von Anne Alex
aus telegraph #122/123
Ein Kuss konnte tödlich enden
Mit dem „Lexikon zur Homosexuellenverfolgung 1933-1945“ gibt Günter Grau ein zusammenfassendes und aktuelles Nachschlagewerk seiner bald dreißigjährigen Arbeit am Thema heraus. Er ist 1946 geboren und ist Medizinhistoriker und Sexualwissenschaftler. In der DDR der 1980er Jahre begann er, sich mit der „Homosexualität im deutschen Faschismus“ zu beschäftigen. In der DDR war zwar die Verschärfung des § 175 StGB von 1935 bereits 1950 zurückgenommen worden, wurde jedoch als Jugendschutzmaßnahme aufrecht erhalten. Erst 1968 wur- de in der DDR der § 175 StGB ersatzlos gestrichen, in der BRD erst am 10. März 1994. In der DDR blieb der § 151 StGB, der jegliche sexuelle Beziehungen von Frauen und Männern unter 18 Jahren bestrafte. In der DDR galt Homosexualität als Dekadenz der bürgerlichen Gesellschaft. Auch dort – wie ebenso in der BRD bis 2002 – wurden von den Nazis verfolgte Homosexuelle nicht als Opfer des Faschismus anerkannt. Als Aktivist der Homosexuellenbewegung in der DDR verfasste Günter Grau das Buch „Die Linke und das Laster“ über die „sozialistische Einheitsmoral“ in der DDR. 1983 initiierte er eine Kranzniederlegung zum Andenken an die homosexuellen Opfer des „Nationalsozialismus“. Als Gedenkende wurden er und seine Mitstreiter aufgefordert, die Schleifen von den Kränzen zu entfernen. U. a. gab er im Jahr 2004 den Dokumentenband „Homosexualität in der NS-Zeit“ bei Fischer heraus. Zehn weitere seiner Texte und Bücher sind im Quellenverzeichnis anzutreffen.
Prof. Rüdiger Lautmann lehrt Soziologie an der Universität Bremen und leitet das Institut für Sicherheits- und Präventionsforschung in Hamburg. Er veröffentlichte u.a. den Grundlagentext „Soziologie der Sexualität“ und darüber hinaus zahlreiche Beiträge zu Fragen der Homosexuellenverfolgung im Nationalsozialismus. Rüdiger Lautmann schrieb die Einführung zum Lexikon unter dem Titel „Emanzipation und Repression – Fallstricke der Geschichte“, in der er das Gesamtthema für die Zeit von 1933 und 1945 aufreißt, die Erfordernisse der Erinnerungspolitik beschreibt, den Stand der Forschung und die Bedeutung der NS-Erfahrung heute erörtert.
Homosexuelle und Prostituierte galten in der Zeit des deutschen Faschismus zwischen 1933 und 1945 als Prototypen der so genannten Asozialen. Die Nazis behaupteten damals, die Homosexualität würde sich epidemisch ausbreiten und zur Vergeudung der männlichen Zeugungskraft führen. Deshalb sei sie eine Gefahr für die „arisch-germanische Rasse“ /S. 132/ und speziell für die „Verwirklichung der nationalstaatlichen Utopie des Herrenmenschen“. Diese Debatten wurden im Kontext der Diskussionen über die „Geisteskranken“ und so genannter vererbter „Perversionen“ geführt. Später wurden sie auf Juden übertragen und dienten der rassenbiologischen Stigmatisierung. Entgegen der preußisch-kaiserlichen StGB aus dem 19. Jahrhundert, der „beischlafähnliche Handlungen“ unter Strafe stellte, reichten nach dem Willen der NS-Gesetzgeber bereits „begehrliche Blicke“ für eine Strafverfolgung aus. Ein Kuss zweier Männer konnte als Störung des „gesunden Volksempfindens“ zur Strafverfolgung führen. Homosexualität galt als „Entartung“, die von der Gesellschaft negiert wurden. Sie sollten keine Schonung verdienen. Ihre soziale Schädlichkeit wurde als hoch eingeschätzt. Ziele der Verfolgung waren die Zerschlagung der Treffpunkte, die Auflösung der Subkultur durch Einziehung der Betriebskonzession der Clubs und dem Verbot der Zeitschriften der Schwulen- und Lesbenbewegungen und -organisationen und Razzien in Parks. Solche Maßnahmen sollten das Verführungsverhalten von „Hangtätern“ (Wiederholungstätern), Jugend-„Verführern“, „Strichern“ eindämmen und die Reinheit der NS-Organisationen, insbesondere der Hitlerjugend bewahren. In der SS und der Polizei stand auf Homosexualität die Todesstrafe. Es gab nur diffuse Vorstellungen, Männer vom Sex mit Männern abzuhalten. Bei Androhung von Strafe sollten sie umerzogen und durch Kastration abgeschreckt werden. Außerdem gab es Hormonversuche zur „Umpolung“ der homosexuellen Männer (S. 53/157) und Anpassungstests in KZ-Bordellen. Dazu ge- hören die Experimente des dänischen Arztes Værnet 1944, der ihnen eine „männliche künstliche Drüse“ (kleine mit Testosteron gefüllte Metallkaspel) in der Leistengegend einpflanzte, wie aus Buchenwald bekannt wurde.
Die Verfolgung schwuler Männer basierte auf der 1935 erfolgten Verschärfung des § 175 RStGB. 1934 wurde zu diesem Zweck das Sonderreferat zur Homosexuellenverfolgung geschaffen. Die Verfolgung konzentrierte sich zunächst auf NS-Verbände, wie z. B. beim Röhm-Putsch. Bereits im Juli 1934 in München konzentrierte sich eine Polizeirazzia auf Homosexuelle. In ganz Bayern wurden mehrere hundert Personen festgenommen, in München allein 145. In der ausländischen Presse wurde indess verbreitet, dass die Nationalsozialisten bis zur Führungsspitze homosexuell verseucht seien. In Berlin durchkämmte die Leibstandarte „Adolf Hitler“ Anfang Dezember 1934 alle der Polizei bekannten einschlägigen Lokale und nahm etwa 2000 Personen fest, von denen etliche in KZ kamen. Ab 1935 folgte eine verschärfte Propaganda. In Frankfurt am Main begann Anfang 1936 die erste Sonderaktion der Polizei gegen Homosexuelle und mündete in 120 Verfahren. In Hamburg wurden im Sommer 1936 nach Sonderermittlungen der Gestapo 298 homosexuelle Personen fest- genommen. Im Oktober 1936 startete eine gemeinsame Sonderaktion in Bielefeld, bei der 100 Verdächtigte inhaftiert wurden. In Duisburg und Essen wurden 200 Personen festgenommen. 1937 erfolgte eine Sonderaktion gegen Homosexuelle in Lübeck, die zur Massenverhaftung von 230 Personen führte (S. 118/119). Von 1936-38 wurden in Köln vier Sonderaktionen durchgeführt, in denen bis zu 38 Personen festgenommen, und von ihnen 22 zum Tode verurteilt wurden. Bis 1939 erfolgten in verschiedenen Städten wei- tere solcher Sonderaktionen zum Aufspüren Homosexueller. Hiermit wird deutlich, welche Ausmaße die Verfolgung der Homosexuellen rasch annahmen.
