aus telegraph #3 _ 1999
von Josh Sellhorn
Am Ende der sechziger Jahre trug mir das Kreiskulturhaus Prenzlauer Berg an, doch künftig alle 14 Tage für sie eine Jazzveranstaltung zu machen – mit Schallplattenvortrag von mir, Auftritten von Jazz Bands und auch von rezitierenden Schauspielern, also gewissermaßen eine Mini-Form von „Jazz – Lyrik – Prosa“. Da ich aber gerade erfahren hatte, dass es ein Rundschreiben der Abteilung Kultur vom Magistrat an alle Berliner Kultureinrichtungen gab mit der „Empfehlung“, möglichst auf Veranstaltungen mit Werner Sellhorn zu verzichten oder doch zumindest solche nur ein oder zwei Mal im Jahr zuzulassen, gab ich das zu bedenken. Allerdings hatten im Kreiskulturhaus damals recht vernünftige Leute das Sagen. So überlegten wir gemeinsam, wie man die Anweisung austricksen könne, und kamen auf folgende Lösung: Da die Veranstaltungen jeweils um 19.30 Uhr beginnen sollten und da ich im Freundeskreis mit dem Spitznamen Josh angeredet wurde (was sich aus meiner frühen Begeisterung für den schwarzen amerikanischen Bluessänger Josh White erklärte, dessen Aufnahmen ich schon in den fünfziger Jahren messianisch allen meinen Bekannten vorspielte, ob sie sie hören wollten oder nicht) einigten wir uns darauf, die Veranstaltungen einfach nur als „Mit Josh um halb acht“ auf den Plakaten anzukündigen. Es funktionierte; die Fans wussten, wer „Josh“ war, und kamen zahlreich zu den Abenden, die „Obrigkeit“ aber bekam es nicht mit, dass man ihre Hinweise umging. Und so gab es dreieinhalb Jahre lang „Mit Josh um halb acht“ ohne Probleme.
Diese wahre Anekdote erklärt nicht nur, warum ich heute statt als Werner Sellhorn lieber als Josh Sellhorn in die künstlerische Öffentlichkeit trete (man muss ja einem Spitznamen Dankbarkeit erweisen, der einem so geholfen hat), sondern sie macht auch deutlich, dass in der DDR auf dem Gebiet der Kunst (und sicher nicht nur dort) manches mit kleinen Tricks durchgesetzt wurde, was sonst dem Agieren verbohrter Kulturpolitiker zum Opfer gefallen wäre. Auch und gerade auf dem Gebiet des Jazz hat es immer wieder Bemühungen und Leistungen gegeben, die nur allzu oft durch verständnislose Politik zunichte gemacht wurde. Dabei muss man bedenken, dass der Jazz eben in den Augen marxistischer Dogmatiker lange Zeit eine „amerikanische Unkultur“ war, der man entgegentreten musste. Anhänger des Jazz setzten dagegen, indem sie die ursprüngliche Form dieser Musik zum „proletarischen Ausdruck der unterdrückten Neger“ hochstilisierten, um so wenigstens den Old Time Jazz vor Angriffen zu schützen. Das war eine Notkonstruktion, denn natürlich entstand der Jazz aus der Mischung schwarzer und weißer Musikkultur, haben schwarze und weiße Jazzer nicht nur in der Anfangsphase, sondern bis in die heutige Zeit hinein eine eigenständige wertvolle Musik geschaffen und entwickelt, die man nicht einfach in soziologische oder gar politische Schemata pressen kann. (Es versteht sich von selbst, dass es beim Jazz wie bei jeder anderen Art von Musik auch zu minderwertigen und nur kommerziell geprägten Ergebnissen kam.) Die Auseinandersetzung mit dem Jazz in der DDR begann schon vor der Gründung der DDR. In den ersten Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs begannen auch in dem zwar bald in Besatzungssektoren eingeteilten, aber dennoch mehr oder weniger einheitlichen Berlin erste Jazzaktivitäten. Musiker, die sich in der Nazizeit nur heimlich oder gefahrvoll dieser Musik hatten widmen können, konnten nun zunächst ungehindert ihren Intentionen nachkommen. Die im Osten angesiedelte und von aufgeschlossenen sowjetischen Kulturoffizieren unterstützte Firma Lied der Zeit, von Ernst Busch gegründet und geleitet, brachte auf ihrem Etikett Amiga etliche interessante Titel heraus, die Swing-Jazz waren oder zumindest davon inspiriert. Ja, diese Firma war in dieser Hinsicht in den ersten Nachkriegsjahren sogar die in Deutschland führende. Solche damals hervorragenden Orchester wie das RBT-Orchester (Radio-Berlin-Tanz-Orchester unter der Leitung zuerst von Michael Jary, dann von Erwin Lehn und Horst Kudritzki), Walter Dobschinski und seine Swingband und auch Kurt Henkels mit seinem Tanzorchester aus Leipzig standen in der ersten Linie, wenn auch zunehmend als Begleitensembles für