Protestsongs

Das traditionelle Protestlied ist noch nicht tot. Es lebt weiter als Cover Version, als Hommage, als Persiflage. Das moderne Protestlied dagegen verzichtet auf Belehrungen, auf pathetisch-erhabene Texte. Es entsteht, weil es an der Zeit ist, dass es entsteht.

Von Jenz Steiner
aus telegraph #125|126

Nein! Das traditionelle Protestlied ist noch nicht tot. Noch nicht ganz. Es lebt weiter im kollektiven Bewusstsein – als Coverversion, als Hommage, als Persiflage auf Musik- und Videoportalen wie Soundcloud und Youtube oder zumindest als Oldie im privaten Dudelfunk. Das Protestlied hat an Pathos verloren und an Originalität gewonnen. Es ist schnelllebiger geworden und glatter. Es hat sich angepasst an die Zeiten asymmetrischer Kriege, an eine globalisierte Netzwelt, an die verwaschenen Grenzen zwischen oben und unten, gut und böse, zwischen links und rechts, richtig und falsch. Das Protestlied hat gelernt, sich vereinnahmen und gewinnbringend ausschlachten zu lassen – von der Werbung, von Verlagen, von Fundraising Kampagnen großer Hilfsorganisationen, aber auch im Wahlkampf und auf Demonstrationen.

Kriegsherren und die kritische Masse

Will man diese Entwicklung verstehen, muss man ein halbes Jahrhundert zurückblicken. Die Welt stand mitten im Kalten Krieg, als Bob Dylan 1962 mit „Masters of War“ das Lied „Nottamun Town“ der amerikanischen Folk-Sängerin Jean Ritchie adaptierte. Die USA waren kurz davor, mit eigenen Truppen in den Vietnamkrieg einzugreifen. „Masters of War“ wurde Steilvorlage eines Protestliedes. „Kommt, ihr Herren des Krieges, Ihr, die ihr die Gewehre, Kanonen und Kriegsflugzeuge baut.“, sang Dylan und meinte die Anderen. Er adressierte die, die sich noch im selben Jahrzehnt auflehnen würden gegen die Kriegstreiber, die sich „hinter den Schreibtischen verstecken“ und erreichte die Menschen, die gegen sie auf die Straße gingen. Doch die Geschichte des couragierten Liedes hat auch ihre schattigen Seiten. Die Sängerin Jean Ritchie, von der die Melodie stammt, wurde von Dylans Anwälten mit einer einmaligen Zahlung von 5.000 US-Dollar abserviert. So wie Ritchies „Nottamun Town“ in Vergessenheit geraten war, hätte es in diesem Jahrhundert auch leicht Dylans „Masters of War“ ergehen können, hätte nicht die Gruppe Pearl Jam das Lied 2004 als Hommage an Dylan aufgegriffen und ihre Coverversion regelmäßig als Konzertzugabe gespielt. Vielleicht war das die Rettung. Sucht man heute auf dem Online-Musikportal Soundcloud nach „Masters of War“, findet man knapp 500 amateurhafte bis semiprofessionelle Coverversionen und Neuinterpretationen dieses Urtyps eines Protestsongs.

Pop und Protest gehen getrennte Wege

Die irische Sängerin Sinéad O’Connor wagte in den frühen Neunzigern einen geschickten Kunstgriff. Aus „Masters of War“ machte sie „War“, ein Statusbericht der Gesellschaft, der schnell als Kriegserklärung aufgefasst wurde. „Bis es in keinem Land der Welt mehr Menschen erster und zweiter Klasse gibt, solange die Hautfarbe eines Menschen eine größere Bedeutung hat als die Farbe seiner Augen, werde ich sagen müssen: ,Krieg‘.“ Bei ihrem Auftritt im Rahmen eines Open Airs anlässlich des dreißigsten Bühnenjubiläums Dylans im New Yorker Madison Square Garden musste sie dafür im Oktober 1992 mehrere Minuten anhaltende Buh-Rufe der amerikanischen Dylan-Fans über sich ergehen lassen. Die Zeiten hatten sich geändert. Pop-Kultur und Protestkultur waren seit gut zwei Jahrzehnten wieder zwei paar Schuhe.