Im „Dritten Reich“ wurden über 100.000 Männer in „Rosa Listen“ polizeilich erfasst, 50.000 Urteile ergingen aufgrund von §§ 175 und 175a RStGB. Allein zwischen 1933 und 1939 wurden 34.000 homosexuelle Personen, in der Hauptsache Männer, wegen einschlägiger Delikte verurteilt. 1001 voll- streckte Todesurteile gingen auf das Konto des Hauptamtes SS Gerichte (S. 124), wobei sich darunter 22 wegen homosexueller Vorkommnisse fanden, von denen 6 Urteile auf SS-Leute und 16 Urteile auf Polizeibeamte entfielen. Unbekannt ist die Anzahl derjenigen schwulen Männer, die in psychiatrische Anstalten überwiesen wurden ebenso wie diejenige Hunderter schwuler Männer, die auf gerichtliche Anordnung hin kastriert wurden. Vorhandene Zahlen zum Geschehen stammen hauptsächlich aus den Forschungen von Prof. Lautmann. Die wissenschaftliche Aufarbeitung von Verfolgung und Repression homosexueller Männer begann erst nach Jahrzehnten, obwohl die Nazis Homosexuelle zum Hauptfeind erklärt hatten. Da der § 175 StGB noch lange gegen Homosexuelle in Kraft war, paralysierte er Forschungsvor- haben. Unter dem Pseudonym Wolfgang Horkheimer akas Rainer Lenz erschien am 27. 6. 1966 ein Feature in Bremen, welches den „Rosa Winkel zur Verfolgung Homosexueller im 3. Reich“ thematisierte und verlangte, Licht in dieses dunkle Kapitel der bundes- deutschen Geschichte zu bringen. Ende der 70er Jahre erschienen weitere Studien, dar- unter von R. Lautmann (Bremen) und Jürgen Müller (Köln).
Gelungen ist die Zusammenfassung des aktuellen Forschungsstandes zur NS-Opfer- gruppe der Homosexuellen in rund 250 Beiträgen. Neben Begriffsklärungen finden sich Beiträge, die auf bestimmte Ereignisse und Aktionen (z. B. Röhm-Putsch, Blomberg-Krise) bezogen sind. Außerdem wird dargestellt wie die Verfolgung und Repression gegen Homosexuelle speziell innerhalb der Hitlerjugend, der SS, der Polizei und der Wehrmacht betrieben wurden. Es enthält auch Beispiele für die Durchsetzung der so genannten Politik gegen „175er“ in den „besetzten Gebieten“ sowie zur Situation in Konzentrationslagern. Das Lexikon umfasst eine Sammlung und alphabetische Anordnung historischer Personen (Opfer wie Täter), Gesetze und Erlasse, öffentliche Institutionen und Verwaltungen, Sonderaktionen, Organisationen, Justizpro- zesse, medizinische Begriffe, Tat-Orte und private Einrichtungen. Die Schlagworte rei- chen von „Abkehrprüfung“ bis „Zwillingsforschung“. Das Lexikon enthält eine Reihe Begriffe, deren inhaltliche Bedeutung mitunter nicht mehr eingängig ist wie z. B. Abkehrprüfung, Bewährungseinheiten, Blockwartsystem, Manneszucht, Flüsterwitz, Schuhläufer- Kommando, Drittes Reich, Wehrwürdigkeit, Volksschädling, Heimtückegesetz, Homosexuellenparagraf, Hangtäter, gesundes Volks- empfinden, Nacht der langen Messer, Hundertfünfundsiebziger /159/, Kampf gegen Schund und Schmutz /172/ Manneszucht /205/, Sonderbattalion Dirlewanger /292/ widernatürliche Unzucht /326/.
Besonderes Verdienst von Günter Grau ist es, dass im Lexikon Nachvollzüge des Lebens von zwölf homosexuellen Personen aus dieser Zeit veröffentlicht sind. Hier finden wir L. Adloff (S. 53), Elsa Conrad (S. 60), Gottfried Baron von Cramm (S. 62/63), Heinz Dörner (S. 78), Kurt Gorath (S. 116), Friedrich-Paul von Großheim (S. 118/119), Marinus van der Lubbe (S. 305/306), Leopold Obermayer /221/, Robert Oelbermann (S. 223), Verkäuferin Marie Pünjer (S. 233), Schauspieler Kurt von Ruffin (S. 260/261), Student Hans Scholl /265/266/, Pierre Seel (S. 274), Handelsvertreter Erich Starke (S. 292): Weiterhin wird über verurteilte lesbische Frauen wie Gertrude Sandmann (S. 199), Claire Waldoff, Christa Winsloe, Simone Genet, Hilde Radusch geschrieben. Mit der Veröffentlichung der o. g. Biografien will Grau Überlegungen unterstützen, ein Verzeichnis der namentlich bekannten Opfer zu erstellen. Allerdings gibt es Probleme mit der Zuordnung und eine schwierige Quellenlage. Es gibt z. B. keine Untersuchungen der Strafakten der Wehr- macht.