Schlagersängerinnen und -sänger wie Rita Paul, Bully Buhlan oder Ilja Glusgal. (Wozu bemerkt werden muss, dass damals bei solchen Schlageraufnahmen viel gute Jazz- und Swingsolistik dabei war – anders als später, da die Orchester immer mehr zu Begleitern im Hintergrund wurden, oder gar heute, wenn die Gesangssolisten überhaupt nur von „Geistermusik“ aus dem Computer begleitet werden.) Aber auch Kleinformationen wie die Amiga Star Bands bestimmten seinerzeit das gute Bild. Ein Höhepunkt der Amiga-Aufnahmen 1948 war die Begegnung des schwarzen Ellington-Kornettisten, der zusammen mit schwarzen US-amerikanischen Musikern und führenden Berliner Solisten in einer Jam Session 6 unvergessene Aufnahmen einspielte. Doch dann schlug die Politik zu: Nach dem von Stalins „Kulturpapst“ Shdanow initiierten unseligen Beschluss des ZK der KPdSU (B) vom 10. Februar 1948 gegen „Formalismus“ und für einen „neuen sozialistischen Schaffensstil“ kam es zu Restriktionen auch gegen die Berliner Musikszene, was zum Weggang führender Solisten in den Westen und zur Auflösung zum Beispiel des RBT-Orchesters führte. Ein Kenner der damaligen Szene, Joachim Schütte, weiß in seiner „RBT-Story“ folgendes zu berichten:
„Im Jahre 1949 beginnt die Lage des RBT-Orchesters schwieriger zu werden. Als erstes wird am 9. Januar die charmante Sprecherin der `verbindenden Worte des RBT-Orchesters‘ Karin Jurow wegen `Reorganisation‘ entlassen. Über dem Auftrag, dem RBT-Orchester einen `fortschrittlichen‘ Stil aufzuzwingen, stolpert der Leiter der Musikabteilung von Radio Berlin, Goldschmidt. Er wird am 1. März entlassen. An seine Stelle tritt Nationalpreisträger Helmut Koch, der sofort alle englischen Titel verbietet … Die Programmgestaltung beim Berliner Rundfunk wurde nun immer schwieriger. Selbst mit deutschen Schlagern eckte Horst Kudritzki nun an. Adolf Steimels Titel `Ich träume oft, ich säße auf dem Mond‘ wird kurzerhand verboten mit der Begründung, der Text bringe `Weltfluchttendenzen‘ zum Ausdruck. Alle Texte, in denen `Mondschein‘, `Park‘, `Tränen‘ vorkamen, werden in den Bann getan. Nur noch negative Hörerbriefe wurden an das Orchester weitergegeben, die guten verschwanden
… In dieser Situation entschlossen sich die Programmgestalter, nach und nach alle alten Bänder zu löschen. Sie glaubten auch, wenn man in ihren Abteilungen verbotene Titel fände, würden sie entlassen werden. So leerten sich die Regale … Im Jahre 1950 kam das Ende des RBT-Orchesters. Jean Kurt Forest hatte in mehreren Sendungen die Leitung des Orchesters übernommen. Er wollte ein neues, sozialistisches Orchester daraus machen … Folgende Aussprüche stammen von ihm: `Es ist nicht mit dem fortschrittlichen Geist der Deutschen Demokratischen Republik zu vereinbaren, wenn wir Tanzmusik machen wie unsere Klassenfeinde in Amerika‘ und `Wir müssen jeden westlichen Einfluss aus dem RBT-Orchester herauspressen, selbst wenn wir eine hydraulische Presse dazu brauchen sollten!‘ Die Bemühungen von Forest, das RBT-Orchester nach seinen Wünschen umzubauen, gingen dann aber vollkommen in die Hose. Am 1. Mai sollte das Orchester im Ost-Berliner Lustgarten spielen. Die Dirigenten Horst Kudritzki und Erwin Lehn weigerten sich. Von den Musikern entschuldigten sich 21 Leute. Der Rest des Orchesters spielte dann unter der Leitung von Forest und wurde von den Zuhörern ausgepfiffen … Am 3. Mai 1950 überreichten Erwin Lehn und Horst Kudritzki ihre Kündigungsschreiben im Berliner Funkhaus, und am nächsten Tag kündigten die Musiker geschlossen ebenfalls. Zu allem Überfluss erhielten dann Horst Kudritzki und Erwin Lehn am 5. Mai um 22 Uhr durch Boten auch noch ein Kündigungsschreiben des Berliner Rundfunks.“
All diese Umstände führten zu einer großen Pause, was die Jazzaktivitäten in der DDR angeht. Zwar wurde hier und da in verschiedenen Städten noch weiter Jazz gespielt und auch Jazzfreunde versammelten sich mehr oder weniger privat, um gemeinsam Jazzplatten zu hören (oft von den „Kulturaufpassern“ mit Argusaugen beobachtet und in vielen Fällen auch Schikanen ausgesetzt) – aber erst Mitte der fünfziger Jahre kam es zu nennenswerten neuen Ansätzen in der Jazzpflege. Und dann kam ich – nach dem Ende meines Philosophiestudiums – in den Sog dieser Musik, die mein Leben veränderte.