Subtil und poppig statt pathetisch

Seine Hochphase hatte das Protestlied in der Zeit des Vietnamkriegs, einem Krieg in Südostasien mit drei Millionen Toten und vier Millionen Schwerverletzten, zu dem vielen US-Amerikanern einfach der Bezug fehlte. Der Krieg spaltete die Nation. Jefferson Airplane, Miles Davis, Phil Ochs – nahezu alle Musikerinnen und Musiker in den USA bezogen in diesem Jahrzehnt in ihren Liedern Stellung und machten den Vietnam-Krieg zum Rock’n’Roll Krieg. Das brachte Aufmerksamkeit, steigerte die Popularität der Bands und gehörte damals einfach zum guten Ton. Diese musikalischen Statements waren jedoch nicht immer so energisch und voller Pathos wie Dylans „Masters of War“. Manchmal plätscherten sie ganz beiläufig und subtil daher. Etwa in „Don’t worry Baby“ von den Beach Boys aus Kalifornien. Eingebettet am Ende eines netten Liebesliedes, bohrte eine Strophe auf den Nerv aller Amerikaner, die Angehörige bei der Army hatten oder selbst in Vietnam stationiert waren. Kein Wort von Krieg, von Soldaten oder Waffen. Das Lied erzählt in einfachen Worten die Geschichte eines jungen Paares während der letzten Nacht vor dem Abschied. Es wird offen gelassen, warum und wohin der Mann geht. Sie flüstert ihm zu: „Wenn Du heute fährst, nimm meine Liebe mit Dir, und wenn Du weißt, wie sehr ich Dich immer geliebt habe, wird Dir ganz sicher nichts passieren. […] Sorge Dich nicht!“ Was beim Publikum hängen blieb, war genau das Gegenteil: die Angst vor dem Tod, vor dem Verlust, vor Verletzung und dem Ende der Beziehung.

We@nam

Musikalisch ähnlich leichtfüßig wie die Beach Boys, doch viel direkter kam Jimmy Cliffs Song „Vietnam“ daher. Die erste Strophe klingt noch wie eine Urlaubspostkarte. „Sag all meinen Freunden, dass ich bald wieder zu Hause bin. Im Juni ist meine Zeit rum. Und sag meiner süßen Mary, dass ihre Lippen süß wie Kirschen sind.“ Den Refrain „Vietnam“ trennte Jimmy Cliff so auf, dass er eher wie drei Wörter klang: „We at Nam“ – Wir sind in Nam. Was mochte das für ein exotischer Urlaubsort sein? Ein nettes Sommerlied war das, unterlegt mit jamaikanischen ReggaeRhythmen. Die zweite Strophe überrascht im Telegramm-Stil und beißt sich plötzlich mit dem sonnigen Reggae-Beat. „Mistress Brown, Ihr Sohn ist tot. Das Telegramm kam aus Vietnam.“ Jimmy Cliff singt noch etliche Male „We at Nam“.

Lieder fürs Lagerfeuer

Nicht nur aus den USA kamen international erfolgreiche Lieder gegen den Krieg. Der damals neunzehnjährige Schotte Donovan schaffte mit seinem Lied „Universal Soldier“ 1964 schnell den Sprung in die Charts und auf die großen Bühnen der Welt. Donovan wurde von der Presse nicht nur als der britische Bob Dylan gefeiert, er ging auch genauso vor wie er. „Universal Soldier“ war gar nicht sein Lied. Die kanadische Sängerin Buffy SainteMarie schrieb es ein Jahr zuvor. Es ist ein Lied vom braven Soldaten, der treu und gedankenlos wie Hänschen Klein in jeden Krieg zieht und seinen Körper als Waffe opfert. „Universal Soldier“ wurde weltweit zum Pflichtprogramm am Lagerfeuer, im Gitarrenunterricht und bei Schulfesten. Es war ein Lied mit eingänglichem Text und einfach zu spielenden Akkorden und eignete sich perfekt zum Mitsingen.

Piratensender sorgen für Airplay

Großbritannien spielte generell eine wichtige Rolle beim Etablieren neuer Protestlieder als Hits auf dem internationalen Schallplattenmarkt der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Doch das war weniger der Verdienst der BBC. Es waren die Seesender, die illegalen Piratenradios auf Schiffen oder verlassenen Militärplattformen in den Internationalen Gewässern vor der Küste, die mit ständigem Airplay halfen, Lieder wie „Eve of Destruction“ von Barry Mc Guirre populär zu machen. Den verantwortlichen Musikredakteuren in den großen Sendern wie den Produzenten von Dunhill Records fehlte damals das Rückgrat, einen Song zu promoten, der gleich sieben Bienen auf einen Streich erwischte: das Heuchlertum der Mittelschicht, den alltäglichen Rassismus, den Kalten Krieg, den Vietnamkrieg, den Anti-Kommunismus, die ständige Aufrüstung und den Militarismus in der westlichen Welt.

