Bislang haben alle drei Untersuchungsausschüsse massenhaft Belege zur Untermauerung der These vom Versagen, Verharmlosung, Inkompetenz und Vertuschung durch die Geheimdienste gefunden, aber keine Belege für die einer aktiven Unterstützung des NSU aus dem Sicherheitsapparat. Das Problem jedoch ist, dass inzwischen kaum jemand mehr ausschließen kann oder will, dass nicht doch noch Beweise für eine tiefergehende Verstrickung staatlicher Bediensteter in das Netzwerk des NSU auftauchen werden.
Von Heike Kleffner
aus telegraph #125|126
Ein Jahr nach der Selbstenttarnung des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU) sind über die Frage, wie und warum es einer neonazistischen Gruppe gelingen konnte, in den vergangenen zwölf Jahren ungehindert neun migrantische Gewerbetreibende und eine Polizistin zu ermorden, einen weiteren Polizisten lebensgefährlich zu verletzen, zwei Sprengstoffattentate mit über 20 Verletzten sowie mehr als ein Dutzend Banküberfälle zu verüben, zwar Geheimdienste und Ermittlungsbehörden kurzfristig in die Defensive geraten. Doch von einem gesellschaftlichen oder behördlichen Paradigmenwechsel kann keine Rede sein: Wurde vor dem 4. November 2011 neonazistischer Terror durch Geheimdienste und Strafverfolger komplett geleugnet, so wird er nun auf das mutmaßliche NSU-Kerntrio Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe reduziert. Vor allem aber: In der Konfrontation mit dem institutionell verankerten Rassismus in den Strafverfolgungsbehörden sind noch nicht einmal erste Schritte erkennbar. Vielmehr wird mit jedem neuen V-Mann Skandal und jeder neuen bekannt gewordenen Aktenvernichtung die dringend notwendige Auseinandersetzung mit Rassismus und dem Einfluss extrem rechter Lebenswelten in allen gesellschaftlichen Sphären weiter in den Hintergrund gedrängt.
Dabei kann das Staatsversagen im Komplex NSU, das die rassistische Mordserie erst ermöglicht hat, nicht erfasst werden, ohne den institutionellen Rassismus mit in den Blick zu nehmen, der es begünstigt hat. Doch längst ist das Versprechen einer umfassenden und vor allem schonungslosen Aufklärung, das Bundeskanzlerin Angel Merkel bei der zentralen Trauerfeier für die NSU-Opfer im Februar 2012 gab, den allzu bekannten behördlichen Routinen gewichen: Noch immer warten die NebenklagevertreterInnen der Angehörigen und Überlebenden des NSU-Terrors auf vollständige Akteneinsicht. Noch immer spricht Generalbundesanwalt Harald Range von einem „Trio“, wenn er vom Nationalsozialistischen Untergrund spricht, obwohl antifaschistische Initiativen über einhundert Helfer und Helferinnen im NSU-Netzwerk identifiziert haben. Und mit jedem neuen rassistisch motivierten Angriff wird deutlich, dass die Opfer-Täter-Umkehr, mit der die Angehörigen der NSU-Mordopfer in manchen Fällen von den Ermittlern über ein Jahrzehnt lang stigmatisiert und bis weit über alle den Ermittlungen angemessenen Grenzen hinaus gequält wurden, weiterhin zum Standardrepertoire der Ermittler nach politisch rechts oder rassistisch motivierten Angriffen gehören.
Das unaussprechliche Wort: Rassismus
Wie sehr Rassismus von Anfang an das polizeiliche Handeln im NSU-Komplex bestimmt(e), verdeutlicht ein Bericht der so genannten EG Tex beim Landeskriminalamt Thüringen, die im Jahr 1997 versuchte, die Serie von Bomben- und Briefbombenattrappen des zu diesem Zeitpunkt noch ganz offen mit der Kameradschaft Jena auftretenden späteren NSU-Kerntrios Mundlos, Zschäpe und Böhnhardt aufzuklären. Nachdem am 2. September 1997 spielende Kinder vor dem Stadttheater in Jena eine Kofferbombenattrappe mit aufgemaltem Hakenkreuz und 10 Gramm TNT gefunden hatten, befragte ein Beamter MitarbeiterInnen des Theaters und kam zu dem Schluss, dass es sich bei ihnen um „linke Intellektuelle“, bei den Besuchern um „Multikulturelle“ und bei einer Aufführung wenige Tage zuvor um laute Musik bis in die späten Abendstunden gehandelt habe, zu der „schwarzafrikanische Männer mit weißen Frauen getanzt“ hätten. Da überrascht es wenig, dass die Ermittlungen der EG Tex gegen das spätere NSU-Kerntrio und ein Dutzend weiterer Neonazis aus dem Thüringer Heimatschutz nach einem halben Dutzend Bombenattrappen und Briefbomben sowie einer zündfähigen Bombe in einem von portugiesischen Wanderarbeitern genutzten Haus nach §129a StGB schnell und ergebnislos wieder eingestellt wurden.
