In Ungarn wächst – strikt im Rahmen der demokratischen Verfassung – ein antidemokratisches Regime. Zu den Ursachen und den bedrohlichen Folgen äußert sich der Vorsitzende der „Grünen Linkspartei“.
Von Thomas Klein
aus telegraph #122/123
Ungarn ist vor allem wegen seines Mediengesetzes ins Gerede gekommen. Staatliche Regulierung der „freien Presse“ gilt in modernen bürgerlichen Systemen als überholt. Die angelaufenen Aushandlungsprozeduren zur Wiederherstellung juristischer Passfähigkeit staatlichen ungarischen Öffentlichkeitsmanagements mit den EG-Normen zeitgemäßer „Pressefreiheit“ glätten gegenwärtig wieder etwas die Wogen allgemeiner Empörung. Welche neuen Wege die ungarische rechtskonservative Regierung finden wird, ihre im ursprünglichen Mediengesetz offen artikulierte Linie der strafbewehrten Kontrolle kritischer Öffentlichkeit durchzuhalten, wird man sehen. Doch wer den Gesamtzusammenhang solcher Politik mit dem sozialen Wandel in der ungarischen Gesellschaft und die Zielführung zeitgenössischen ungarischen Regierungshandelns auf den Punkt zu bringen versucht, muss schon sehr genau hinsehen. Hier lässt sich ein Lehrstück rechtskonservativen und zum Teil reaktionären Roll-Backs besichtigen. Ähnlichkeiten beim Blick auf gewisse Sachverhalte in Italien oder Frankreich sind offenkundig. Sehr aufschlussreich sind die Hinweise des ungarischen Philosophen Gáspar Miklós Tamás zur Bewertung der gegenwärtigen ungarischen Situation und der politischen Entwicklung dorthin. Gleichzeitig ist sein kritischer Rückblick auf die eigene politische Verantwortung ein beeindruckendes biographisches Zeugnis.
Tamás gehörte vor 1989 zur linken ungarischen Dissidenz und verstand sich als libertärer Sozialist. Noch vor 1988 wechselte er ins bürgerlich-liberale Lager: „Es war eine Zeit, in der eine Unzahl gesellschaftlicher Ideen entwickelt wurden, aus denen aber nicht sehr viel folgte, außer dass es ein Moment der vermeintlichen und erhofften Freiheit war. Ich stand im Zentrum all dessen und wurde später als Abgeordneter für den Freidemokratischen Bund gewählt, der damals die Partei der Oppositionellen und die zweitgrößte Partei im Parlament war. Es war eine liberale Partei und ich stand ziemlich weit auf dem rechten Flügel.“[1] Mit dem Wahlsieg der gemäßigten Rechten 1990 „waren wir plötzlich mit der konservativen Rechten konfrontiert, mit ihrem Gerede von einer »jüdischen Konspiration«, von »Feinden unserer Rasse« und so weiter. Das war wieder der alte Konflikt zwischen den »Verwestlichern« und »Nationalisten«, »Kosmopoliten« und »Patrioten« … Das … geht bis heute in seiner ganzen Stumpfsinnigkeit weiter.“[2] Die rechte nationalistische Gefahr schien 1994 mit dem Wahlsieg des Bündnisses aus Sozialdemokraten und Liberalen gebannt. In diesem Jahr beendete Tamás auch seine Tätigkeit als Berufspolitiker: „Im Rückblick war das wichtigste Ereignis der ersten beiden Jahre, die ich in den höchsten Kammern meines Landes als Gesetzesmacher verbrachte, dass zwei Millionen Arbeitsplätze verloren gingen – und ich glaube, ich habe es nicht einmal bemerkt. Das ist mit die größte Schande meines Lebens.“
Noch bevor 2010 das Wahlbündnis aus Fidesz und KDNP[3] mit überwältigender Mehrheit siegte, zeichnete Tamás bereits 2009 in einem Interview ein bedrückendes Bild von der damaligen Situation in Ungarn, das seit 1990 von andauernd wechselnden Regierungskonstrukten (irre)geführt wurde. Dabei diskreditierte sich die aus der alten USAP entwachsene Sozialistische Partei (MSZB) während ihrer Regierungsverantwortung gnadenlos:
„Der Lebensstandard ist abgestürzt, die Arbeitszeit wurde für die noch Beschäftigten verlängert, und Arbeitslosigkeit grassiert überall, und das bei einer Arbeitslosengeldzahlung für nur sechs Monate. Viele Menschen hungern, und das ist etwas, das sie nicht kennen. … Was die politischen Konflikte hier bestimmt, ist ein verzweifelter Kampf um schwindende Staatsressourcen. Es ist ein Kampf zwischen der Mittelschicht und den übrigen. Das ist die Basis für die Rechtsradikalen. … Es gibt ein verzweifeltes Schachern um Sozialhilfe, Einkommensunterstützung, Sozialwohnungen, europäische Zuschüsse etc., und die Politik der »sozialistischen« Regierung, die aus Einschnitten und noch mehr Einschnitten … besteht. Das bringt die Mittelschicht gegen die »Modernisierer« auf, die das multinationale Kapital repräsentieren, und also gegen »Ausländer«. Die Gegnerschaft zu der