In meiner Sicht auf die Jazzentwicklung in der DDR – und nur aus dieser soll hier die Rede sein – spielt die Zeit ab Mitte der fünfziger Jahre eine große Rolle. Vorher hatte ich immer nur eine sehr entfernte Ahnung von dem, was Jazz ist, jedoch auch eine naive Sympathie dafür. Das geht schon daraus hervor, dass ich Anfang der fünfziger Jahre als junger Philosophiestudent an der Humboldt-Universität in Ostberlin bei Streifzügen durch Westberlin als meine ersten „Jazzplatten“ die Schnulze „Blueberry Hill“, allerdings vorgetragen von Louis Armstrong, und den Rhythm-&-Blues-Hit „Flamingo“, gespielt vom Saxophonisten Earl Bostic, kaufte. Aber gegen Ende meines Studiums wollte ich es genauer wissen. Schuld daran war ein Päckchen meiner schon sehr alten Großmutter, die in Hamburg-Bergedorf lebte. Ich weiß nicht, was sie bewogen hatte, mir von sich aus ein Buch über den Jazz in das Päckchen zu legen. Es war das berühmte und bis heute in vielen überarbeiteten Auflagen erschienene „Jazzbuch“ des westdeutschen Jazzkritikers Joachim Ernst Berendt. Dieses Büchlein las ich im Sommer 1956 fieberhaft erregt nachts in der Küche meiner Mutter, die damals in Thüringen lebte und bei der ich meinen Sommerurlaub verbrachte. Berendt verstand es in seinem Werk, die Entwicklung des Jazz so logisch folgerichtig und philosophisch interessant darzustellen, dass es mich einfach umhaute. Von da an hörte ich unentwegt Jazzsendungen westlicher Sender, um das zu hören, worüber mich das Berendt-Buch theoretisch belehrt hatte, borgte ich mir von Freunden in Westberlin Jazzplatten aus. (ein riskantes Unterfangen, denn bei möglicher Beschlagnahme der Platten durch die DDR-Grenzer hatte ich natürlich das Verlorengegangene zu ersetzen), um deren Titel nächtelang auf Spulenbänder zu übertragen. Und als ich dann irgendwie erfuhr, es gebe in Ostberlin in einem Jugendklubhaus in der Gartenstraße nahe dem „Nordbahnhof“ eine allwöchentlich tagende „Interessengemeinschaft Jazz“, schloss ich mich sehr bald dieser an und war von da an im Jazz „gefangen“. Natürlich kam es schnell zu Interessenkonflikten zwischen meiner damals noch wenig getrübten marxistisch-leninistischen Grundhaltung und dem toleranten geistigen Freiraum, der zum wirklichen Verständnis des Jazz (als Symbol freier Kunst) notwendig war. Dieser Konflikt sollte in meinem weiteren Leben eine sehr große Rolle spielen – einerseits durch sich immer wieder zuspitzende Konflikte mit der restriktiven und dogmatischen Kulturpolitik in der DDR, andererseits zur vermeintlichen Absicherung meiner Liebe zum Jazz und meiner Aktivitäten auf diesem Gebiet durch zeitweilige Kompromisse im Umgang mit Leuten der Stasi, die sich für mich als Mann mit solchen Verbindungen interessierten.