Mehr als 400.000 Blatt Papier und drei Dutzend Zeugen und Zeuginnen haben die 22 Abgeordneten des Bundestags-Untersuchungsausschusses zum Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) in den vergangenen neun Monaten gesichtet und gehört. Um Antworten auf die zentrale Fragestellung zu finden, wie es dem NSU gelingen konnte, ungehindert den neonazistischen Wahn der „White Supremacy“ – „der Vormacht der Weißen“ – durch die sehr reale Inszenierung eines imaginären „Rassekriegs“ auszuleben, hat der Bundestagsuntersuchungsausschuss zunächst die Arbeit und Zusammenarbeit der koordinierenden „Besonderen Aufbauorganisation (BAO) Bosporus“ beim Polizeipräsidium Nürnberg, der Ermittler vor Ort und des Bundeskriminalamtes (BKA) untersucht [1]. Knapp zusammen gefasst lautet die Antwort: Immer dann, wenn es um vermeintliche oder real existierende Netzwerke der Organisierten Kriminalität aus migrantischen Milieus, um Drogenhändlerringe, Waffenschmuggler und Geldwäscher, aber auch um PKK und „Türkische Hizbullah“ ging, klappte die Zusammenarbeit aller Beteiligten aus lokalen Mordkommissionen, BKA und Geheimdiensten hervorragend. Von Kommunikationsproblemen und Reibungsverlusten zwischen Polizei und Geheimdiensten, mit denen Bundesinnenminister Hans-Georg Friedrich (CSU) vor kurzem in der Talkshow bei Günther Jauch das Versagen von Polizei und Geheimdiensten im NSU-Komplex erklärte, kann hier wirklich keine Rede sein. Auch international verlief die Polizeiarbeit problemlos – BKA-Beamte konnten mit Hilfe türkischer Polizeibeamter unbegrenzt BewohnerInnen türkischer und kurdischer Herkunftsdörfer von NSU-Mordopfern vernehmen und unter Generalverdacht der Mitgliedschaft in einer imaginären, unbekannten, geheimen Organisationen stellen. Auch wenn es um die Täter-Opfer-Umkehr im engsten Sinn ging – nämlich die Ermordeten und ihre Angehörige im Nachhinein zu Mitgliedern krimineller, selbstverständlich ausschließlich migrantischer Verbrecherbanden zu erklären –, waren Phantasie und Akribie der Ermittler kaum Grenzen gesetzt. Der Blumenhändler Enver Simsek, der am 9. September 2000 in Nürnberg dem NSU-Terror als Erster zum Opfer fiel, wurde beispielsweise verdächtigt, einer bis heute unbekannten „Blumenmafia“ anzugehören oder aber mit seinen im Großhandel in Amsterdam gekauften Blumen gleich auch Drogen ins Land zu schmuggeln. Besonders tragisch: Unmittelbar nachdem der NSU den damals 39-jährigen Vater zweier Kinder ermordet hatte, warf der damalige bayerische Innenminister Günther Beckstein (CSU) behördenintern die Frage nach einem rassistischen Hintergrund der Tat auf. Doch statt dieser Spur nachzugehen, ließen sich die Ermittler von Anfang an von der Hypothese einer unbekannten kriminellen Organisation leiten, die ihrer Vorstellung zufolge aus einem migrantischen Milieu heraus agierte. Wahlweise, und je nach Biographie, Beruf oder Aufenthaltsstatus der neun ermordeten Männer, sollte es sich dabei eben um eine „Blumen“- oder „Dönermafia“, „Menschenschmugglerbanden“, die PKK oder die „Türkische Hizbullah“ handeln.
Ehefrauen, Eltern und andere Angehörige der Mordopfer wurden über Monate und Jahre der Täterschaft verdächtigt, ihre Telefonanschlüsse abgehört, ihre PKWs verwanzt, verdeckte Ermittler in ihrer Nähe platziert. Überzogene Dispokredite oder Geschäftsschulden wurden hier plötzlich zu „typisch“ migrantischen Eigenschaften deklariert. In Nürnberg und der Keupstraße betrieben verdeckte Ermittler eigens eine Dönerbude bzw. Ladengeschäfte, andernorts gaben sich verdeckte Ermittler als „Detektive“ und Journalisten aus, um das Umfeld der NSU-Opfer auszuhorchen. Die Tatsache, dass die unter Verdacht stehenden Communities keine brauchbaren Hinweise auf mögliche Täter lieferten, wurde dann mit der Existenz eines „milieutypischen Schweigekartells“ begründet. Und als nach den Morden in Kassel und Dortmund im April 2007 mehrere hundert Menschen aus den betroffenen Communities demonstrierten – und auf mögliche rechte Täter verwiesen – nahmen dies Medien und Ermittler allenfalls am Rand zur Kenntnis.
Erst im Frühjahr 2007 – nach nunmehr neun Morden und hunderten erfolglos abgearbeiteten „Spuren“ – gaben die Ermittler der BAO „Bosporus“ eine zweite so genannte operative Fallanalyse in Auftrag. Deren Ergebnis kam dem Profil des NSU, aber auch einer operativen Fallanalyse des Landeskriminalamtes Nordrhein-Westfalen zum Nagelbombenanschlag in der Kölner Keupstraße sehr nahe: Ein oder zwei Täter aus dem rechtsextremen Milieu, die aus „Türkenhass“ handeln und denen die Neonaziszene nicht effektiv genug sei, sollten für die Taten verantwortlich sein. Doch beim BKA und der Mehrheit der qua Tatort zuständigen Sonderkommissionen in den sieben Bundesländern wurde diese Analyse der bayerischen Profiler sofort massiv diskreditiert. Stattdessen suchten die Ermittler noch bis ins Jahr 2011 hinein weiter nach Spuren im Milieu der internationalen organisierten Kriminalität.