Außerdem ist der Lebenslauf von Adolf Brandt (S. 48/49) angeführt, der sich als Initiator einer Homosexuellenvereinigung als Verleger und Publizist betätigte. Durch fünf Razzien in seiner Wohnung und der vollständigen Beschlagnahme seines Material- und Fotoarchivs verlor er seine Existenzgrundlage. Fritz Gerlich, ein Widerstandskämpfer, machte Gerüchte über „homosexuelle Nazis“ in der Öffentlichkeit publik und wurde deshalb zum Hassobjekt der Nazis (S. 107). Er wurde von den Nazis 1934 umgebracht. Heinz Heyer (S.128) alias Josef Kohout hat das Buch „Die Männer mit dem rosa Winkel“ nach dem Manuskript eines Interview von Hans Neumann mit ehemaligen Gefangenen herausgebracht. Auch Gustav Gründgens Schicksal ist im Lexikon zu finden. Der prominente Schauspieler stand unter dem persönlichen Pa- tronat von Hermann Göhring und wurde nur deshalb nicht verurteilt. Prominente homo- sexuelle Künstler genossen einen gewissen Schutz, denn Heinrich Himmler behielt sich vor, höchstpersönlich über eine strafrechtliche Verfolgung zu entscheiden (S. 121). Max Lorenz wurde verurteilt, konnte aber nach Strafverbüßung wieder in Bayreuth mitwirken. Aber O ́Montis kam im KZ Sachsenhausen um.
Gleichzeitig erscheint im Lexikon eine Vielzahl an Biografien von Medizinern, Psychiatern und Militärs, die als Täter für diese spezielle Verfolgung (mit-)verantwortlich sind.
Günter Grau hat außerdem Stichworte zur Bevölkerungspolitik und der Frauenpolitik sowie ein Schlagwortverzeichnis, dass sich mit der Situation von Lesben während dem Nazi-Regime befasst, aufgenommen. Das Lexikon enthält Beschreibungen zur Lage Homosexueller in den Diktaturen Italiens (S.162-164) und Spaniens. 1936 setzt die Ermordung Frederico Garcia Lorcas das Signal zur Ausweitung der Homophobie, aber erst in den 1950er Jahren werden spezielle Gesetze erlassen.
Ambitioniert ist auch das vierzig Seiten um- fassende Quellenverzeichnis aus Enzyklopädien und Lexika, Monografien, Sammelbänden und Zeitschriftenaufsätzen vor und nach 1945 und Bildnachweisen.
Mit der Herausgabe des Lexikons will Günter Grau die Erinnerungsarbeit anstoßen und strebt eine Versachlichung des Themas an. Das vorgelegte Lexikon soll ein Nachschlagewerk zur Information sein, das alles zusammenfasst. Es sind hier gesicherte Fakten bezüglich der Datierung und der Quellenangaben zusammengefasst.
Zur Präsentation seines Buches in der Topographie des Terrors am 8. Februar 2011 machte der Herausgeber darauf aufmerksam, dass es bis heute für die Geschichte der homosexuellen Opfer des Nationalsozialismus kaum Forschungsmittel gegeben hat, obwohl sich ausreichend Menschen mit den verschiedensten qualifizierten Forschungsanträgen um solche Mittel beworben haben. Auch die Zeit der 1950er und 1960er Jahre, als in der BRD Männer wegen Homosexualität verfolgt wurden, ist ein weißer Fleck in der Forschung. Dies sind Fingerzeige dafür, wie politisch brisant dieses Thema noch heute von politischen Kräften in den deut- schen Bundesregierungen eingeschätzt wird. Die Erinnerungspolitik der Bundesrepublik Deutschland gehört zum kulturellen Erbe dieses Landes. Es muss alle diejenigen ein- schließen, die im Hitlerfaschismus verfolgt und vernichtet wurden, z. B. die Homosexuellen, die „Asozialen“. Damit dies möglich wird, ist Wissen über die Prozesse und die involvierten Personen erforderlich. „Dazu gehört die Ergründung aller Einzelheiten und ihres Zusammenhangs. Daran hapert es, auch wenn in den letzten Jahren gehaltvolle Studien erschienen sind.“ Appelle reichen hier nicht aus.
Die Einzelbeiträge und Schlagworte im Lexikon sind didaktisch gut aufgebaut und inhalt- lich sehr präzise dargestellt. Die Begriffsdarlegungen regen dazu an, sich genauer damit zu befassen, um Kontinuitäten und Brüche der damaligen Entwicklung heute nachvollziehen zu können. Das Lexikon ist außerordentlich lesenswert, da auch mit dem Thema bisher nicht Befasste sehr gut aufgeklärt werden, wie sich historisch die Verfolgung von Homo- sexuellen entwickelte, gezeigt wird, was im Einzelfall passierte und erklärt wird, welche ideologischen Anleihen die Nazis für ihre Agitation und Propaganda gegen die Homo- sexuellen nahmen.
Grau, Günter: Lexikon zur Homosexuellenverfolgung 1933-1945. Institutionen – Personen – Betätigungsfelder, LIT Verlag Dr. Wolfgang Hopf, Berlin, 2011, 392 S., ISBN 978-3-8258-9785-7
Mitgefangen – mitgehangen
Lang, lang ist es her. Zu erinnern scheint sich niemand mehr. Das könnte meinen, wer das Buch von Hinrich Garms zum „Co- Management ostdeutscher Betriebsräte“ liest. Das Buch erschien 2008 nicht etwa bei renommierten Verlagen, die ansonsten wissenschaftliche Fachliteratur über die Gewerkschaften herausgeben. Sondern es wur- de letztendlich beim Verlag der Arbeitsgemeinschaft Sozialpolitischer Arbeitskreise (AG SPAK) produziert. Das ist ein Verlag, der hauptsächlich Texte zur Anarchie, zur Gemeinwesenorganisation und zur Selbsthilfe ausgegrenzter gesellschaftlicher Gruppen herausgibt.
Vorbeigewünscht oder was?
Als ich vorletztes Jahr Hinrich Garms’s Dissertation, die Grundlage des vorliegenden Buches, zum ersten Mal las, kam mir alles sehr unwirklich vor, so als wenn diese Zeit der 1990er Jahre bereits Jahrhunderte zurück- liegt. Ich stellte mir die Frage, was das wohl bringen könne, noch einmal über die Zeit der „Nachwende“ nachzudenken und zu schrei- ben. Ich kann mich daran erinnern, dass ich schon damals von der Gesamtthemenstellung nicht so recht überzeugt war. Was sollte soziologisch betrachtet da herauskommen? Sind die ostdeutschen Betriebsräte tatsächlich übermäßig durch ihre Sozialisationsmus- ter in ihren Verhaltensweisen als betriebliche Interessenvertretungen beeinflusst? Wieso erschienen in der Untersuchung gerade die- se Betriebsräte so besonders interessant? Führen nicht dieselben kapitalistischen ökonomischen Rahmenbedingungen und die ökonomische „Flurbereinigung“ der Ostkombinate durch westdeutsche Konzerne in den ehemaligen Ostbetrieben zu denselben Handlungsmustern der Betriebsräte wie im Westen?