neoliberalen Globalisierung nimmt überwiegend nationalistische Formen an … Die Antwort heißt, den Konflikt über Kriminalisierung und Schüren von Rassismus auszutragen, also zu sagen, dass all die Menschen, die auf Sozialhilfe angewiesen sind, sich rassisch von uns unterscheiden, dass sie rassisch minderwertig sind im Fall der Roma, oder faule Versager, stützeabhängige Schmarotzer … Der offene Hass gegen alte Rentner, die Arbeitslosen und Sozialhilfeempfänger als »Parasiten« findet sein Gegenstück in dem Hass auf die herrschende Ordnung des Kapitals als »ausländisch«. Die westlich-liberale Kritik am osteuropäischen Rassismus, an Fremdenfeindlichkeit und Neofaschismus wird als Finte verstanden, den »nationalen« Widerstand einem wurzellosen kosmopolitischen Finanzkapital … auszuliefern. Die Stärkung der Rechten heißt nicht nur, dass alte widerliche, quasifaschistische Traditionen wiedererstehen, sondern es ist auch eine Antwort auf sozialen Zusammenbruch und Auflösung. Die Rechte verspricht Ordnung, sozialen Zusammenhalt und das Überleben der Mittelschicht, vor allem für junge weiße, christliche Mittelschichtfamilien. Und das geschieht zu einer Zeit, da die Arbeiterklasse keinerlei politische Vertretung hat, nicht einmal eine Minderheitsvertretung … Das ist wie in den 1920er Jahren: antidemokratisch und gegen die Arbeiterklasse gerichtet und scharf antikommunistisch, angesichts der völligen Abwesenheit einer sozialistischen Linken. … Schwulen- und Lesbenclubs, Frauengruppen werden angegriffen – abgefackelt – ebenso wie die Roma. Es gibt straff organisierte neonazistische, terroristische Gruppen, die schon einige »Zigeuner« ermordet und versucht haben, Sozialisten und liberale Politiker umzubringen. »Nationalkonservative« Politiker zögern im Großen und Ganzen, solche Vorgänge zu verurteilen. Ungarn hat die einzige nationalsozialistische Tageszeitung und den einzigen nationalsozialistischen Fernsehsender in Europa, vielleicht in der ganzen Welt. Hunderte offen antisemitische Kommentare werden täglich auf den Webseiten von angesehenen Mitte-links-Zeitungen gepostet, ganz zu schweigen von anderen Foren. Eine autoritäre Bildungsreform mit körperlicher Züchtigung von Kindern wird befürwortet – etwas, das seit 1945 verboten ist. Es gibt Rufe nach Wiedereinführung der verrufenen Gendarmerie, deren Eifer und Grausamkeit bei der Deportation ungarischer Juden im Jahr 1944 sogar Eichmann verblüffte. Noch so schüchterne Maßnahmen zur Aufhebung von Segregation an Schulen werden heftig bekämpft und von den örtlichen Behörden abgelehnt. Dunkelhäutige Kinder haben ihre eigenen miesen »Bildungseinrichtungen«. Moderne Kunst wird auf eine Weise niedergemacht, wie wir es seit den 1930er Jahren nicht mehr erlebt haben. Die Aufklärung und das modernistische Erbe werden wieder als degeneriert und teuflisch dargestellt. In all diesen Dingen wird ein rebellisches Potenzial gewittert. All die reaktionären Klischees kommen hoch. Die Reaktion lehrt die Osteuropäer, wie diese Kämpfe zusammenhängen. Wir lernen es auf die harte Tour. Uns muss niemand erzählen, dass Sozialisten und Feministinnen, schwule und lesbische Aktivisten, Aktivisten für Minderheitenrechte und Gewerkschafter zusammengehören, weil wir alle von demselben Feind verprügelt werden.“
Was seither (und mit dem Wahlsieg des rechten Parteienbündnis Fidesz/KDNP im Jahre 2010) geschah, charakterisiert Tamás schon mit Anflügen von Verzweiflung: „Noch nie war es so schlimm“.[4] Tamás stellt fest, dass Einschränkungen des Streikrechts in Ungarn bei weitem nicht die internationale Resonanz fanden, wie der Dirigismus des Mediengesetzes, das die Presse verpflichtet, die von einer staatlich gesteuerten Zentralbehörde fabrizierten Nachrichten von „nationaler Bedeutung“ zu publizieren. „Erst wenn das Interesse der Journalistenprofession bedroht ist, ist das Geschrei groß.“[5] Doch dies sei erst die Spitze des Eisbergs: „Tausende Menschen sind aus den öffentlich-rechtlichen Medien und dem öffentlichen Dienst entlassen und ersetzt worden durch engagierte Parteileute der Rechten, teilweise der extremen Rechten. Es gibt ein neues Beamtengesetz, das die Entlassung öffentlich Bediensteter ohne jegliche Begründung gestattet. An Lehr- und Forschungseinrichtungen finden politische Säuberungen statt. Das 1956er Institut ist dicht.“ Auch Tamás ist als Forschungsprofessor des Philosophischen Instituts in Budapest inzwischen abgesetzt.