Die Akribie, mit der die Ermittler unter anderem familiäre Verhältnisse der NSU-Opfer und ihrer Angehörigen bis in die kleinste Verästelung hinein nachzeichneten und nachspürten, lässt sich bei der Bearbeitung der durchaus vorhandenen Spuren für eine mögliche Täterschaft von Neonazis und fanatischen Rassisten nicht erkennen: So blieben beispielsweise zwei unabhängig voneinander vom BKA und dem LKA Nordrhein-Westfalen erstellte Operative Fallanalysen zu den Hintergründen des Nagelbombenanschlags in der Keupstraße im Juni 2004 ohne erkennbaren Einfluss auf die Ermittlungen der „EG Sprengstoff“ beim Polizeipräsidium Köln: die Profiler des BKA waren zu dem Ergebnis gekommen, dass „das Tatmittel eine hohe Menschenverachtung ausdrücke. Sieht man diese in direktem Zusammenhang mit der Auswahl des Anschlagsortes, der Keupstraße als herausragendes Beispiel türkischer Kultur und Lebensart, so lässt dies einen ausgeprägten Hass auf die zum Zeitpunkt der Tat im Frisörsalon und auf der Straße aufhältigen Personen vermuten.“ Und die Profiler des LKA Nordrhein-Westfalen stellten schon im Juli 2004 fest: „Unwahrscheinlich: Bereicherungsmotiv und Racheakt. Am wahrscheinlichsten: Persönliches Motiv mit örtlichem Bezug in Kombination der Faktoren „Politisch motiviert (unorganisiert/fremden- bzw. türkenfeindlich)“ und „Machtausübung/Machtmotiv.“ Doch beim Polizeipräsidium gab es daraufhin eine schriftliche Anweisung, ein mögliches fremdenfeindliches Motiv explizit nicht in einem Pressetermin Ende Juli 2004 zu thematisieren. Und ganz auf dieser Linie suchte die „EG Sprengstoff“ die Täter über Jahre unter den Anwohnern der Keupstraße. Mit dem Ergebnis, „dass jeder jedem misstraute und die Opfer keine Solidarität erfuhren,“ erinnert sich Kurtlu Yurtseven, Sänger der Band Microphone Mafia und zum Zeitpunkt des Bombenanschlags Anwohner in der Keupstraße.
Gab es gar eindeutige Hinweise auf neonazistische Täter, wurden diese entweder lokal eingegrenzt. So z. B. als das Bundesamt für Verfassungsschutz ein Gutachten erstellte, in dem der Anschlag in Köln mit den tödlichen Nagelbombenanschlägen des Neonazi-Netzwerks Combat 18 in London 1999 verglichen wurde und man die mutmaßlichen Täter in Köln vermutete; oder wie in der zweiten Operativen Fallanalyse der Bayerischen Profiler 2007 in Nürnberg, wo lediglich als mögliche Täter Neonazis in Erwägung gezogen wurden.
Geheimdienste: Der tödliche Mix aus Ignoranz und Inkompetenz
Seit dem 4. November 2011, als die Öffentlichkeit von der Existenz des rechtsterroristischen Trios „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) erfuhr, ist die öffentliche Meinung zweigeteilt: Die einen gehen davon aus, dass Ignoranz, Inkompetenz, Verharmlosung, Vertuschung und Versagen seit den frühen 1990er Jahren den Umgang von Polizei und Geheimdiensten mit extrem rechter Gewalt entscheidend prägen. Diese fatale Mischung habe auch die Entstehung des NSU und dessen Gewalttaten ermöglicht. Die anderen hingegen sind mehr oder weniger fest davon überzeugt, dass der NSU ohne Beihilfe oder Unterstützung aus dem Polizeiapparat oder den Geheimdiensten, oder aber zumindest einzelner Vertreter staatlicher Behörden, niemals so lange hätte morden können.
Bislang haben alle drei Untersuchungsausschüsse massenhaft Belege zur Untermauerung der These von Versagen, Verharmlosung, Inkompetenz und Vertuschung durch die Geheimdienste gefunden, aber keine Belege für die einer aktiven Unterstützung des NSU aus dem Sicherheitsapparat.
Das Problem jedoch ist, dass inzwischen kaum jemand mehr ausschließen kann oder will, dass nicht doch noch Beweise für eine tiefer gehende Verstrickung staatlicher Bediensteter in das Netzwerk des NSU auftauchen werden. Die Aussage des Ausschussvorsitzenden Sebastian Edathy (SPD) nach der Akteneinsichtnahme der Obleute beim Bundesamt für Verfassungsschutz am 4. Juli 2012 in Berlin-Treptow, „Keiner der acht geführten V-Leute ist einer der Beschuldigten“, schränkte beispielsweise der Grünen-Obmann Wolfgang Wieland ein. Er könne keine „vollständige Entwarnung“ geben, so Wieland. Geklärt werden müsse unter anderem, ob der Verfassungsschutz möglicherweise Quellen im Umfeld der NSU geführt habe, die nie in Akten dokumentiert worden seien [2].
Für diejenigen, die davon ausgehen, dass wie in vielen anderen Fällen rechter Gewalt auch die NSU-Morde durch die Ignoranz, Inkompetenz und die Verharmlosung von militanten neonazistischen Strukturen seitens der Strafverfolger und Geheimdienste ermöglicht wurden – beispielsweise in Bezug auf das militante Neonazi-Netzwerk „Blood & Honour“, in dem viele NSU-Unterstützer aktiv waren – mangelt es schon jetzt indes nicht an einem Übermaß an Beispielen, die im Bundestagsuntersuchungsausschuss zutage gefördert wurden.