Aber das ist schon ein anderes Thema, hier nur erwähnt, weil es bestimmt auch einer Reihe anderer „Jazzfans“ ähnlich erging. Immerhin konnte man erfahren, dass Leute, die sich in dieser Zeit für den Jazz einsetzten (nicht nur in Berlin, sondern auch beispielsweise in Leipzig, Dresden, Halle, Karl-Marx-Stadt/Chemnitz und anderswo), die selben Probleme hatten. Überall in der DDR bildeten sich in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre Jazzklubs, gab es mehr oder weniger legale Jazzkonzerte, gerieten Aktivisten in gesellschaftliche Schwierigkeiten beziehungsweise so oder so in die „Obhut“ der Staatssicherheitsorgane. Aber mit dem Jazz in der DDR – für die einen Ausdruck einer Oppositionshaltung, für die anderen eine gerade auch im Sozialismus zu bewahrende und zu pflegende Musikkultur, die man westlichem „Propagandamissbrauch“ entziehen wollte – ging es voran. Neue Gruppen wie das legendäre Orchester des Leipzigers Eberhard Weise, die Berliner Amateur-Dixielandband „Jazz-Optimisten Berlin“ (zuerst gegründet als „Blue Music Brothers“), das moderne „Quintett 61″ des Trompeters Klaus Lenz in Berlin, „Alfons Zschockelt’s Jazz Band“ Halle, die Dresdner Gruppen um Theo Schumann oder von Musikern der „Dresdner Tanzsinfoniker“ von Günter Hörig, das Quintett des Leipziger Trompeters Werner Pfüller oder das Manfred-Ludwig-Sextett aus Görlitz traten Ende der fünfziger oder Anfang der sechziger Jahre auf den Plan. Alle genannten Ensembles (und etliche weitere) hatten ihre Schwierigkeiten mit der „Obrigkeit“, erlangten aber doch allmählich den Status des „Geduldetseins“.
Erst Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre kam es allmählich für die Jazzmusiker zur offiziellen Anerkennung oder sogar zum Gefördertwerden, dann nämlich, als die DDR-Verantwortlichen erkannt hatten, dass man mit ihnen internationale Anerkennung gewinnen konnte, die sich natürlich auch für den Staat DDR positiv auswirkte. Das soll nicht heißen, von nun an habe es für die Jazzmusiker eine Art Schlaraffenleben gegeben. Nervende Auseinandersetzungen mit engstirnigen Kulturpolitikern hat es immer wieder gegeben, und geliebt hat man den Jazz offiziell nie. Inzwischen waren aber neue „subversive“ Musikformen aufgekommen wie die Beatmusik und der Rock-Pop überhaupt, denen nun vordringlich die Abwehrhaltung der Funktionäre galt. Allerdings war alles „Verhindern-Wollen“ letztlich erfolglos. Wie bei der Beat- und Rockmusik, wie beim Blues, wie bei der „Singebewegung“ haben die offiziellen Institutionen der DDR auch beim Jazz nach langem sinnlosen Kampf dagegen schließlich in der Form kapituliert, dass sie zu einer vereinnahmenden Umarmung Zuflucht nahmen, der man sich nur mit Mühe entziehen konnte: Es gab Preisverleihungen (bis zum Nationalpreis) an Jazzmusiker, gutdotierte Förderverträge, in steigendem Maße Genehmigungen für Reisen in den Westen und sogar bei der Generaldirektion des Komitees für Unterhaltungskunst eine verbandsartige „Sektion Jazz“. Aber das Herz der so lange gemaßregelten Musiker konnte man so nicht gewinnen. Als die DDR zusammenzubrechen begann, waren auch die Mitglieder der Sektion Jazz unter den ersten, die sich gegen die „Honeckerei“ aussprachen.
Dennoch: Ob unter schwierigen Bedingungen oder als „anerkannte“ Künstler, die Jazzmusiker der DDR haben ihren Weg gemacht. Sie haben – jedenfalls was ihre führenden Protagonisten angeht – eine gültige und vielfach sogar sehr eigenständige Musik kreiert, was ihnen Anerkennung auch über die DDR hinaus eingebracht hat. Mich macht es stolz, in bescheidener Weise in dieser oder jener Form bei der Durchsetzung ihres Wirkens beteiligt gewesen zu sein. Dass sie heute im vereinigten Deutschland zwar alle ideologischen Hemmnisse verloren haben, dafür aber (Parole „Jazz verkauft sich nicht, Jazz rechnet sich nicht“) neuen finanziellen Problemen gegenüberstehen – jedenfalls was die Mehrheit der Jazzer betrifft -, steht auf einem anderen Blatt.
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