Das „Unsichtbare Komitee“ « äußert sich zum Diskurs um seine Schrift „Der kommende Aufstand“. Nachfolgend wird dieser Text dokumentiert.
Das Unsichtbare Komitee
aus telegraph #122/123
Wodurch ist eine ausweglose Situation charakterisiert? Durch Markierungen, die zwar alternative Wege aufblitzen lassen, aber durch ein vielfältiges Instrumentarium die Möglichkeit ihrer Begehung blockieren – politisch, moralisch oder durch Gewalt. Die Markierungen verlaufen dabei nicht nur zwischen den offensichtlichsten Institutionen der Normalisierung: der Schulpflicht, dem Strafgesetzbuch, den Wahlkomitees oder der Vergeldlichung unserer Umwelten. Wir erlauben uns, eine Vulgarität auszusprechen: Es ist der Gedanke, nicht das Bataillon, der Territorien einnimmt, absichert und ihre Begrenzungen festlegt. Der psychologische Sündenfall jeder Ordnung, deren Fundamente am Beben sind, ist die Lobeshymne, mit der ihre letzten Verwalter sich an sie schmiegen, auf dass die »beste aller Welten« nicht zugrunde gehe – jetzt, da ihnen das kaum fassbare Glück zuteil wurde, unter Milliarden von Menschen und Jahrtausenden menschlicher Zivilisation auserwählt zu sein und in ihr leben zu dürfen.
Was nützt es, daran zu erinnern, dass sich nahezu jede Ordnung mit diesem Label schmückt? Die Ideosynkrasie (Überempfindlichkeit; d. Red.) jeder Ordnung erreicht ihr Maximum kurz vor ihrem eigenen Tod; dort ist sie auch am destruktivsten. Die Zerfallserscheinungen unserer modernen Konstruktionen, trotz aller Beharrlichkeit und Liebe, mit der ihr Funktionieren sichergestellt wird, sind heute keine extraordinären Phänomene mehr. Noch weigert sich die Gesellschaft, auf eine Interpretation einzugehen, die ihr gefährlich werden könnte. Wenn sie es tut, wird ihr eigentliches Fundament zum Vorschein kommen, die Fratze der nackten Gewalt, die sie unter dem Schleier der »Zivilisiertheit« kaschiert, um dadurch unbegrenzt und unverdächtig über sie verfügen zu können. Dann ist es im Übrigen egal, ob gestern noch von der Gewaltlosigkeit als dem großen Asset (Plus; d. Red.) gesprochen wurde, das die liberalen Demokratien in ihrem Kern auszeichne. Wenn das Fundament auf dem Spiel steht, werden keine Gefangenen gemacht.
Organisation der Stimmen
Warum sehen wir uns genötigt, in die deutsche Debatte zu intervenieren? In Frankreich greift der Staat zu physischer und juristischer Gewalt, um die Irritationen zu unterdrücken, die auf den Straßen liegen, Irritationen, deren Motive er nicht versteht, und denen wir ein Medium gegeben haben. Anders verhält es sich im deutschen Kontext. Dort haben die Mechanismen der Tabuisierung, Reglementierung und Aussperrung des Nicht-Sagbaren zwar keine andere Rationalität, doch eine andere Anatomie: subtiler, intellektueller, durchdringender, effektiver. Nirgendwo kann eine Gesellschaft wirksamer ihre Diskurse organisieren als an den Orten, wo »Debatte« geführt wird, jene Plattformen der öffentlichen Sphäre, auf denen die demokratische Gesellschaft, so weiß man, zu sich kommt: Als Garanten für Freiheit und Selbstbestimmung fungieren diese Orte als ihr Symptom, Mittel und Fundament zugleich. Ihre Teilnehmer: Metaphern von individualisierten Subjekten, die ihre inneren und äußeren Umwelten kontrollieren, Subjekte und Objekte sauber voneinander trennen, und die ihre Liebe einer Rationalität widmen, die ihre eigene Historizität und Kontingenz (fehlende Zwangsläufigkeit; d. Red.) nicht wahrhaben möchte; Subjekte, die alles Mögliche identifizieren können, nur nicht sich selbst; die ihre eigene Verortung nicht kennen, oder sie kennen sie, aber akzeptieren die Folgen nicht. Die Wortführer dieser »Debatten« sind die ewig Gleichen: Neben den üblichen Verdächtigen aus den herrschenden Zirkeln sind es diejenigen, die deswegen eine Stimme zugeteilt bekommen, weil sie entweder die Diskursregeln virtuos beherrschen oder weil sie ihre Stimme als profitable Ware haben platzieren können – und nicht etwa, weil sie Wahrheiten aussprechen oder Möglichkeiten benennen.