Besonders eklatant ist das System der Verharmlosung und Vertuschung in den Geheimdiensten bei der Rückschau auf die Phase der Konstituierung neonazistischer Terrorzellen ab Mitte der 1990er Jahre. „In Deutschland gibt es derzeit keine rechtsterroristischen Organisationen“ lautete der mantraartig wiederholte Standardsatz in den Jahresberichten des Bundesamtes für Verfassungsschutz seit 1995. Es mangele an Strategien, Führungspersonen und finanziellen Mitteln. Auch fehlten die Unterstützerszene und die logistischen Voraussetzungen. Für diese komplett falsche Analyse der Geheimdienste gibt es erkennbar zwei eng miteinander verknüpfte Ursachen:
Eine davon hat der zurückgetretene Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Heinz Fromm, bei seiner Vernehmung im Bundestagsuntersuchungsausschuss benannt. Zwar hatte das Bundesamt für Verfassungsschutz im September 2000 auf einer Sitzung der Bund-Länder übergreifenden „Informationsgruppe zur Beobachtung und Bekämpfung rechtsextremistischer/-terroristischer und fremdenfeindlicher Gewaltakte“ (IGR) darauf gedrungen, die „Ansätze für das Entstehen eines Rechtsterrorismus“ auch als solche zu benennen. Dafür hätten unter anderem die zahlreichen Aufrufe zur Bildung einer neonazistischen „Bewegung in Waffen“ und entsprechende Schusswaffen-, Rohrbomben- und Sprengstofffunde gesprochen. Doch sowohl die Polizeibehörden der Länder als auch die Generalbundesanwaltschaft hätten sich mit Verweis „auf die Tatbestandsmerkmale des Paragraphen 129a des Strafgesetzbuches“ gegen „eine Ausweitung des Terrorismusbegriffs“ gesträubt, so Fromm am 5. Juli 2012 vor dem Bundestags-Untersuchungsausschuss.
Im Klartext: Man wollte sich offensichtlich nicht von den liebgewonnenen und altbekannten Feindbildern eines Terrors von Links gegen staatliche Repräsentanten und Vertreter der Eliten verabschieden. Und zugleich wollte man offensichtlich die neuen Bundesländer vor einem Imageverlust als „gefährliche Zonen“ bewahren. Ein Jahr später kam ohnehin eine Neuausrichtung der Geheimdienstarbeit nach den Anschlägen des 11. September 2001 in den USA hinzu.
So konnten unter den Augen von Geheimdiensten und Polizei regionale und überregionale rechte Terrorstrukturen entstehen, die gesellschaftliche Minderheiten und die demokratische Verfasstheit des Staates zu ihren Hauptfeinden erklärten und diesem Weltbild „Taten statt Worte“ folgen ließen. Davon jedoch schweigen die Verfassungsschutzberichte: Für die Jahre 2000 bis 2011 finden sich dort die immer gleichen Dementis zur Existenz von rechtsterroristischen Strukturen. Und wenn es denn einmal zu strafrechtlichen Ermittlungen kam, wurden die gut organisierten Neonazi-Strukturen allenfalls mit dem Vorwurf der Bildung einer „kriminellen Vereinigung“ nach §129 StGB verfolgt – wie etwa im Fall der „Skinheads Sächsische Schweiz“ oder des „Sturms 34“ in Sachsen.
Eine zweite Ursache lag mit Sicherheit darin, dass die Geheimdienste und auch die Staatsschutzabteilungen der Polizeibehörden die Generation von Neonazis, die in den Jahren der Pogrome von Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen politisiert und sozialisiert wurden, schlichtweg unterschätzten und entpolitisierten. Diese Generation des bedingungslosen Rassekriegs, deren zentrale Erfahrung darin bestand, dass sich ihnen niemand in den Weg stellte und sie kaum mit Strafverfolgung rechnen mussten, wenn sie schwerste Straftaten gegen Flüchtlinge und MigrantInnen verübten, zeichnet sich durch ans Wahnhafte grenzende Omnipotenzvorstellungen aus. Der harte Kern dieser Nazi-Generation – rund 500 Männer und Frauen vor allem der 1970er Geburtsjahrgänge – sammelte sich ab Mitte der 1990er Jahre in der deutschen Sektion des internationalen Neonazinetzwerks „Blood & Honour“ und deren bewaffneter Struktur „Combat 18“. Als die Polizei am 26. Januar 1998 die Wohnungen und Garagen von Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe durchsuchte, fanden die Beamten auch die Ausgabe Nr. 2 des „Blood & Honour“ Magazins aus dem Jahr 1996 – eine der vielen damals in der Neonaziszene kursierenden Blaupausen für die ideologische, aber auch strategische Ausrichtung des NSU. Da heißt es in einem Artikel unter der Überschrift „Politik“ u. a. „die alten Formen des politischen Aktivismus wie der Weg über Wahlen in das Parlament, das medienwirksame Auftreten von fahnenschwenkenden Parteien oder das auf legaler Basis angestrebte Kaderprinzip sind überholt …“ Und weiter: „Jeder ist dazu aufgerufen, etwas zu tun. Leaderless Resistance ist die Devise.