Der enorme Rechtsruck und die antidemokratische Wende in Ungarn vollzogen sich, so Tamás, im Ergebnis der Folgen des neoliberalen Kurses der MSZB. Und die gesetzgeberischen Akte, welche die Regierung, gestützt auf ihre parlamentarische Zweidrittelmehrheit, verwirklichen konnte, sichert die Besetzung der Schlüsselfunktionen über drei Parlamentsperioden: „… an der Spitze der Regierungsbüros der 22 Komitate, unsere traditionellen Gebietseinteilung, befinden sich ausschließlich rechte Gesinnungstäter. In allen Komitatsversammlungen, die vergleichbar mit den Länderparlamenten in der Bundesrepublik sind, gibt es eine rechte Mehrheit. … Von 23 Großstädten in Ungarn werden 22 von konservativen Bürgermeistern regiert. Und in den Dörfern sind 93 Prozent der Bürgermeister Rechte. … Wir haben eine halbe Diktatur.“ Das Anfang 2010 verabschiedete Gesetz zur Ahndung der Holocaust-Leugnung wurde wieder aufgehoben. „Es gibt auch keine Verbrechen ungarischer Faschisten, nur des deutschen Nationalsozialismus – und des Kommunismus. Wer die mörderische Hatz gegen Sinti und Roma kritisiert oder den Antisemitismus verurteilt, gilt in Ungarn als Agent des Auslandes, ob wissentlich oder unwissentlich. Marxisten, Liberale, Sozialdemokraten, Grüne – alle sind fremdherzige und sippenfremde Agenten.“ Die untersetzende rechte Ideologie sieht Tamás keineswegs als exklusives ungarisches Phänomen: „ …die Eskalation der Konflikte innerhalb der Gesellschaft, (kann) man in ganz Europa registrieren … Das kann man auch in Italien und Frankreich beobachten. Sozialhilfe und Sozialversicherungen werden denunziert als unverdiente Geschenke an Farbige, Einwanderer, Faulenzer, Schmarotzer … Es ist der Rechten in den USA gelungen, die unteren Schichten der Gesellschaft für Sozialkämpfe zu demotivieren.“ Das gefährliche Gemisch, was hier entsteht, charakterisiert Tamás wie folgt: „Die Leute stöhnen und schimpfen gegen die Multis. Und sie glauben, unsere Regierung schützt sie, verhindert, dass Ungarn unter das Joch fremder multinationaler Unternehmen fällt, denn sie hat ja Spezialsteuern gegen ausländische Banken, Versicherungsgesellschaften und Geschäftsketten erhoben. Die Regierung operiert mit antikapitalistischen Floskeln, ungeachtet der Tatsache, dass ihre Sponsoren die reichen Kapitalisten sind. Nationalismus, Rassismus und Pseudo-Antikapitalismus ergeben eine sehr gefährliche Mischung.“ Dabei hat es die Administration auch verstanden, rechtshegemoniale Machtpolitik zu verwirklichen: „Die Orbán-Regierung war ganz außerordentlich erfolgreich darin, rechtsextreme, paramilitärische Gruppierungen zu spalten und zu zerschlagen, um damit einem aufkommenden einheimischen rassistischen und faschistischen Terrorismus Einhalt zu gebieten.“[6] Auf dieser Basis wird nun „die rassische Trennung … von der Rechten ganz offen propagiert, Integrationsprogramme sind eingestellt worden. … »Antifaschismus ist ein Verbrechen«, hat ein führender konservativer Kolumnist, Universitätslehrer und Redakteur einer angesehen Monatszeitschrift erklärt.“[7]
Tamás hatte bereits 2009 persönliche Konsequenzen aus den sich abzeichnenden Entwicklungen im Rückblick auf persönlichen Erfahrungen während seiner „liberalen“ Periode gezogen: „Warum brauchte die herrschende Klasse die Zentralisation der Medienmacht? Weil sie die Unterstützung in der zunehmend verarmenden Bevölkerung verlor. Wir waren absolut naiv und unser Diskurs zu der Zeit war einer des klassischen Liberalismus.“ [8] Zu der Zeit vor 1989 hieß es bei ihm:
