aus telegraph #3 _ 1999
Tschetschenien ist auf dem Weg, zum russischen Kosovo zu werden. Erinnert die weitgehend ethnisch und rassistisch geprägte Stimmung und die Legitimation des Einmarsches mit dem Kampf gegen Terroristen und Banditen vor allem an die serbische Politik gegen die Unabhängigkeitsbewegung im Kosovo, so erscheint die Militärstrategie wie eine Kopie des Nato-Angriffs auf Jugoslawien. Erst werden die Stellungen der gegnerischen Truppen mit Luftangriffen geschwächt, dann kommen die Bodentruppen zum Einsatz. Einziger Unterschied: die russische Armee hat kein Ultimatum gestellt und versucht mit kämpfende Einheiten Tschetschenien zu besetzen. Der folgende Text entstammt weitgehend den Analysen des amerikanischen Konfliktforschungsinstitutes Stratfor´s Global Intelligence Center und hinterfragt die militärischen Voraussetzungen des russischen Angriffs. Die Einschätzung selbst ist bereits im September diesen Jahres getroffen wurden, einige Prognosen sind von der Realität bereits eingeholt.
Der politische Wille zu Krieg
Russland ist bereit, eine begrenzte Invasion in Tschetschenien zu beginnen und Moskau ist dabei, dieses Ziel auch umzusetzen. Putin, der Ministerpräsident Russlands hat inzwischen bereits angekündigt, die gesamte Republik zu besetzen. Die russische Armee hat nicht viel Zeit bis der Winter eintritt, sie muß sich beeilen, bis Ende November Nord- und Zentraltschetchenien einzunehmen und die Rebellen in die Berge im Süden abzudrängen. Momentan ist die politische Unterstützung für den Krieg groß in Russland, obwohl die internationale Gemeinschaft und einige Politiker gegen die Invasion plädieren. Die russischen Streitkräfte sind jedoch nicht ausreichend vorbereitet. So sind enorme materielle, personelle und finanzielle Verluste zu erwarten.
Die Bereitschaft einen Krieg gegen Tschetchenien zu beginnen, nahm in Moskau so stark zu, dass es vom Kreml und dem Verteidigungsministerium nicht länger ignoriert werden konnte. Die russische Bevölkerung verlangt Vergeltung für Terroranschläge. Tschetschenische Rebellen werden für die Anschläge auf Wohnhäuser in ganz Russland verantwortlich gemacht. Das Ausmaß der Empörung veranlaßte Mitte-Links-Parteien und Politiker dazu, sich mit an der Hexenjagd zu beteiligen. Und als ob dem nicht genug wäre, zeigte das russische Fernsehen diese Woche Videoaufnahmen von tschetschenischen Rebellen, die russische Kriegsgefangene während des ersten Tschetschenienkrieges verstümmelten.
So scheinen die Pläne für die Invasion kurz vor der Umsetzung zu stehen. Im Westen besteht eine Ablehnung gegen den Krieg, doch hat diese noch nicht einen kritischen Punkt erreicht, jedenfalls führte sie nicht zur Entsendung internationaler Beobachter nach Tschetschenien. Obwohl die russischen Medien den Krieg unterstützen, sind sie skeptisch über die Kapazitäten der russischen Armee. Sollte die Bereitschaft abnehmen, könnte das Verteidigungsministerium nicht mehr in der Lage sein, den harten Winter im Kampf gegen die Guerillas auszunutzen. Aufgrund der klimatischen Bedingungen sind die russischen Streitkräfte nicht in der Lage, eine Offensive über Dezember und Januar hindurch durchzuhalten. So könnte der zweite Tschetschenien-Krieg zu einem fürchterlichen Halt kommen, wenn die Russen nicht rechtzeitig mit einer Invasion von Bodentruppen beginnen.
Luftangriffe auf Tschetschenien
Rußlands Möglichkeit für eine erfolgreiche Invasion von Bodentruppen besteht aus ab jetzt 60 Tagen schreibt die Moskauer Tageszeitung Sewodnja im September diesen Jahres. Ob der Anfang Oktober begonnen Einmarsch rechtzeitig war, kann nicht eingeschätzt werden. Die Verantwortlichen im Kreml, dem Nationalen Sicherheitsrat , des Verteidigungs- und Innenministeriums haben mehr getan, als nur ein Klima für den Krieg zu schaffen. Sie haben aus unangenehmen Erfahrungen aus dem ersten Krieg gelernt und sich gegen Kritik von hochrangigen Militärs gewappnet.
Die Serie von Bombenangriffen auf Tschetchenien in der letzten Woche zeigte, dass die russischen Kommandeure vom Debakel von 1994-1996 gelernt haben. Dieses Mal sollen Luftstreitkräfte die Verstecke von Rebellen ausfindig machen, bevor die Bodentruppen einmarschieren. Dies ermöglicht der Luftwaffe Angriffe zu unterstützen bzw. Truppen zu evakuieren. So wird auch das Risiko von feindlichen Angriffen aus der Luft minimiert, die erwiesenermaßen die größte Bedrohung für russische Truppen im ersten Krieg waren. Mehr SU-34er werden verwendet, um den Bodentruppen Deckung von den modernsten russischen Waffen zu geben.