“ – also das Prinzip der führerlosen, klandestinen, terroristischen Kleingruppen. Dann folgt das Zitat eines Ku-Klux-Klan-Anführers aus den USA: „Die Lösung, die einzige Lösung ist die Rückkehr zu den Quellen zur weißen Revolution durch eine kleine, aber entschlossene Gruppe.“ Es ist fast überflüssig, an dieser Stelle zu erwähnen, dass dieses Material zusammen mit einer umfangreichen Kontakt- und Adressliste von Uwe Böhnhardt knapp 14 Jahre unausgewertet in den Schränken des LKA Thüringen verstaubte. Wichtig ist in diesem Zusammenhang sich auch vor Augen zu führen, dass davon auszugehen ist, dass es neben dem NSU-Kerntrio und seinem UnterstützerInnen-Netzwerk aus „Blood & Honour“-Aktivisten aus Sachsen und Thüringen auch andere „Blood & Honour“-Aktivisten mit einem an das Leitbild der SS angelehnten Selbstverständnis vom „politischen Soldaten“ gibt, die die Option bewaffneter Aktionen umsetzen wollten. Ende der 1990er Jahre ist es dann die deutsche Fassung des Combat 18 Magazins „Stormer“ – „Stürmer“ –, die die Marschrichtung vorgibt für gewaltsame Aktionen gegen „ausländische Kriminelle“: „Der Vorteil wäre, dass niemand darum heulen würde, wenn es ab und an mal einen Zuhälterkanaken oder Dealer treffen würde. Auch der Verfolgungsdruck durch ZOG wäre nicht so groß.“
Das V-Leute System
Inzwischen lässt sich zumindest für den Zeitraum, den die parlamentarischen Untersuchungsausschüsse im Bundestag sowie den Landtagen von Thüringen, Sachsen und Bayern untersuchten, also von 1992 bis 2011, zweifelsfrei sagen, dass es wohl kaum eine neonazistische Gruppe, Kameradschaft, Organisation oder Partei gegeben hat, in der nicht gleich mehrere V-Leute diversen Geheimdiensten oder auch Landeskriminalämtern Bericht erstatteten. Diejenigen Kritiker, die das System der V-Leute schon lange als staatliche Alimentierung neonazistischer Strukturen bezeichnen, können sich bestätigt sehen. Schon im März 2012 zog das Gutachten der „Schäfer-Kommission“ zum Verhalten der Thüringer Behörden und Staatsanwaltschaften bei der Verfolgung des „Zwickauer Trios” eine erste, harsche Bilanz über das Versagen von Verfassungsschutz und Polizei in Thüringen für die Jahre 1996 bis 2003 – jener Zeit also, in der sich der „Nationalsozialistische Untergrund“ konstituiert hat [3]. Darin wurde auch deutlich, dass in den Jahren 1999 bis 2001 den Inlandsgeheimdiensten in Thüringen, Sachsen und Brandenburg sowie dem Bundesamt für Verfassungsschutz und dem Militärischen Abschirmdienst (MAD) Hinweise auf Waffenbeschaffungen bzw. auf einen ersten Überfall und auf Aktionen des untergetauchten Trios vorlagen – für die mindestens zehn Jahre Haft drohten – ohne dass diese Informationen jedoch zu angemessenen Maßnahmen geführt hätten.
Hinzu kam wohl in mehr als nur einem Fall eine auffällige Distanzlosigkeit und wechselseitige Abhängigkeit von V-Mann-Führern und Informanten sowie ein verblüffendes Ausmaß an Inkompetenz bei der Bewertung der gesammelten Informationen. Mehrere 1.000 Seiten umfassen beispielsweise die Akten der „Operation Rennsteig“. Minutiös sind hier die Teilnehmer und die Tagesordnungspunkte von wöchentlichen Stammtischen des Thüringer Heimatschutzes (THS) und anderer Neonaziorganisationen ebenso aufgelistet wie zahllose Waffenfunde und Gewaltaktionen. Doch als sich das NSU-Kerntrio, das jahrelang zur Führungsspitze des THS gehörte, im Februar 1998 der Festnahme entzog und als in dessen Garagen knapp 1,4 Kilogramm TNT gefunden wurden, hielten Fahnder wie Geheimdienstler die drei Neonazis gleichermaßen für ein isoliertes Grüppchen ohne Rückhalt in den eigenen Strukturen.
Viele offene Fragen
Noch immer ist unklar, wie eng das Netz staatlicher Informanten um den NSU und dessen aus Dutzenden Frauen und Männern der neonazistischen Szene in Ost- und Westdeutschland bestehenden Unterstützernetzwerks tatsächlich war. Ob darüber jemals Klarheit erzielt werden wird, ist derzeit völlig ungewiss.
JournalistInnen, die sich mit der oben schon erwähnten Ende Januar 1998 bei Uwe Mundlos beschlagnahmten Adress- und Kontaktliste beschäftigt haben, kommen zu dem Ergebnis, dass hier rund drei Dutzend langjährige „Blood & Honour“- und Anti-Antifa-Aktivisten aus Ost- und Süddeutschland mit Telefon- und Handynummern verzeichnet sind; viele von ihnen finden sich mittlerweile als Beschuldigte im Verfahren des Generalbundesanwalts wieder und drei von ihnen waren zum Zeitpunkt des Abtauchens des NSU-Kerntrios auch V-Leute von Inlandsgeheimdiensten; ein vierter wurde ab dem Jahr 2000 V-Mann des LKA Berlin.