Im Mittelpunkt des damaligen Interesses des Autors stand die Auseinandersetzung der Gewerkschaften mit der „außergewöhnlichen Herausforderung“ – also der „Umbruchsituation im Osten Deutschlands“. Hiermit ist die Aneignung der ehemaligen volkseigenen DDR-Kombinate und Betriebe durch das westdeutsche Kapital in Form von Zerschlagung, Verkleinerung, Entkernung oder Umwandlung in bedeutungslose Klitschen gemeint. In dieser Zeit und in diesem Zusammenhang hatten DDR-Betriebe mit der Auseinanderlegung von Kombinaten, der Verschlankung der eigenen Betriebsstrukturen auf Kernbereiche und der Schließung ganzer Betriebsteile, mit Entlassungen durch den Abbau der Wasserköpfe (Verwaltungsbereiche), der Einführung neuer Technik, der Verschrottung gesamter Maschinenparks oder mit dem Raubes ihres Eigentums durch westdeutsche Unternehmen, der Erweiterung oder Reduzierung der Produktpalette zu kämpfen.
Ich erinnere mich noch, wie der westdeutsch sozialisierte und diplomierte Soziologe Hinrich Garms mit seinem gewerkschaftskritischen Blick ganz freundlich und neugierig auf die ostdeutschen KollegInnen zuging. Er freu- te sich, mit ihnen über gewerkschaftliche Themen und die Aufgaben und Grenzen gewerkschaftlicher Interessenvertretung zu sprechen. Noch zu Beginn der 1990er Jahre erhoffte er sich eine massive kämpferische Opposition ostdeutscher KollegInnen gegen die „Westanpassung“ bzw. die Transformation damals sozialistischer volkseigener Betriebe (VEB) und Kombinate hin zu kapitalistischen Unternehmen.
Ich selbst kam aus der „anderen Welt“, der DDR. Mir war diese Hoffnung nicht eigen, dass betriebliche Abwicklungen der DDR-Betriebe wie ich sie schon damals nannte, auf große Gegenwehr stoßen würden. Denn ich erinnerte mich noch an die klaglose Waffenabgabe der Kampfgruppen der DDR. Nach meiner Ansicht war dies die eigentliche bedingungslose Kapitulation der DDR-Arbeiterschaft und ihrer Partei vor dem Kapital. Wozu hatten die Genossen sich viele Wochenenden in ihrem Leben mit Ausbildung an Waffen für den Ernstfall um die Ohren geschlagen? Wozu waren ob dieses Engagements Ehen und Familien zerbrochen? Wo war der Idealismus und das Einstehen der Werktätigen für die sozialistische deutsche Republik geblieben als es wirklich darauf ankam? Nirgendwo. Alles wurde diszipliniert erledigt, selbst die eigene Abwicklung bis hin zur Kündigung des Arbeitsverhältnisses. Und in eben dieser Zeit verloren eben viele ehemalige Werktätigen ihre Hoffnung da- hingehend, dass man in Kämpfen, solchen betrieblichen Kämpfen eben irgendeinen Blumentopf gewinnen könnte. Die haupt- sächliche Grundeinstellung vieler „Ossis“ im erwerbsfähigen Alter mit Kindern war nur noch diejenige: irgendwie durchkommen und die Kinder groß kriegen. Gleichzeitig waren sich viele (Noch-)Beschäftigte bewusst, dass die verbleibenden Ostunternehmen künftig nichts weiter als „die verlängerte Werkbank“ des Westens sein würden. Bereits 1994 war ja dann auch schon nur noch die Rede von DDR-Betrieben als „Kathedralen in der Wüste“. Nicht dran denken, Schwamm drüber? Diese Frage könnte ich mir beim vorliegenden Buch stellen. Dennoch lohnt es sich, doch noch einmal zu gucken, was wir aus der Vergangenheit lernen können und wo die Stär- ken und Schwächen des Untersuchungsansatzes liegen.
„Treuhand“ oder Vernichtungsmaschine? Auch der Autor ahnte seit Beginn der 1990er Jahre, dass es hier nicht – wie in der Presse behauptet – um Transformation von DDR- Betrieben, sondern gerade mit der Treuhandanstalt ganz klar um die Abwicklung der DDR-Industrie ging. Aufgrund dieser sehr richtigen Vermutung beobachtete Hinrich Garms den Prozess der Entwicklung und der Aktion Interessenvertretung der ostdeutschen Beschäftigten durch die bereits seit 1990 neu gewählten Betriebsräte in den neuen Bundesländern. Auf diesen Gedanken war er gestoßen, da er ehrenamtlich in der Initiative der ostdeutschen und Berliner Betriebs- und Personalräte von 1990-1994 und dem Bündnis kritischer GewerkschafterInnen Ost/West aktiv war.