Der Anfang vom Ende

Der Soul-Sänger Edwin Starr etablierte 1969 die letzte große, weltweit bedeut-same Anti-Kriegshymne, die durch die Welt ging, die Charts erstürmte und in den Radiostationen rauf und runter gespielt wurde. Das Lied „War“ war ursprünglich von den Temptations, passte aber nicht in ihr Repertoire. Sie fürchteten um ihre konservative Hörerschaft. „Krieg. Wofür ist der gut? Für nichts.“ Diese Botschaft verstand jeder auf der Welt.

Der Krieg ist aus, die Helden sind tot

Doch nicht jedes Protestlied war so eingänglich wie „War“ oder so leicht bei Demonstrationen und Protestmärschen mitzusingen wie „Universal Soldier“. „Maschine Gun“ von Jimmy Hendrix in einer Fernsehaufnahme vom Sylvesterabend 1969/70 fasste den Vietnam-Krieg musikalisch zusammen – ohne Mitsing-Refrain. Eine Ära ging zu Ende. Der Vietnamkrieg war fast vorbei. Im darauf folgenden Jahr starben die großen Pop-Ikonen dieser Zeit, alle im Alter von 27: Jimmy Hendrix, Janis Joplin und Jim Morrison von The Doors.

Protestsongs sollten polarisieren

Das Protestlied der Sechziger konnte polarisieren – zwischen Arm und Reich, Gut und Böse, Konservativ und Liberal, zwischen Krieg und Frieden. Es konnte jedoch nur zu dieser Zeit mit der Pop-Kultur verschmelzen und so politische Wirkung erzielen. Zeitlos war es nicht. Dennoch existierte es weiter, es wurde sogar schneller und nahm Bezug auf aktuelle Ereignisse.

Bestes Beispiel dafür ist Neil Youngs Song „Ohio“, den er unmittelbar nach dem Massaker an der Kent State University am 4. Mai 1970 schrieb. Schon wenige Wochen nach der Tragödie lief das Lied im Radio. „Zinnsoldaten und Nixon im Anmarsch. Letztendlich sind wir ganz allein. Diesen Sommer höre ich die Trommelschläge. Vier Tote in Ohio.“ Der damalige US-Präsident Nixon hatte am 30. April 1970 die US-Invasion in Kambodscha angekündigt. Die Proteste dagegen an der Universität in Ohio löste die Nationalgarde vier Tage später mit Schüssen in die Menge auf. Vier Menschen starben. Neun wurden verletzt. Daraufhin beteiligten sich vier Millionenen Menschen an den bis dahin größten Studentenstreiks in den USA. Das Massaker wurde in über 30 Liedern verschiedener Musiker aufgegriffen. Das Besondere und Neue an Neal Youngs „Ohio“ war die schnelle Reaktion auf das Ereignis und die Veröffentlichung des Liedes auf Atlanta Records binnen weniger Wochen. In den Siebzigern und Achtzigern verloren die Protestlieder deutlich an Pathos, bedienten sich aber verstärkt den Stilmitteln der Reportage. Doch ihre internationale Bedeutung verblasste immer mehr. Mitunter ließen sie sich sogar vom politischen Gegner vereinnahmen.

Born in the USA: Protest und Patriotismus

Betrachtet man etwa den Text des Bruce-Springsteen-Hits „Born in the USA“, findet sich darin wenig Patriotisches. Ein Blick in das triste Dasein eines Vietnam-Veteranen in den Vereinigten Staaten der 80er Jahre. „In meiner kleinen Heimatstadt hatte ich Stress, also drückten sie mir eine Waffe in die Hand und schickten mich in ein fremdes Land, um dort den gelben Mann zu töten. Geboren in den USA. […] Ob unten im Schatten des Gefängnisses, oder draußen bei den Gasfeuern der Raffinerie, seit 10 Jahren hänge ich hier auf der Straße rum. Kein Ort, wohin ich flüchten könnte. Kein Ort, wo ich hingehen könnte.“ Das ist nicht sehr patriotisch, könnte man meinen. Dennoch vereinnahmte der republikanische US-Präsident Ronald Reagan 1984 „Born in the USA“ geschickt als Kampagnen-Song im Rahmen seiner Wahlkampfveranstaltungen. Reagan ließ, sobald er das Podium betrat, den Refrain „Born in the USA“ einspielen.