Denn die versuchte Vernichtung von sieben, mittlerweile teilweise wieder rekonstruierten Akten am 11. November 2011 im Bundesamt für Verfassungsschutz, die Angaben über V-Leute bei der „Operation Rennsteig“ zur Gewinnung von „Quellen“ in der thüringischen Neonaziszene enthielten, ist offenbar nicht die einzige Vertuschungsaktion. So ist mittlerweile bekannt, dass im Bundesamt bis Ende April 2012 noch weitere Akten von und über Neonazis gelöscht und vernichtet wurden, die u. a. Bezüge zum NSU-Spektrum aufwiesen. Nach wie vor werden in Thüringen die Akten der polizeilichen Sonderkommission gesucht, die die Fahndung nach dem Trio im Jahr 2000 führte. Und erst im Juli diesen Jahres tauchten in Sachsen knapp 100 Seiten mit Abhörprotokollen unter anderem eines Neonazis auf, der zeitweise im Verdacht stand, dem NSU möglicherweise Waffen beschafft zu haben [4].
Die Frage, wie und warum es zu den Aktenvernichtungen kam und wer dafür letztendlich die Verantwortung trägt, wird den Bundestagsuntersuchungsausschuss auch nach der Sommerpause weiter beschäftigen. Jeglichen Versuchen, sich dabei auf „datenschutzrechtliche Löschungsverpflichtungen“ des Amtes zu beziehen, hat der Bundesdatenschutzbeauftragte Peter Schaar jedenfalls in seiner Stellungnahme vom 16. Juli 2012 eine klare Absage erteilt. Schaar verwies darauf, „dass es keine gesetzlichen Löschungs- und Prüffristen für Papierakten“ gebe. Paragraph 13 des Bundesverfassungsschutzgesetzes sehe „für personenbezogene Daten in Papierakten lediglich eine Sperrung, nicht aber eine Vernichtung oder Löschung vor. [5]“ Zwar ist nach Protesten der Parlamentarier seit Mitte Juli sowohl in Thüringen als auch in Sachsen und auch vom MAD zugesichert worden, keine Akten in Bezug auf Rechtsextremismus mehr zu löschen. Doch die entscheidende Frage, wer von den Vertuschungsversuchen profitieren sollte und wem sie genützt haben, bleibt derzeit weiter offen.
Interessanterweise sind es vor allem – oder vielmehr lediglich – die Behördenleitungen der Inlandsgeheimdienste, die bislang Konsequenzen aus der „schweren Niederlage der Sicherheitsbehörden“ (Heinz Fromm) gezogen haben. Heinz Fromm, der langjährige Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz sowie die Präsidenten des thüringischen wie des sächsischen Landesamtes, Thomas Sippel und Reinhard Boos, traten im Juli im Zuge der NSU-Affäre zurück. Fromm zog die Konsequenzen aus der Vernichtung von V-Mann Akten am 11. November 2011 – also just in der Woche der NSU-Selbstenttarnung – im Referat Rechtsextremismus des Bundesamtes. Diese „Operation Konfetti“ war von den Beteiligten ein knappes halbes Jahr vertuscht worden. Reinhard Boos wiederum – von 1999 bis 2002 und ab 2007 erneut Amtschef im sächsischen Verfassungsschutz – bat um Versetzung in den Ruhestand, als in seiner Behörde plötzlich schon längst vernichtet geglaubte Akten aus einer G-10-Maßnahme aus dem Jahr 2000 u. a. gegen einen frühen Unterstützer des NSU-Kerntrios, Jan. W. aus Chemnitz, wieder auftauchten. Auch Sachsen-Anhalts langjähriger Geheimdienstchef Volker Limburg begründete seinen Rücktritt Mitte September 2012 mit einem Aktenfund. In seiner Behörde war ein Protokoll einer Befragung von Uwe Mundlos während dessen Grundwehrdienstes im Jahr 1995 durch den Militärischen Abschirmdienst (MAD) wieder aufgetaucht, das der MAD auch an das Bundesamt sowie die Landesämter für Verfassungsschutz in Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt weitergeleitet hatte. Eher unbeachtet von der Öffentlichkeit gab auch Mathilde Koller, Leiterin des Landesamtes für Verfassungsschutz in Nordrhein-Westfalen, im Juli ihr Amt auf.
„In den Details sehen wir nur die Spitze des Eisbergs“
Der Versuch, in diesen Tagen eine Zwischenbilanz der parlamentarischen Aufklärungsbemühungen zu ziehen, kann notwendigerweise nur vorläufig ausfallen. Erst Mitte August hatte der Thüringische Innenminister Jörg Geibert (CDU) eingeräumt, dass in den Aktenablagen der Thüringer Polizeidienststellen noch mehr als 150 Ordner mit Referenzen zu Neonazis aus dem Umfeld und dem direkten Unterstützernetzwerk des NSU gefunden wurden. „In den Details sehen wir nur die Spitze des Eisberges [6]“ , betonte daraufhin Jörg Kellner, CDU-Obmann im Thüringischen Untersuchungsausschuss. Sein Resümee hat auch für alle anderen parlamentarischen Ausschüsse Gültigkeit. Zumal sich alle parlamentarischen Aufklärungsbemühungen sich im Spannungsfeld laufender Ermittlungen durch das Bundeskriminalamt (BKA) und der Generalbundesanwaltschaft bewegen, die die Anklage gegen das mutmaßliche NSU-Mitglied Beate Zschäpe sowie mutmaßliche NSU-Unterstützer vorbereitet – d. h. die Arbeit der Ausschüsse soll die Ermittlungen nicht behindern.