Die äußerste Form der Repression des Gedankens ist nicht die Vernichtung des menschlichen Körpers, der ihn äußert, sondern der Anschlag auf den Gedanken selbst. Die effektivste Form des Anschlags: seine De-Legitimierung. Man müsste eine Geschichte schreiben über die vielen Spielarten und Techniken dieser De-Legitimierung, die erst das »aufgeklärte Zeitalter« hervorgebracht hat. Leere Signifikanten wie »reaktionär« und »anti-modern« zählen in der aktuellen diskursiven Verfasstheit der westeuropäischen Länder zu den wirksamsten Werkzeugen, mit denen sich die »Debatte« abweichende Ansätze vom Hals hält. Eine Herrschaft, die solche Feinde hat, ist heute unverdächtig und total. Eine geschützte Herrschaft. »Wir sind anti-modern – man braucht sich nicht mehr um uns zu kümmern. Legt den Fall zu den Akten«, liest man zwischen unseren Zeilen. Wir erwidern nichts. Kein Argument. Beschreibt uns, wie Ihr wollt. Verwaltet weiter, igelt Euch ein, verschweigt die Irritationen. Wir erlauben uns eine weitere Vulgarität: Wir scheißen darauf. Die Distanz zur Straße wird Euch irgendwann einholen.
In hundert Jahren, nach dem Übergang dieser Ordnung in ihre zukünftigen Formen – seien sie kapitalistischer, kommunistischer oder sonstiger Natur –, wird die Historiographie ihre eigene Sprache für unsere Epoche entwickelt haben. Ihr wird nicht entgehen, wie breit und vielfältig das Klammern an der Ordnung wurde, von links wie von rechts, von oben wie von unten. Ihr werden die Verteidigungsstrategien nicht entgehen, die sie als endgültige Ordnung inszenierten, zur letzten, zu der die vernunftbasierten Menschen fähig seien. Ihr wird die Arroganz nicht entgehen, mit der das Ende aller Welten, Orte, Gerüche, Leidenschaften, Spiritualitäten, Überzeugungsysteme und Rationalitäten behauptet wurde, und wie sie wie alle Ordnungen zuvor agierte, die sich als die fortschrittlichsten verstanden haben, während sie alle anderen als defizitär oder kontingent klassifizierte. Sie wird sich fragen, warum wir uns nicht fragten, ob wir überhaupt so rational sein können, wie unser Selbstbild und unsere Systeme es von uns verlangen.
Chaos regiert
»Ich sehe sie, die vielen Unzulänglichkeiten, und ich bedaure sie, ja bekämpfe sie. Doch müssen wir froh sein, von allem Schlechten auf der Welt das am wenigsten Schlechte gefunden zu haben. Wir müssen hier aufhören, still halten, die Waffen niederlegen. Denn nach dem Gewaltmonopol bricht sich Bahn: das Chaos.« Man muss den Satz fünf, zwölf, hundert Mal wiederholen, bis der Schleier der Abstraktion fällt und seine Absurdität zum Vorschein kommt. Die Parteigänger des Gewaltmonopols sind sich sicher: Rational ist, eine Gesellschaft am Leben zu halten, in der Gewaltmittel aufs Unendliche angehäuft und, im Falle der Aktualisierung, in den Zugriffsraum einiger Weniger gestellt werden. Als naiv und utopisch gelten hingegen soziale Formationen, die sich dieser Irrationalität verweigern: all jene Räume, die sich in den metropolitanen Territorien bereits der Kontrolle der Maschine entzogen haben, und die neue, kommunale Wege des Zusammenlebens erzeugt haben; all jene Arbeit, die tagtäglich und in astronomischen Ausmaßen verrichtet wird, ohne dass Geld oder Zwang die Motivation zum Arbeiten herstellen; all jene Netzwerke und Nischen innerhalb des totalen Raumes, dort, wo die Argusaugen des Staates erblinden, in den Keimzellen der Selbstorganisation, an die die Gesellschaft nicht glauben will – weil sie eine ihrer letzten Wahrheiten aufs Spiel setzen: dass der Mensch ohne Staat zum Berserker wird.