„Der Staatskapitalismus nach sowjetischer Art war eine warenproduzierende, auf Lohnarbeit gestützte ungleiche, hierarchische, repressive Geldwirtschaft und eine Klassengesellschaft, die alle Klassengesellschaften in den Schatten stellte und extrem effizient den proletarischen Widerstand unterdrückte. Revolten gegen das Regime waren immer sozialistische Revolutionen, im Jahr 1956 die Arbeiterräte in Ungarn, im Jahr 1968 der humanistische Sozialismus in der Tschechoslowakei. Solidarność war faktisch keine Gewerkschaft, sondern ein Netzwerk territorial organisierter Arbeiterräte, das ursprünglich eine sich selbst verwaltende proletarische Republik eines sich selbst regierenden Volks anstrebte, ehe die Repression es in eine tief konservative, pessimistische und katholische Bewegung verwandelte, die im Moment des politischen »Sieges« zusammenbrach. … »Kommunistische« Wirtschaftsplaner wurden problemlos umgemodelt in neokonservative monetaristische Planer. Für sie war »Sozialismus« auf charakteristisch positivistische Weise nur ein Irrtum der Wirtschaftsrechnung. Die Theorie des »Grenznutzens« schien »moderner« als die Arbeitswerttheorie – und Bürokraten gehen bereitwilliger mit der vorherrschenden Mode mit als Modeschöpfer.“[9]
Das beeindruckende Fazit von Gaspar Miklos Tamás aus seinen letzten beiden Jahrzehnten politischen Engagements lautet:
„ … es schien uns, dass Versuche, das Sowjetsystem von links zu überwinden, zum Scheitern verurteilt waren, und dass wir den Preis des Kapitalismus zahlen müssten, um der Diktatur ein Ende zu setzen. Zunächst sagten wir, dass dies ein Preis war, den wir zahlen müssten, und dann wurde es, leider, zu einer Liebe. Aber sie hielt nicht. … Wenn du also heute mit dem Kapitalismus brichst, wirst du dich vermutlich sehr viel weniger Illusionen hingeben als bei den vorherigen Fällen. Wir haben all die Kompromisse schon erlebt: den alten sozialdemokratischen Kompromiss im Jahr 1914, die stalinistische Konstruktion eines tyrannischen Staatskapitalismus, den Caudillismo von rechts wie von links, den New Deal, den Nationalsozialismus, militärische Systeme, nationalistische Systeme, katholischen Korporatismus à la Seipel/Dollfuß, à la Salazar, Neokonservativismus. Die meisten vorstellbaren Versionen wurden ausprobiert, und die Probleme tauchen immer wieder auf. Als ich begann, mit dem bürgerlichen Mainstream zu brechen, gab es keinen Ersatz mehr, also musste ich zum revolutionären Marxisten werden. Ich konnte keine andere intelligente und glaubwürdige Lösung erkennen. Man muss den Fakten ins Gesicht sehen. Es ist keine bequeme Wahl oder eine Wahl, die die Mehrheit der Bevölkerung trifft, aber das ist egal. Ich denke, alle anderen Möglichkeiten haben sich erschöpft.“
[1] Gáspar Miklós Tamás, „Ich bin tief beschämt“. Interview mit Chris Harman am 24.6.2009, engl. Fassung siehe http://www.isj.org.uk/index.php4?id=555&issue=123; deutsche Übersetzung vgl. http://www.linkezeitung.de/cms/index.php?option=com_content&task=view&id=7359&Itemid=248.
[2] Ebenda, wie auch die folgenden Zitate.
[3] Dem „Ungarischen Bürgerbund“ Fidesz, eine ursprünglich liberale und dann nationalkonservative Partei, steht der heutige Ministerpräsident Victor Orbán vor. Die Christlich-Demokratische Volkspartei (KDNP) wurde 1989 unter Bezugnahme auf die Demokratische Volkspartei der „vorsozialistischen“ Zeit neu gegründet.
[4] G.M. Tamás, Interview für das ND am 14.1.2011.
[5] Ebenda, wie auch die folgenden Zitate
[6] Das ungarische Desaster. Kommentar von G.M. Tamás in der TAZ am 3.1.2011.
[7] Ebenda.
[8] Gáspar Miklós Tamás, „Ich bin tief beschämt“.
[9] Ebenda, wie auch das folgende Zitat.
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