Der thüringische Untersuchungsausschuss versucht derzeit noch immer, einen Überblick über die offensichtlich seit Mitte der 1990er Jahre kontinuierlich chaotischen Verhältnisse im Landesamt für Verfassungsschutz zu gewinnen. In Sachsen wird weiter um die Frage gerungen, wie tief sächsische Polizeibeamte und Verfassungsschützer bei der Fahndung und Observation im unmittelbaren NSU-Umfeld verstrickt waren. Noch nicht einmal ansatzweise wurde dabei die Frage berührt, warum der Kern des NSU zehn Jahre lang unentdeckt in der Kleinstadt Zwickau leben konnte – trotz regelmäßiger Besuche von sächsischen Neonazis aus dem Unterstützerkreis.
Der Bundestagsuntersuchungsausschuss schließlich hatte sich in seinen bislang mehr als 30 Sitzungen zunächst insbesondere auf die polizeilichen Ermittlungen konzentriert und befragt nun bis Jahresende auch die politisch Verantwortlichen wie den ehemaligen Bundesinnenminister und heutigen Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU). Bislang hat sich auch abgezeichnet, dass unter anderen massives Kompetenzgerangel zwischen den Ländern und dem BKA um die Frage der Ermittlungsführung wirksame Ermittlungen in der Ceska-Mordserie behinderten. Und trotz intensiver Zeugenvernehmungen zu den einzelnen Morden sind noch immer viele Fragen unbeantwortet – beispielsweise zu den Morden in Kassel und Heilbronn. Erst jüngst wurde bekannt, dass zwei baden-württembergische Polizeibeamte, die zudem die ermordete Polizistin kannten, zeitweise Mitglieder der „European White Knights of the Ku-Klux-Klan“ waren. Ob es gar Verbindungen zwischen dem deutschen Ableger des Ku-Klux-Klan und Unterstützern des NSU gibt, ist offen [7].
Offensichtlich geworden ist im Bundestagsuntersuchungsausschuss auch, dass das Arbeitsprinzip der Geheimdienste – Quellenschutz vor Strafverfolgung – in mehr als einem Fall sowohl die Fahndung nach dem Trio als auch konkrete Tatortermittlungen bei den NSU-Morden konterkarierte. Ein besonders eklatantes Beispiel hierfür ist sicherlich das Verhalten des Landesamtes für Verfassungsschutz Hessen. Dessen Beamter Andreas T. geriet bei den Ermittlungen zum Mord an Halit Yozgat am 6. April 2007 zeitweise unter Tatverdacht, denn er war zur Tatzeit am Tatort, einem Internetcafé in der Kasseler Nordstadt. Wie der hessische Verfassungsschutz die Arbeit der polizeilichen Ermittler behinderte, beschrieb der Zeuge Gerald Hoffmann vom Nordhessischen Polizeipräsidium am 5. Juli 2012 vor dem Untersuchungsausschuss: Mit dem Verweis darauf, „da müsse man ja nur eine Leiche neben einen Verfassungsschutzbeamten legen, um das System auszuhebeln“ und dem immer wieder als Argument präsenten „Quellenschutz“ lehnte die Behörde monatelang eine polizeiliche Vernehmung von V-Leuten ab, mit denen Andreas T. am Tag der Tat Kontakt hatte.
Ungewisse Konsequenzen
So ungewiss, wie der Ausgang der strafrechtlichen Aufarbeitung der NSU-Mordserie und Bankraube derzeit noch ist, sind auch die praktischen Konsequenzen aus der anhaltenden Debatte um den Umbau der Sicherheitsarchitektur: Aus Kreisen der Regierungsfraktionen wird die Forderung nach einer Zentralisierung der Geheimdienste – mit „mehr Transparenz“ – sowie nach erweiterten Kompetenzen für das BKA laut. In der Praxis bedeutet das schon jetzt, dass das Bundesamt für Verfassungsschutz mehr Geld, mehr Personalstellen und mehr Kompetenzen als vor dem Bekanntwerden des NSU-Komplexes erhalten hat – und dies, ohne dass in irgendeiner Form auch nur ansatzweise deutlich geworden ist, dass und wie beim Bundesamt Konsequenzen aus dem eigenen Versagen gezogen wurden. Dazu passt auch, dass sich die Bundesregierung – so wie ihre Vorgängerinnen – weiterhin weigert, die tödliche Dimension des Rechtsextremismus in ihrem ganzen Ausmaß anzuerkennen. Von den mindestens 150 Todesopfern rechter und rassistisch motivierter Gewalt seit 1990 sind lediglich 63 staatlich anerkannt [8].
Eines jedoch zeichnet sich schon jetzt ab: Die Auseinandersetzung mit Rassismus in den Strafverfolgungsbehörden und Geheimdiensten und entsprechenden praktischen Konsequenzen – wie sie etwa die Stephen Lawrence Commission in Großbritannien leistete, die nach dem Mord an einem afrobritischen Jugendlichen explizit institutionellen Rassismus in der britischen Polizei untersuchte und auch konkrete Handlungsempfehlungen aussprach, ist in den Untersuchungsausschüssen bislang allenfalls ein Randaspekt.