Als Reagan auf seiner Wahlkampf-Tour in Springsteens Heimat New Jersey Halt machte, sagte er in seiner Rede: „Die Zukunft Amerikas ruht in den abertausenden Träumen in Euren Herzen. Sie ruht in der Botschaft der Hoffnung des Jungen aus New Jersey, den so viele Amerikaner bewundern: Bruce Springsteen. Meine Aufgabe ist es, diese Träume Wirklichkeit werden zu lassen.“ Dem Musiker gelang es, den Republikanern das

Recht zu entziehen, den Song zu verwenden. Andererseits erlaubte er 1990 der Rap-Gruppe 2 live Crew die Nutzung von „Born in the USA“-Samples für ihr Lied „Banned in the USA“. Die Rapper kamen aufgrund anzüglicher Texte ins Gefängnis und schrieben daraufhin diesen Song als Protestlied gegen die Einschränkung der Rede- und Meinungsfreiheit. Der musikalische Erfolg von „Born in the USA“ weckte nicht nur politische Interessen, auch die Industrie wollte vom internationalen Hit profitieren. Der Auto-Hersteller Chrysler bot Springsteen 12 Millionen US-Dollar für die Nutzungsrechte des Songs. Springsteen lehnte ab. Chrysler entschied sich stattdessen für das durch und durch patriotische Lied „The pride is back – Born in America“ von Kenny Roger.

Born in the GDR: west-östliche Sehnsüchte

Bruce Springsteens DDR-Gastspiel in Berlin Weißensee 1988 kam wahrscheinlich auch nur aufgrund seiner US-kritischen Texte zustande, doch für die DDRJugend beim Konzert verkörperte er an diesem Abend einfach nur ein Stück westliches Lebensgefühl im tristen Ost-Alltag. „Born in the USA“ war für sie Ausdruck der Sehnsucht, nicht Kritik am imperialistischen Klassenfeind. Kaum war die DDR zusammengebrochen, fanden sich dieselben jungen Erwachsenen wieder in einem Land, das plötzlich nicht mehr ihre Heimat sein sollte. Weder Trauermarsch noch Lobeshymne war in der frühen Nachwendezeit das Lied „Born in the GDR“ der Cottbusser Band Sandow. Sie nahmen im Text direkten Bezug zum Bruce Springsteen Konzert in Berlin 1988. „Wir können bis an unsre Grenzen gehen, hast Du schon mal drüber hinweg gesehen? Ich hab 160.000 Menschen gesehen, die sangen so schön. Die sangen so schön. Born in the GDR.“ Nach der Wende änderte sich die Lesart des Liedes und gewann bei vielen Hörerinnen und Hörern eher eine nostalgische als eine kritische Grundstimmung. Daraufhin spielte Sandow ihren größten Hit sieben Jahre nicht live.

Zwischen Werbelied und schwarzer Liste

Das klassische Protestlied erfüllte seit Mitte der Achtziger immer stärker die Funktion eines Werbeliedes für Fundraising Aktionen, etwa für Projekte wie „USA for Africa“ oder „Band Aid“. Die Dauerstars der Pop- und Rockmusik füllten Stadien und sangen „Do They Know It’s Christmas?“ und „We are the World“. Die Band Mattafix aus England warb mit „Living Darfur“ 2007 für eine Spendenkampagne des NGO-Netzwerks „Safe Darfur“. Das Rote Kreuz benutzte John Lennons „Imagine“ 1990 und nochmals 2011 nach der Fukushima-Katastrophe in Japan für Spenden-Werbeclips. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass „Imagine“ nach dem 11. September 2001 vom US-Radiokonzern Clear Channel Communications auf die schwarze Liste der 166 Lieder, die vorerst nicht mehr im Radio gespielt werden sollten, gesetzt wurde. Ebenfalls auf dieser Liste stand die deutsche Sängerin Nena mit ihrem Lied „99 Luftballons“. Das schien der Hörfunkkette zu sarkastisch für ihr empfindliches Publikum und die noch empfindlicheren Werbekunden. Sarkastische, zynische Töne hatten Protestlieder bis Ende der Achtziger Jahre eher selten. Das änderte sich in der Zeit der Perestroika mit dem R.E.M.-Song „Its The End of the World as we Know it“.