Diese Betriebsräte waren mit der Treuhandanstalt (THA) konfrontiert. „Die Idee mit der Treuhandanstalt wurde in der Zeit der Mo- dorw-Regierung von klugen Wissenschaft- lern erfunden, mit klugen Bürgerrechtlern diskutiert und vom Runden Tisch akzeptiert.“ – schreibt Kathrin Gerlof in der clara1. Die Gruppe um Wolfgang Ullmann2 soll „die Treu- hand“ erfunden haben. Der Irrtum, dass die THA allein eine Erfindung der ostdeutschen Modrow-Regierung war, ist weit verbreitet. Tatsächlich kam eine Treuhand-Idee bereits im „berüchtigten“ Forschungsbeirat für Fra- gen der Wiedervereinigung Deutschlands, der 1952 von der Adenauer-Regierung gegründet wurde, auf. Die Aufgabe dieser Einrichtung bestand darin, für den Tag der Wiedervereinigung Vorschläge für die Abwicklung der einzelnen Vorgänge einer Währungsumstellung und für die Wiederangliederung ostdeutscher Gebiete zu entwerfen3. Der Beirat stand unter der Leitung von Dr. Friedrich Ernst, der seit 1940 Hitlers Reichskommissar für die Verwal- tung des feindlichen Vermögens war. In dieser damaligen Funktion war er maßgeblich an der Ausarbeitung der Richtlinien für die Wirtschaft der besetzten Ostgebiete beteiligt, die später unter dem Namen „Grüne Mappe“ bekannt wurden. Diese Richtlinien bildeten eine wichtige Grundlage für den Wirtschaftsstab Ost (WiStab Ost) zur Ausbeutung der eroberten Ostgebiete 4. Von 1952 bis 1958 war er Vor- sitzender des „Forschungsbeirates für Fragen der Wiedervereinigung Deutschlands“. Jede Berufung der Mitglieder bedurfte der Zustimmung des Vorsitzenden. Der Forschungsbei- rat erarbeitete eine Vielzahl von Detailplänen zur Liquidierung der Deutschen Demokratischen Republik (DDR), in deren Mittelpunkt die Rückverwandlung der Eigentumsverhältnisse an den wichtigsten Produktionsmitteln in Stadt und Land sowie die Wiedereinführung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung standen. Auch die „Einsetzung von Treuhändern“ bis hin zu ihren Befugnissen im Einzelnen spielten eine Rolle. Ralph Hartman behauptet in seinem Buch „Die Liquidatoren“ sogar, dass der Treuhandgedanke auf den o. g. Forschungsbeirat zurückgeht. Er zitiert aus den damals einer Treuhand zugeschriebenen Aufgaben, die in der Tat den Treuhandstrukturen der 1990er Jahre und ihren speziellen Aufgaben sehr ähneln. Entsprechend der Treuhand-Bilanz 1994 wurden von 12000 Unternehmen 8000 privatisiert und kommunalisiert. 4000 Unternehmen wurden liquidiert. 1990 verwaltete die Treuhand vier Millionen Arbeitsplätze, 1994 nur noch eineinhalb Millionen Arbeitsplätze in der Privatwirtschaft. Von den privatisierten Unternehmen gingen 87 Prozent an westdeutsche, sieben Pro- zent an ausländische und sechs Prozent an ostdeutsche Investoren5. Eine Lehre hieraus ist, nicht blindlings vom Staat und der Politik geschaffenen Institutionen zu vertrauen, sondern sich zu informieren, welche Ideen und Absichten bereits vorher unter ähnlichen Schlagwörtern bestanden haben.
Unrealistische Hoffnungen?
Allein wegen dieser Bilanz lohnt es sich, doch nochmal zu schauen, welchen Beitrag in der Zeit von 1990-1994 Betriebsräte zur Gegenwehr bzw. zum Betriebserhalt leisten konnten. Hierzu gibt das vorliegende Buch mit Interviews von damaligen Betriebsräten und IG-Metall-Vertretern Auskunft über die Aktivitäten der untersuchten Betriebe. Denn seit 1990 redete nicht nur die THA direkt in die neue ostdeutsche Unternehmenspolitik hinein. Unterwegs sind auch IG Metall und diverse Unternehmensberater. Beide wollen Managern und Betriebsräten Einblick in neue Managementstrategien (Lean production, Gruppenarbeit) geben. Und beide vertreten die Auffassung, dass es in der Ex-DDR viel einfacher, ja selbstverständlicher sein müsste, zwischen Belegschaft und Betriebsleitung ein WIR-Gefühl für die schlanke Betriebsweise herauszubilden.6 Denn immerhin galten die dort Arbeitenden ja als ehemalige Eigentümer „ihres“ Betriebes.
Aus dieser Annahme bildet sich die von Garms so bezeichnete „dritte Position“ heraus, nämlich diejenige, dass es „eine spezifische ostdeutsche soziale Lage und Mentalität“ gäbe (S. 9), die das Handeln der Betriebsräte vielleicht maßgeblich beeinfluss- te. Daraus ebenfalls leitete sich die klassen- kämpferische Hoffnung des Autors gegen- über dem Agieren der Betriebsräte ab. Seine Haltung baut darauf, dass die Ostdeutschen wichtige Erfahrungen mitbringen, wie diejenigen aus den ökonomischen Bedingungen für die Gleichberechtigung der Frau, gesicherte Lehrstellen, rationelle Formen der Organisation des Gesundheitswesens und kostenloser Zugang für jede/jeden dazu, mit der Anstellung der in der Kultur Beschäftigten, mit der genossenschaftlichen Agrarproduktion und der interdisziplinären Arbeit an den Universitäten. Es wird unterstellt, dass dies u. a. feste Orientierungspunkte für Kampfpositionen der Betriebsbelegschaften sind.
Entsprechend den von H. Kotthoff7 erarbeiteten Typologien und der Befragung von 30 Betriebs- und Belegschaftsmitgliedern, im quantitativen Teil von 99 Betriebsrats- und Belegschaftsmitgliedern untersuchte Hinrich Garms die Verhaltensmuster ostdeutscher Betriebsräte. Nach qualitativen Interviews mit Experten der IG Metall, Betriebsräten, Vertrauensleuten und Belegschaftsmitgliedern wurden halbstandardisierte Fragebögen erstellt, von denen 180 Stück in 28 Betrieben verteilt wurden. (S. 55) Ein Ziel der Untersuchung war herauszufinden, welche politisch-sozialisatorisch bedingten Prägungen und Einstellungen das Handeln der Betriebsräte bestimmen und welche Einstellungen zur Zeit der Untersuchung insbesondere bezüglich des Umbruchs von vorhandenen Produktionsstrukturen und bei der Einführung neuer Produktionsstrukturen, von Lean production und/oder Gruppenarbeit oder auch bezüglich anderer Formen arbeitsorganisatorischer Veränderung handlungsleitend sind. Von besonderem Interesse ist weiterhin das Verhältnis der Betriebsräte zur Gewerkschaft und die Bedeutung der institutionellen Regelungen der industriellen Beziehungen für ihre Handlungen, des Weiteren, ob sich hieraus Typologien entwickeln lassen, die entweder mit den in der westdeutschen Forschung entwickelten übereinstimmen oder von diesen ab- weichen. (S. 47) Diese sozialen Beziehungen waren u. a. bereits von Gisela Kottwitz und Jürgen Kädtler8 erstmals untersucht worden. Aus der Literaturanalyse und den Expertengesprächen ergibt sich folgende Typologie, der der Autor den Typus des „Ersatzmanagers“ hinzufügt:
– Betriebsrat als Organ der Geschäftsführung und Standort der Anpassung, Duldung, Zustimmung, - „Konsensfabrik“
– Betriebsrat betreibt harmonisches Co-Management mit Geschäftsführung,
– Ersatzmanagement des Betriebsrates, z.B. bei der Einführung neuer Technologien, - konfliktorischer, kämpferischer Betriebsrat, der auch Gegenwehr organisiert. (S. 57)
Unter „Ersatzmanager“ versteht er solche Betriebsräte, die sich von sich aus aktiv um Investoren für den jeweiligen Treuhandbetrieb gekümmert haben, selbst Konzepte zum Erhalt, zur Produktionsumstellung des Betriebes, zu Produktionslinienentscheidungen, betriebsorganisatorischen Entscheidungen oder innovativen Arbeitszeit- und arbeitsorganisatorischen Regelungen angeboten haben. Sie sind „bei der Geschäftsführung als auch bei der Belegschaft als kompetenter Betriebsrat und mit großem Einfluss präsent“ (S. 125), u. a. auch deswegen, weil sie ein hohes Maß an Allgemeinwissen und betrieblicher Qualifikation in das betriebliche Geschehen einbringen (Vgl.: S. 128). Sowohl Kädtler/ Kottwitz/ Weinert als auch Garms schätzten ein, dass dieses spezielle Handlungsmuster „kritischen Co-Managements“ über die Zeit des Beginns der 1990er Jahre auch in der Zukunft in ostdeutschen Unternehmen von Seiten der Betriebsräte erhalten bleibt. Dar- aus erwachsen nach Auffassung des Autors weitergehende Möglichkeiten für gewerk- schaftliche Mitbestimmung (S. 130), z. B. bei Gruppenarbeitskonzepten.