Und auch das „Gemeinsame Abwehrzentrum gegen Rechtsextremismus“ (GAR) , das schon im Dezember 2011 als eine erste Konsequenz aus dem Versagen von Strafverfolgungsbehörden und Geheimdiensten eingerichtet wurde, hat bislang nichts dazu beigetragen, dass „dieser unerträgliche Zustand, dass wir täglich zwei bis drei rechte Gewalttaten in Deutschland haben“ (BKA-Präsident Jörg Ziercke) sich verändert hätte. Im Gegenteil: Das Selbstbewusstsein und die Militanz der Neonazibewegung sind ungebrochen.
Eine tiefgreifende Verunsicherung unter Migrantinnen und Migranten
Unabhängig davon, wie die strafprozessuale und parlamentarische Aufarbeitung der Mordtaten letztendlich ausgeht, wird schon jetzt eine gravierende gesellschaftliche Konsequenz sichtbar: eine tiefgreifende Verunsicherung unter Migrantinnen und Migranten sowie all denjenigen, denen im Weltbild von Neonazis und Rassisten das Lebensrecht abgesprochen wird
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„Nach dem Pogrom in Rostock im August 1992 und den Brandanschlägen von Mölln und Solingen hat meine Generation türkischer und kurdischer Migranten zum ersten Mal das Vertrauen darin verloren, dass das Grundgesetz und die Organe des Staates uns und andere Migranten und Flüchtlinge genauso schützen wie die Mehrheitsbevölkerung“, sagt beispielsweise Ercan Yasaroglu, Sozialarbeiter aus dem Berliner Bezirk Kreuzberg. Dieser Verlust eines „Gefühls von Zugehörigkeit“ sei in den 1990er Jahren jedoch durch die gesellschaftlichen Reaktionen auf die rassistische Gewalt – von Lichterketten bis hin zu selbstorganisierten Schutzgruppen für Flüchtlingsheime – zumindest ansatzweise aufgewogen worden. Doch die „Empörung ganz normaler Leute“ ist es, die Ercan Yasaroglu nun angesichts der NSU-Mordserie vermisst. „Ich habe eigentlich Reaktionen wie in den 1990er Jahren erwartet, als Hunderttausende zu Kundgebungen gegen Rassismus kamen“, sagt der 52-jährige. „Stattdessen gibt es nur dieses Schweigen.“ Ob sich das durch einen bundesweiten Aktionstag ändern wird, zu dem ein breites Bündnis linker und antifaschistischer Initiativen und Gruppen aufgerufen hat, kann bezweifelt werden.
Bei den Jugendlichen, mit denen der Sozialarbeiter täglich konfrontiert ist, haben das Schweigen und bislang verfügbare Informationen über die Mordserie das Misstrauen und die ohnehin vorhandenen Ausgrenzungserfahrungen jedenfalls erheblich verstärkt. „Schließlich können ihre Eltern, die die Welle rassistischer Gewalt in den frühen 1990er Jahren als knapp 20-jährige sehr bewusst miterlebt haben, ihnen nicht guten Gewissens sagen, dass ihre Ängste unberechtigt seien“, so Yasaroglu. Ihm – wie auch vielen anderen Migrantinnen und Migranten – ist dadurch erschreckend deutlich geworden, wie sehr sich die Gesellschaft in den letzten 20 Jahren verändert und rechte und an rassistische Gewalt gewöhnt hat.
1 Dies betrifft die Tatorte der NSU-Mordserie in Nürnberg, München, Rostock, Hamburg, Dortmund, Kassel sowie die Bombenanschläge in Köln
2 Vgl. Zwickauer Trio arbeitete nicht für den Verfassungsschutz, in: Spiegel Online, www.spiegel.de/politik/deutschland/nsu-zwickauerterrorzelle-arbeitete-nicht-fuer-verfassungsschutz-a-842645.html
3 Vgl. Gerhard Schäfer/Volkhard Wache/Gerhard Meiborg: Gutachten zum Verhalten der Thüringer Behörden und Staatsanwaltschaften bei der Verfolgung des „Zwickauer Trios“, es fi ndet sich auf dem Watchblog des apabiz: http://nsu-watch.apabiz.de/material
4 Vgl. Matthias Gebauer: Innenministerium ordnete Vernichtung weiterer Akten an, in: Spiegel Online, 19. 7. 2012; Christiane Kohl/Tanjev Schultz: SMS-Nachrichten im Büroschrank, in: „Süddeutsche Zeitung“, 13. 7. 2012
5 Vgl. Peter Schaar: Aktenvernichtung aus Datenschutzgründen?, Pressemitteilung vom 16. 7. 2012, www.bfdi.bund.de/bfdi_forum/showthread.php?t=3420
6 Vgl. NSU-Aufklärung: Nur die Spitze des Eisberges ist in Sicht, in: Thüringische Landeszeitung, 15. 8. 2012
7 Vgl. Sebastian Erb/Wolf Schmidt: Viele Spuren führen zu Thomas R., in: die tageszeitung (taz), 15. 8. 2012; dies.: NSU-Spur zum Ku-Klux-Klan, in: taz, 16. 8. 2012
8 Vgl. die Übersicht auf www.zeit.de/themen/gesellschaft/todesopfer-rechter-gewalt/index
Heike Kleffner ist Journalistin und beschäftigt sich seit den frühen 1990er Jahren mit der extremen Rechten in Deutschland. Sie ist Referentin im NSU-Bundestagsausschuss.
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