Informationsflut lässt Protestlieder verhallen

Nachdem irakische Truppen 1991 in Kuwait einmarschierten, erklärten die USA dem Irak den Krieg. Wieder erklang das Lied „Masters of War“, diesmal in einer Version vom Seattle-Rocker Marc Arm. Doch wie die Proteste gegen den neuen Irakkrieg, verhallte das Lied in einer Zeit, deren Medienlandschaft sich komplett verändert hatte. Den Vietnamkrieg kann man aus heutiger Sicht als einen Vorboten der asymmetrischen Kriege werten. Gleichermaßen waren in den frühen Neunzigern MTV und CNN Vorboten der Informationsflut des Internetzeitalters. MTV zeigte schrille Musikvideos, CNN die Bilder vom Krieg. Seit Irak, Afghanistan, Jugoslawien oder Tschetschenien stehen asymmetrische Kriege, Konflikte mit unterschiedlich starken Parteien, ohne feste Strategien und vor allem ohne festen Kriegsschauplatz auf der Tagesordnung. Sie sind Alltag geworden.

Die Protestlied-Dinosaurier: altbacken und vom Aussterben bedroht

Die modernen Kriege nahmen neue Formen an, das Protestlied auch. Die Guerilla-Taktiken im Krieg spiegelten sich nun ebenso in der Musik wider. Die brauchte fortan kein Label mehr, kein Radio-Airplay und keinen gut funktionierenden Vertrieb. So wie sich die Strukturen des Krieges oder etwa der Unterhaltungsindustrie auflösten, so verwaschen erschienen inzwischen die festen Strukturen der Zivilgesellschaft. Inzwischen fanden Kriegstreiber in der neuen und alteingesessenen Linken und andererseits konservative Kriegsgegner ein breites Medienecho. Doch die Singer-Songwriter mit ihren Gitarren und pathetischen Texten gegen Militarismus und Kapitalismus verschwanden dennoch nicht gänzlich von der Bildfläche. Die Musik-Portale im Internet sind bis heute voll von ihnen. Sie sind zu Dinosauriern geworden, altbacken, vom Aussterben bedroht und bestenfalls belächelt, wenn sie überhaupt noch wahrgenommen werden.

Der Remix als Guerilla-Taktik

Die musikalischen Genre-Grenzen des Protestliedes haben sich aufgeweicht, genauso wie die Grenzen zwischen Künstler und Publikum. Ein treffendes Beispiel dafür ist der Song „Not in our Name“ des Rappers Saul Williams. Seine freien Verse sind wie ein Eid geschrieben und wurden von ihm als Acapella-Version aufgenommen und online veröffentlicht. „Wir glauben daran, dass wir als Menschen, die in den Vereinigten Staaten leben, verantwortlich dafür sind, den Ungerechtigkeiten unserer Regierung entgegenzutreten – in unserem Namen. Nicht in unserem Namen sollst Du endlose Kriege bezahlen. Eine andere Welt ist möglich und wir schwören, sie Realität werden zu lassen.“ Der Remix wurde zur Guerilla-Taktik. Die User remixten das Lied in hunderten Varianten oder spielten selbst Instrumente ein. So erreicht man nicht nur eine, sondern endlos viele Zielgruppen.

Dubstep-Mantra statt Folk-Rock-Refrain

Ähnliche Tendenzen kann man beim Track „Blood on my Hands“ von Sam Shackleton beobachten. Shackleton kommt aus Nordwest-England und gehört eher zu den Vertretern moderner elektronischer Tanzmusik. In „Blood on my hands“ nimmt er direkten Bezug auf die Anschläge auf das World Trade Center in New York, im September 2001. Kein Wunder, dass von diesem Lied zahllose Remixe anderer Künstler existieren. Schließlich hat dieses Ereignis die Generation der heute 25 bis 35jährigen Musikerinnen und Musiker massiv geprägt und beeinflusst.