Die Zerstörung der tschetschenischen Infrastruktur war eine schlecht koordinierte, aber effektive Maßnahme. Mehr als 1.500 Einsätze wurden über Dagestan und Tschetschenien in den letzten zwei Wochen geflogen, mit einer starken Offensive über Tschetschenien am 23. September. Die Regierung definiert „militärische Ziele“ ungenau als Häuser, Brücken, Krankenhäuser, Fernsehstationen, Radiostationen und Radarsender.
Die Ziele werden aus zwei Gründen gewählt: um die Zivilisten von dem Territorium zu vertreiben und um zu verhindern, daß unliebsame Informationen aus Tschetschenien gelangen können. Die hohe Rate an zivilen Opfern im letzten Tschetschenienkrieg brachte die internationale Gemeinschaft -und Russen- gegen den Krieg auf. Indem jede Form von Kommunikation zwischen Tschetschenien und dem Rest der Welt unterbunden wird, kann Russland eine völlige Informationsblockade schaffen.
Die Invasion der Bodentruppen
Dies alles kann sich ändern, wenn russische Truppen auf tschetschenische Einheiten treffen. Erstens kann der knappe Zeitplan der russischen Invasion den Erfolg in Tschetschenien beeinträchtigen. Die Invasion muß innerhalb von 60 Tagen abgeschlossen sein, was die Kapazitäten der russischen Armee möglicherweise überfordert. Die institutionelle Unterstützung, die Zustimmung der Bevölkerung und die Moral innerhalb der Armee könnten den Krieg im In- und Ausland vermitteln. Diese Faktoren sind so zwingend, dass der Kreml und das Verteidigungsministerium so schnell als möglich einen Krieg beginnen wollen, den sie nicht verlieren können, aber auch nicht leicht gewinnen können.
Die russischen Strategen haben auch noch nicht ihre Erkenntnisse aus dem vorherigen Krieg in Tschetschenien in der Praxis getestet. Nimmt man Dagestan als Maßstab, dann haben die russischen Streitkräfte Probleme beim Befehlen und Kontrollieren von Einsätzen. Ein zentrales Problem war in Dagestan die Unterschiedlichkeit der Ausbildung innerhalb kombinierter Einheiten. Teilweise arbeiteten Luftlandetruppen eng zusammen mit regulärer Infanterie und Freiwilligen aus Dagestan. Der Zusammenbruch der Disziplin und die Unerfahrenheit gefährdeten die Luftlandetruppen in Kampfhandlungen.
Die Waffen und Waffensysteme der MI-8 und MI-24 Kampfhubschrauber sind technisch veraltet. Sie sind auch mehr als Luftabwehr geeignet und leicht zu zerstören. Die KA-50 Black Shark wäre ein besserer Kampfhubschrauber, aber Berichten zufolge sollen diese und andere Präzisionswaffen nicht eingesetzt werden. Die Rebellen, auf der anderen Seite werden veraltete Technologie zu ihrem Vorteil einsetzen, wie die ZU-32-2 mobilen Luftabwehr-Geschütze, Shilka ZSU-23/4 Luftabwehr- Kanonen, Stinger missiles und RPG-7 Granatwerfer. Diese Fähigkeiten werden die Flughöhe der Luftwaffe für die Unterstützung der Bodentruppen erhöhen, was diese für Überfälle aus dem Hinterhalt angreifbarer macht.
Die Planungen für die Bodenoffensive sind dieses Mal wesentlich besser gewesen. Aber die russische Armee hat nicht so viel gelernt, wie die Rebellen innerhalb der letzten fünf Jahre, durch das Führen eines Informationskrieges und das Veranlassen der Flucht der Zivilbevölkerung. Die Einheiten der Rebellen sammelten Erfahrungen durch die Auseinandersetzungen mit Dagestan. Nur wenige russische Kommandeure sind sich bewußt, daß dieser Krieg dem vorherigen nicht gleicht. Die Rebellen können sehr schnell ihre Taktik ändern und sind sehr mobil in der Kriegsführung. Russlands wesentliche Schwäche besteht in der organisatorischen Struktur der bewaffneten Einheiten. Dieses Problem können Planungen allein nicht lösen.
Russland unter Zeitdruck
Die Manöver waren bis zum jetzigen Zeitpunkt präventiv und werden Russland möglicherweise einen militärischen Sieg über Tschetschenien ermöglichen. Aber Russland ist nicht gut auf diesen Krieg vorbereitet und wird Schwierigkeiten haben, denn die politischen Motive haben das Wissen um die eigenen militärische Fähigkeiten völlig verdrängt. Wenn die russische Armee in den nächsten zwei Monaten einen Ring um Zentral-Tschetschenien schließt, wird sie es nicht leicht haben. Die falsche Zuversicht der Moskauer Politiker wird sich dann zeigen. Wenn die Medien den Erfolg der russischen Offensive, bis November 75 % des tschetschenischen Territoriums einzunehmen, vermelden, wird der Krieg ohne Kameras mit unverminderter Härte im Winter weitergehen.
Russland offenbart sein Ziel, Tschetchenien zu erobern- was immer es koste. Bis zum 20. Oktober konnte erst ein Drittel des tschetschenischen Territoriums von der russischen Armee erobert werden. Tschetschenien erwartet einen Kriegswinter.
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