapparate innerhalb der ostdeutschen Betriebsräte die zu ihnen passenden Akteure gesucht hatten. Hierzu gehört aber auch der umgekehrte Vorgang, daß sich nämlich jene Menschen enttäuscht aus der aktiven Betriebsrats- und Personalratsarbeit verabschiedeten, die die Demokratie der westdeutschen Gewerkschaften aus ihren in der Wende entstandenen Hoffnungen heraus als Basisdemokratie mißverstanden hatten.

Diese verschiedenen Prozesse führen die Autorin dann auch zu dem Urteil, daß die heutigen, oft beklagten Verhältnisse in den betrieblichen Interessenvertretungen Ostdeutschlands bereits das Resultat der Kombination ostdeutscher undwestdeutscher Ursachen sind. Die Erwähnung solcher, in den meisten Darstellungen über Ostdeutschland unerwähnten Prozesse, wie der ursprünglich vorhandenen basisdemokratischen Illusion gegenüber westdeutscher Demokratie bei ostdeutschen Lohnabhängigen sowie die Frustration nach den realen Erfahrungen mit dieser selbst, geben dem Buch seinen realistischen, weil die tatsächliche Widersprüchlichkeit ausdrückenden Charakter. Hierzu gehört auch die Hinterfragung solcher „Gewißheiten“ der Transformationsforschung, daß ostdeutsche Betriebsräte den Gewerkschaften distanzierter gegenüber stehen als westdeutsche: an Hand statistischer Belege zeigt die Autorin, daß die ostdeutschen Betriebsräte damit nur eine ähnliche Distanz zu den Gewerkschaften aufweisen, wie westdeutsche Lohnabhängige außerhalb der betrieblichen Interessenvertretungen auch.

Da Renate Hürtgen mit ihrer schonungslosen Darstellung der Widersprüche bei den von ihr interviewten Frauen, den Männern und den DDR-Verhältnissen insgesamt zu keinem angenehmen Bild kommt, gelingt ihr mit ihrem Buch um so überzeugender dennoch die Verbreitung von Hoffnung. Gerade durch die Darstellung ihrer Widersprüche wird nämlich auch die Entwicklung der von ihr interviewten Frauen deutlich. Wo sich bei der Darstellung der Sozialisation dieser Frauen in der DDR anfänglich eine weitgehende Homogenität unpolitischer Menschen zeigte, die sich in die gesellschaftlichen Verhältnisse eingepaßt hatten ohne anzuecken, da zeigt der Prozeß des aktiven Eingreifens in die gesellschaftlichen Verhältnisse auch die Veränderung der Akteurinnen selbst. Nicht nur beginnt eine rasche Differenzierung in der Art des Engagements, auch die Konfliktbereitschaft entwickelt sich. Und dies ist neben der Vielzahl interessanter Erkenntnisse das schöne Resultat der vorliegenden Untersuchung: daß nicht nur ein Teil dieser Frauen immer noch engagiert und dabei zugleich kämpferischer geworden ist, sondern daß auch jene Frauen, die heute aus verschiedenen Gründen nicht mehr in Gewerkschaften oder Betriebsräten aktiv sind, sich in den Auseinandersetzungen verändert haben und in einer größeren Konfliktbereitschaft die Lehre aus ihren Erfahrungen sehen. Und das ist wohl die wichtigste Klammer zwischen den WendeFrauen im Betrieb und der noch nicht erkämpften FrauenWende, daß nämlich die verändernde Tätigkeit die Menschen selbst verändert. So bleibt auch uns Männern eine Chance.

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Renate Hürtgen, WendeFrauen – FrauenWende. Frauen in den ersten betrieblichen Interessenvertretungen der neuen Bundesländer, Westfälisches Dampfboot, Münster 1997, 244 Seiten, 38,00 DM

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