„Ich stehe auf der Spitze des Berges und lasse einen Schrei heraus. Es ist die Sprache der Erde, die Sprache des wilden Tieres. Wir können nicht mehr zurückschauen, denn das Fleisch ist schwach und die Formen brechen in sich zusammen. Sie sind nicht für die Ewigkeit geschaffen. Ich sehe die Türme fallen.“
Neu an „Blood on my hands“ als Protestlied waren in erster Linie das Genre, die Länge und die Struktur des Stückes und die Dubstep-Beats. Gleich einem Mantra wiederholt eine monotone Männerstimme immer und immer wieder den Text „Ich sehe die Türme fallen, fallen, fallen …“

Provokante Persiflagen

Das klassische Protestlied hat es hingegen schwer in einer Zeit, die künstlerischen Erfolg an Anzahl der Verlinkungen, an Zuschauerzahlen, Facebook-Likes und dem Grad der Viralität eines Liedes misst. Es wird nicht mehr ernst genommen, wie der Track „Protestsong“ der Berliner Band „Die Ärzte“ veranschaulicht. „Als Retter der Welt liegt Ihr voll im Trend, Ihr malträtiert euer Instrument und Ihr flennt.“ Doch das Protestlied wurde in jüngster Zeit nicht nur persifliert und verballhornt, wie es Rob Smallwoods „The Banker’s Bonus Song“ mit Lennons „Imagine“ tat, sondern auch missbraucht und umgedeutet. So konnte man auf Nazi-Demos in den letzten Jahren „Keine Macht für Niemand“ von Ton Steine Scherben hören oder Rechtsrock-Coverversionen von „Fremd im eigenen Land“. Das bekannteste Lied der Heidelberger Rap-Gruppe Advanced Chemistry thematisierte 1992 erstmals in deutscher Sprache die Rechtslage junger Migrantenkinder in Deutschland. „Fremd im eigenen Land“ wurde nun umgedeutet auf Deutsche, die sich im eigenen Land fremd fühlen würden.

Protestlieder als Playlisten im Dudelradio

Das klassische Protestlied lebt weiter in der „casual rotation playlists“ der Radiostationen mit sogenanntem Adult-Contemporary-Profil, also auf den Sendern, deren werberelevante Zielgruppe zwischen 35 und 55 ist und über ein festes Einkommen verfügt. Dort dudeln zwischen der Werbung die Dylans, Lennons, Donovans tagein tagaus rauf und runter, eingebettet in modernere Pop-Songs wie „Alles wird besser werden“ von Xavier Naidoo. Gerade dieses Lied greift Elemente des Protestliedes auf, vereint sie, wie es schon Bruce Springsteen mit „Born in the USA“ tat, mit Elementen des Gospels, inzwischen aber auch mit Rap, und ernten mit diesem Erfolgsrezept 20 Millionen YouTube-Zuschauer. Wie im Gospel kommen die kritischen Zeilen vom Leid und den Sorgen in die Strophen, die hoffnungsvollen Zeilen hingegen in den Refrain.

Ohne YouTube kein Pussy Riot Prozess

„The revolution will not be televised“ sang Gil Scott Heron 1970. Welche politische Bedeutung Protestsongs heute auf Videoplattformen wie YouTube haben können, zeigt der Fall Pussy Riot in Russland. Aufmerksamkeit erreicht man heute nicht durch kopflastige Texte, sondern durch originelle, provokative und leicht online konsumierbare Aktionen im öffentlichen Raum. Protest folgt heute denselben Spielregeln wie die Werbung. Im Mittelpunkt steht die Aktion, nicht die Musik. Im Februar 2012, kurz vor den Präsidentenwahlen, stürmten drei Frauen der Gruppe Pussy Riot das Gebäude der Christ Erlöser Kathedrale in Moskau. Mit grellen Masken tanzten sie im Altar-Raum, dem wichtigsten Heiligtum der russisch-orthodoxen Kirche. Das hatte keine direkten juristischen Konsequenzen – bis im Internet ein Video der Aktion auftauchte, unterlegt mit einem Song, in dem sie gegen Putin, das Patriarchat, gegen die politischen und geistigen Eliten des Landes ansingen. Die Pussy Riot-Mitglieder wurden angeklagt wegen Beschädigung christlicher Werte.