Zwiespältiger Gewerkschaftseinfluss
Die relative Lethargie und Resignation der ehemaligen DDR-Beschäftigten wurden durch das Handeln der Gewerkschaften ver- festigt, obwohl die Betriebsräte und Belegschaften sich in kommenden Streiks kämpferischer zeigten als der IG Metall lieb war. Dies wird am Beispiel der Streiks der IG Metall im Frühjahr 1993 deutlich. Im Jahre 1993 fand aus Anlass der Kündigung des gültigen Stufentarifvertrages durch den Arbeitgeberverband der erste Streik der IG Metall in Ostdeutschland statt. Die Kündigung des Tarifvertrages folgte kurz vor dessen geplantem Inkrafttreten. Es ging in dieser Tarifrunde um die Einhaltung der im gleitenden Tarifvertrag von 1991 festgeschriebenen und zum 1. April 1993 wirksam werdenden Anhebung des tariflichen Grundlohns von 71% auf 82% des damals geltenden Westtarifs, gemessen an der Lohngruppe 5″ (S. 65/66). Verglichen mit dem Effektivlohn waren dies jedoch 44% bzw. 60% des vergleichbaren Entgelts, weil zudem die ostdeutschen Beschäftigten vier Stunden länger wöchentlich arbeiteten und sechs Tage weniger Urlaub im Jahr erhielten. Trotz Kämpfen der ostdeutschen IG Metall-GewerkschafterInnen kam ein Ergebnis he- raus, mit dem sie nicht da core gingen: Verschiebung der Lohnangleichung, Streckung der Stufen, Aufweichung des Prinzip des Flächentarifvertrages durch eine Härteklausel bei weiterem Bestehen der Rahmenbedingungen, die da hießen: 40-Stunden-Woche, weniger Urlaub etc. Betriebsräte, die später an den IG Metall-Vorstand in Frankfurt am Main schrieben, meinten, dass sie von der Gewerkschaft „kampflos in die Niederlage geführt worden“ seien.
Zudem erwies sich die IG Metall als wenig hilfreich, als es um die Einführung neuer Managementstrategien wie Lean prodaction und Gruppenarbeit in den ehemaligen DDR- Kernbetrieben ging. Hierin hat die IG Metall eher gebremst, als die positiven Aspekte dieser Technologien nach den Interessen und Erwartungen der Beschäftigten zu unterstützen. Die IG Metall-Gewerkschaften haben selber eher eine begleitende Funktion bei der Transformation ostdeutscher Unternehmen in Arbeitsförder-, Beschäftigungs-, Strukturentwicklungs- und Qualifizierungsgesellschaften (nach meiner Ansicht – Abwicklungsgesellschaften) eingenommen und Kämpfe um den Erhalt und die Selbständigkeit der Ost- betriebe gar nicht hinreichend unterstützt, da sie selbst eher die westdeutsche „Kollegen“- Konkurrenz halten wollten. Aus solchen Grün- den fühlten sich die Ex-DDR-Beschäftigten eher wenig aufgerüttelt und unterstützt als umso mehr allein gelassen bzw. an der Nase herumgeführt. Eine Lehre daraus war für sie, dass sie den Gewerkschaften und deren Kalkül nicht vertrauen können, und nur deren Jongliermasse sind. Gleichwohl sehen 25 Prozent der Befragten in der quantitativen Befragung durchaus einen Einfluss der Gewerkschaften auf die Bildung der Betriebsräte. Inwieweit sich Gewerkschaften zur Verteilung der Arbeitszeit und zur massiven Überstundenproblematik in den in dieser Arbeit befragten Betrieben eingesetzt haben, ist nicht zu erkennen, sondern nur, dass Überstunden durchaus ein großes Problem waren. Deutlich gedämpft fallen die Antworten zur Rolle der Gewerkschaften für die jetzige Zeit dann auch aus. Nur 4,3% finden, dass mit den Gewerkschaften und ihren Beziehungen zum Betrieb alles in Ordnung ist, der Rest findet das nicht. Allerdings finden 75,7% die Mitgliederkontakte der Gewerkschaft aktiv genug, was keine positive Aussage sein muss. 17,9% meinen, dass sie sich aktiver für Mitgliederinteressen einsetzen sollten (S.161). In seinen Schlussfolgerungen stellt Hinrich Garms fest, dass die Unzufriedenheit mit der Gewerkschaft um so größer war, um so weiter diese vom jeweiligen Betrieb entfernt war.