In der Regel reicht allein der Hinweis auf den afrikanischen Kontinent, dessen imaginierte Finsternis uns erst die zivilisatorische Strahlkraft verleiht. »Sieh‘ genau hin! Wohin man blickt: Chaos regiert.« Neben Auschwitz, oder wahlweise dem Gulag, wird häufig genug auch Somalia als Kronzeuge für die Unmöglichkeit einer radikalen Alternative gehandelt. Zugleich ist das Land der mythische Ort, von dem man uns berichtet, dass der Mensch dort zu sich komme oder schon bei sich sei. Losgelöst vom staatlichen Sanktions- und Regulationsapparat, würde er endlich er selbst. Ein Monster: für sich wie für andere. Verschwiegen wird in dieser Konstruktion, dass dieser Mensch nicht ist, sondern bereits geworden ist. Wir kennen keine Gesellschaft, wo der Mensch zu sich kommt. Gesellschaft heißt gerade, dass er nicht bei sich ist. Er ist geworden in einer Umwelt, in der konkurrierende und hochgerüstete Gewaltmonopole über Jahrhunderte hinweg gewütet haben und in der sie nur fragiles, traumatisiertes und ausgebeutetes Menschenmaterial zurückließen, das sich in einem Wettlauf um das schnellere Sterben befindet. Selbst die Gewaltmittel lieferten sie mit und lehrten die so Subjektivierten die Mechanik der industriellen Vernichtung, bevor sie schließlich abzogen und schon bald begannen, über die Brutalität der »natürlichen« Zustände zu lästern, die sich ohne liberal-demokratische Gewaltapparate einstellten.
Denjenigen, die noch bei Verstand sind, fällt auf, dass der Staat nicht die Instanz der materiellen Gewalt ist, sondern eine Fiktion, ein Bild, das die menschlichen Verkehrsströme reguliert, Grenzen von Geschmack und Urteilskraft definiert, Entscheidungen nahelegt und individuelle Präferenzen bestimmt. Wäre der Staat wirklich nur dieses hässliche Monster, das allein durch die Kraft seiner Bedrohlichkeit seinen Status absichert, so befänden wir uns wahrlich in einem chaotischen Zustand, in dem konkurrierende Akteure permanent auf die Gelegenheiten der Übernahme warten würden – außerhalb oder innerhalb eines als legal definierten Raumes. Wir fordern diese Fiktion heraus, weil sie die Katastrophe zu verschulden hat, die sich nun überall Bahn bricht, die sich nicht nur gegen Einzelne richtet, sondern, strukturell und potentiell, gegen alle: Unkontrollierbar und selektiv, produziert sie täglich neue Opfer. Wir stellen entgegen eine neue Fiktion, die strukturiert, ohne zu zerstören.
Reaktionäre Gewalt – Gewalt als Reaktion
Dieses komische Konglomerat aus Milieus, Gewaltapparaten, kontrollierten Räumen und individuellen Stilen, das wir Gesellschaft nennen, hat ein pathologisches Verhältnis zur Gewalt. Ihre Pathologie besteht darin, die legitimen Gewaltformen zu definieren, aber sie öffentlich zu verschweigen und zu leugnen – notfalls mit Gewalt und ohne den Widerspruch zu akzeptieren. Wie ein Kranker, der andere Krankheiten, die ihm bisher erspart blieben, aussperrt, geißelt, tabuisiert. Wir fordern eine Öffnung des Diskurses über die Gewalt – erweitert um deren zu beobachtende Ubiquität (Allgegenwart; d. Red.). Früher oder später wird sie als das anerkannt werden müssen, was sie ist, nämlich als die allgegenwärtige Spur, tief verankert in der Grammatik unserer Zeit und anzutreffen an den verschiedensten Orten unseres Alltags: in der Separierung der gesellschaftlichen Subjekte, in der Totalität der Verwertungsmaschine, im Tod eines x-beliebigen betrunkenen Obdachlosen auf der metro-politanen Straße, in der Lust am Ressentiment und in der Gewissheit, es sich leisten zu können. Das Ende der Geschichte ist ein Ende mit Schrecken, zumindest für diejenigen, deren Stimme die »Debatte« aussortiert oder kastriert, bevor sie sie integriert.
Wir werden die Gewalt nicht weiter ertragen können. Während die zivilisierte, heißt: ausschließende »Debatte« weiterläuft, sehen wir uns gezwungen aufzurüsten: so lange, bis wir uns den Pazifismus leisten können. Leise, maulwurfsartig, unstrategisch und spontan müssen unsere Gesten sein. Der Impuls, seine Impulsion, seine Impulsivität – eine mächtige Triade. Es sei übrigens bemerkt, dass wir auf die Konsequenzen vorbereitet sind.
„Unsichtbares Komitee: Der kommende Aufstand.“
Hamburg: Edition Nautilus, 2010.
128 S., 9,90 Euro.
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