Einen Straf-tatbestand, den es so in der Verfassung der Russischen Föderation nicht gibt. Pussy Riot sehen sich in der Tradition der feministisch-subkulturellen „Riot Grrrl“ Bewegung. Sie sind Nebeneffekt der seit der Perestroika entstandenen Zivilgesellschaft in Russland. Der Gerichtsprozess gegen die Pussy Riot Mitglieder wurde zum größten internationalen Medienereignis in der Justizgeschichte der postsowjetischen Russischen Föderation seit dem Prozess gegen den Oligarchen Michail Borissowitsch Chodorkowski. In diesem Prozess ging es um mehr als um die Entehrung religiöser Heiligtümer oder die Verballhornung der Staatsmacht. Der Fall Pussy Riot zeigte der ganzen Welt, dass sich in den letzten Jahren neben den konservativen Alt-Kommunisten eine neue, eine progressive Linke entwickelt hat. Bislang führte sie ein Schattendasein. Der Russische Präsident Putin quittierte das mit den Worten: „Sie haben erreicht, was sie wollten.“ Pussy Riot zeigte aber auch, dass man heutzutage, wenn man mit einem Thema an die Öffentlichkeit treten will, auf originelle und You-Tubekompatible Aktionen angewiesen ist, um die Aufmerksamkeit der internationalen Netzgemeinde und damit auch der Mainstream-Medien zu bekommen.

Online-Rap: der Soundtrack des arabischen Frühlings

Die heutigen Möglichkeiten, dezentral Musik zu produzieren, können dem modernen Protestlied helfen, Ländergrenzen zu überwinden. Das irgendwo in der Welt an den Computer angeschlossene Mikrofon ersetzt das teure Studio. Ein Beispiel dafür ist die Musik des syrisch-amerikanischen Rappers Omar Offendum. In seinen Songs rappt er über aktuelle Probleme und Ereignisse in der arabischen Welt. Er selbst lebt in Washington D.C., seine Produzenten und Rap-Kollegen hingegen in Beirut, Kairo oder Damaskus. Über das Internet schicken sie sich die einzelnen Spuren ihrer Tracks zu, mischen sie zu fertigen Liedern, die sie dann online veröffentlichen. Traditionelle Klänge aus ihrer Heimat, O-Töne von Protesten oder Ausschreitungen als Samples verleihen der Musik in der Mischung mit modernen HipHop-Beats zusätzliche Atmosphäre, Aktualität und Emotionalität. Während Rap-Musik in Mitteleuropa oder Nordamerika längst ihren frischen und revolutionären Charakter verloren hat, spricht sie die aufbegehrende Jugend der arabischen Welt besonders stark an. Die Jugend der arabischen Welt wartet nicht auf alteingesessene Musiker, die ihnen mit professionell produzierten Protestsongs aus der Seele sprechen. Schließlich kann ihr niemand eine authentischere Stimme verleihen als sie selbst.

Ein Ausblick

Die alten Protestlieder funktionieren nicht mehr. Sie haben zwar nicht gänzlich ausgedient, doch ihre Wirkung und Strahlkraft haben sie eingebüßt. Protestlieder funktionieren nur in der Zeit, in der sie entstehen. Sie spiegeln den Zeitgeist einer Generation wieder. So sehr verschmolzen wie Pop-Kultur und Protestkultur in den Sechzigern und Siebzigern des 20. Jahrhunderts waren, waren sie danach nie wieder. Es gibt noch Musikerinnen und Musiker, die mit heutigen Stilmitteln das klassische Genre des Protestliedes bedienen: PJ Harvey, Keny Arkana oder Rage Against The Machine. Doch verschwindet ihre Musik zunehmend in ihrer jeweiligen Sparte, erreicht nur die Fans des Genres. Die Protestlieder von heute und morgen basieren nicht mehr auf der klassischen Struktur von Strophe und Refrain. Sie funktionieren nicht mehr nur mit den klassischen Rockinstrumenten E-Gitarre, Bass und Schlagzeug. Und sie wirken nicht mehr ohne Humor, ohne Originalität, ohne massenwirksames Video. Moderne Protestlieder verzichten auf Belehrungen, auf pathetisch-erhabene Texte. Sie entstehen, weil es an der Zeit ist, dass sie entstehen, ohne Bestreben nach Rampenlicht, nach Plattenverträgen und Weltruhm.

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