Klassenkampfspielraum gering
Die Spielräume zu einer kämpferischen Interessenvertretung hinsichtlich der Beschäftigungsbedingungen und dem Schutz vor Arbeitslosigkeit Anfang der 1990er Jahre für die ostdeutschen Betriebsräte waren ausgesprochen gering. Das hatte folgende Ursachen: Ostdeutsche Unternehmen waren in dieser Umbruchphase ökonomisch an die Treuhandanstalt gebunden, sahen sich ständig mit etwaigen interessierten Käufern bzw. Abwicklern und Entlassungswellen konfrontiert. Nach der vorliegenden Untersuchung waren Kündigungen das Hauptproblem (S.142). Dies hat sehr viel ökonomische Eigeninitiative von Beschäftigten und Betriebsräten aus- gebremst bzw. von vorn herein beschnitten. Ostdeutsche Betriebsräte haben sich zudem nicht hinreichend informiert, welchen Auftrag die Treuhandanstalt im Umgang mit ostdeutschen Betrieben tatsächlich hatte oder haben ihn teilweise einseitig interpretiert. So er- scheint im Ergebnis der Untersuchung, dass 12,5% der untersuchten Betriebe Probleme mit der Privatisierung des Betriebes hatten. Bei genauem Hinsehen über Genese und Aufgabenstellung wäre eine ostdeutschland- weite bzw. sogar BRD-weite Verbündung von Unternehmen und Betriebsräten gegen diesen CDU-Politikansatz möglich gewesen. Den hätte möglicherweise die IG Metall nicht unterstützen können, da sie auch Betriebsräte in westdeutschen Konkurrenzunternehmen vertrat. Ebenso haben GewerkschafterInnen und Betriebsräte aus dem Westen wegen eigener Erwerbsinteressen eigentlich keine Vertretung ostdeutscher Betriebserhaltsinteressen gewollt und dadurch direkt die politische und ökonomische „Flurbereinigung“ unterstützt. Letztendlich haben die Gewerkschaften nicht ihre eigentliche Rolle wahrgenommen und die Konkurrenz unter den „Arbeitern“ nicht vermindert. Im Gegenteil – die Führungsspitze der IG Metall hat eine Seite von Arbeitern „glatt über den Tisch gezogen“, wie es ein ostdeutscher Betriebs- rat 1996 mir gegenüber ausdrückte. Aber aus der einzelbetrieblichen Perspektive gab es nichts zu verteidigen, außer dem letzten Hemd, was den Beschäftigen als Untergehende einer kollektiv organisierten Ökonomie schon längst vom Leib gezogen war. Gleich- wohl hatten sich ostdeutsche Betriebsräte mit Interesse der Möglichkeit zugewandt, die Löhne ihrer Beschäftigten unter einem Tarifvertrag anzusiedeln. Dies durchzusetzen war eines der größten Probleme der ostdeutschen Interessenvertretungen, wie 15% der betrieblich Befragten angaben (S. 142). Ostdeutsche Betriebe mussten sich im Wan- del zu kapitalistischen Unternehmen objektiv „neu aufstellen“. Dies erforderte ihren Zu- schnitt auf das Kerngeschäft und eine erforderliche Trennung von sozialen Einrichtungen und integrierter Zulieferabteilung sowie eine fachliche Auswahl der leistungsfähigsten Beschäftigten. Dadurch war die Aufgabe der Betriebsräte bereits auf einen Teil ihrer Rolle reduziert: nämlich auf die Zustimmung zu ordentlichen Kündigungen wegen drohender Betriebsschließung und die Wahrung der Beschäftigteninteressen mittels Abfindungen oder, scheinbar jedenfalls mittels Qualifizierungs- und Beschäftigungsgesellschaften (BQG), deren Existenz und Ausgestaltungsmöglichkeiten nach dem damals geltenden Arbeitsförderrecht (AFG) vorgegeben waren. Aus der Sicht der AFG-Regelungen erschien die damals vom IG Metall Vorstand aufgemachte Alternative für die Unternehmen, Belegschaftsbetriebe zu bilden, bereits als sattes Wunschdenken. Denn einer solchen Variante hätten die meisten Betriebsbelegschaften gar nicht zustimmen können, da für die Beschäftigten mit den BQG die Möglichkeit der länger andauernden Lohnzahlung gesichert war. Spätestens an dieser Stelle war mir damals klar, dass eine gewerkschaftliche Interessenvertretung der IG Metall bedeutet hätte, dem Arbeitsförderrecht mehr Aufmerksamkeit zu schenken. So wurden Vorschläge produziert, die zum Zeitpunkt ihrer Präsentation bereits schon nicht mehr umsetzbar waren.
Die IG Metall hatte gleich 1990 versucht, DDR-Belegschaften über das Betriebsverfassungsrecht und das Arbeitsrecht zu informieren. Sie ging allerdings in ihrem Herangehen davon aus, dass sie die DDR-Betriebe eins zu eins mit den Westbetrieben und Betriebs- räten behandeln kann, wie sie das auch von 1992-1995 bei dem Versuch ausdrückte, ostdeutsche Unternehmen hinsichtlich der Einführung von Lean production mit Gruppenarbeit zu vertreten. Aufgrund ökonomischen Drucks der THA liefen selbst diese Beratungen ins Leere, denn sie waren wegen dem Ziel der totalen Abwicklung der DDR- Betriebe nur „gut gemeint“.
Ab einem gewissen Zeitpunkt befand sich ein Teil ostdeutscher Unternehmen trotz voller Auftragsbücher wegen Aufträgen aus dem In- und Ausland aufgrund der Treuhandmaßgabe trotzdem vor der Schließung. In diesem Moment gab es über ein Co-Management hinaus natürlich einen Schulterschluss zwischen Betriebsräten und Geschäftsführungen. Im historischen Rückblick erscheint mir daher das Verhalten der ostdeutschen Betriebsräte vorrangig durch die ökonomischen Notwendigkeiten und politischen Verlangen der Bundesregierung mittels der Gesetzgebung geprägt gewesen zu sein als um so nachrangiger durch ihre eigenen Sozialisationserfahrungen, die neu gewählte Beschäftigtenvertretungen aus der DDR mitbrachten. Denn ihre Gegenüber (die Geschäftsführer) erschienen unter diesen speziellen ökonomischen Verhältnissen weniger als Vertreter eines gesellschaftlichen Gesamtkapitalisten, sondern mehr als Interessenvertreter der Beschäftigten wie vergleichsweise in Belegschaftsbetrieben. Die Hoffnungen und Träume der linken GewerkschaftskritikerInnen auf eine massive kämpferische Opposition der ostdeutschen Betriebe und Belegschaften gegen eine Westanpassung sind u. a. deshalb wie Seifenblasen zerplatzt. Zwar gaben im Ergebnis nur 40 Prozent der Befragten in diesem Buch an, dass der Betriebsrat auf Druck der Belegschaft gewählt wurde, aber auch 27% sagten, dass dies durch die alte Abteilungs- bzw. Betriebsgewerkschaftsleitung geschah. Währenddessen waren 49,4% der Befragten der Ansicht, dass die Belegschaft bei Konflikten des Betriebsrates mit der Geschäftsführung gespalten ist. „Die Spaltung läuft entlang der Linie, dass ein Teil der Belegschaft die Betriebsräte bei Konflikten unterstützt, ein an- derer Teil sich bei Konflikten als passiv, nicht kompetent oder nicht interessiert bezeichnet (S. 143).“ Verhalten fällt auch das Resümée des Autors zu den Ergebnissen seiner Untersuchung aus: Seitens der Sozialisationserfahrungen ostdeutscher Betriebsräte konstatiert er, dass sie soziale Erfahrungen und solidarisches Umgehen, wie sie es aus der DDR kennen, vermissen. Dazu gehören Mitmenschlichkeit, gegenseitige Hilfe, Zusammenarbeit ohne gegenseitiges Mißtrauen, die Beschäftigung miteinander nach der Arbeit und das Wegfallen persönlicher Nischen. Als neu und weniger schön, eher störend nehmen sie wahr, dass es jetzt „nur noch um die Arbeit geht“, und um nichts anderes mehr. Daraus leiten sie eine wachsende Entsolidarisierung der Beschäftigten ab. 37,2 % geben an, dass es in der DDR „menschlicher“ war und im Betrieb „mehr soziale Kontakte“ gab. 28,1% meinten, dass es mehr kulturelle Erlebnisse gab. Immerhin 16,5,% empfanden die Arbeit in Gruppen und Kollektiven in der DDR als positiv. (S. 149) Betriebsräte und Beschäftigte hatten jedoch völlig andere Vertretungsansprüche an ihre betrieblichen Interessenvertretungen als in der DDR. Die meisten Befragten schätzen ein, dass BGL/ AGL/Vertrauensleute in der DDR sich zwar überwiegend mehr oder weniger selbständig für die Beschäftigten eingesetzt haben, sie allerdings ganz andere Aufgaben hatten und eine ganz andere Rolle spielten als Betriebs- räte nach dem Betriebsverfassungsgesetz. (S. 149)
Ostdeutsche Betriebsräte agieren im Prinzip objektiv genauso, wie es in einer solchen Situation auch westdeutsche Betriebsräte in Phasen unklar scheinender Entwicklungsbrüche von Unternehmen getan hätten – nämlich überwiegend mit einem Co-Management zum Erhalt des Betriebes. Die Frage, ob Ost-Betriebsräte anders sind als West-Betriebsräte beantworten 56,6% der Befragten mit einem klaren „Nein“. (S. 159) Zumindest hinsichtlich der Beteiligungserfahrungen der Beschäftigten an betrieblichen Fragen wird deutlich, dass sie hier auf DDR-sozialisatorische, betriebliche Erfahrungen zurückgreifen konnten. Denn 54% der Befragten hatten Erfahrung mit der Beteiligung in der DDR, darunter 60,6% im Neuererwesen und davon 30,6% positiv. Vorerfahrungen mit anderen For- men des Wettbewerbswesens hatten sogar 82,8%, darunter 48,1% mit dem „Sozialistischen Wettbewerb“, 29,5% mit der „Messe der Meister von Morgen“ (MMM) und 19,2% mit Jugendbrigaden. Sogar 73,5% hatten in der DDR aktiv Verbesserungsvorschläge ge- macht. 44,4% der Befragten gaben an, dass es ihnen aufgrund dieser Erfahrungen leichter gefallen ist, mit neuen Produktionskonzepten umzugehen. Diese Ergebnisse sind zumindest für westdeutsche Unternehmer.
Die eigentliche Stärke der Untersuchung ist, dass überhaupt genauer nachgefragt wird, welche Sozialisationserfahrungen ost- deutsche Beschäftigte mitbringen und was sie erwarten. Allerdings erscheint mir die Palette der abgefragten Sozialisationserfahrungen, Normerfahrungen und Werte zu eingeschränkt. Interessant sind zwar die Eigenzuschreibungen der Befragten auf S. 158, wie z. B. „Ostdeutsche sind besser qualifiziert als Westdeutsche.“ Oder: „Ostdeutsche sind selbständiger als Westdeutsche.“ Oder: „Ostdeutsche sind wesentlich kollegialer als Westdeutsche“. Aber ob Ostdeutsche tat- sächlich „glaubhafter“, „solidarischer“, „sozialer“, „harmonischer“, sind als Westdeutsche hätte m.E. auch Befragungen von West- deutsche bedurft. Denn bei einem Seminar von Hinrich Garms und mir 1996 an einem Wochenende in Pichelssee mit ostdeutschen und westdeutschen Betriebsräten sind wir bei einer konfliktorientierten Befragung zu ganz anderen Ergebnissen gelangt: Denn die Begriffe „solidarisch“ und „sozial“ waren aus der Perspektive eines nunmehr kapitalistischen Unternehmens und ganz anderen Aufgabenstellungen der Interessenvertretungen plötzlich völlig anders seitens der Erwartungshaltungen besetzt. Damals fanden selbst ostdeutsche Betriebsräte mehrheitlich die westdeutschen KollegInnen „solidarischer“ und „sozialer“ als die ostdeutschen. Ebenso war keine Gruppe von beiden mehr oder weniger harmonisch, sondern eher genauso konfliktscheu. Auch wurden in dieser Entwicklungsphase natürlich Westdeutsche „egoistischer“, „chaotischer“, „hierarchischer“ und „rechthaberischer“ wahrgenommen, da diese die Definitionsmacht der neuen Westgesellschaft mitbrachten und westdeutsche betriebs- und sozialpolitische Umstände in ostdeutsche Betriebe einführten bzw. dort ihre westdeutschen Sozialisationserfahrungen für das Überleben der ostdeutschen Betriebe erheblich wichtiger waren, was man der Ehrlichkeit halber auch sagen muss. Demzufolge erscheinen mir die Wertungen und Wichtungen der erlangten Aussagen aus der quantitativen Befragung im jeweiligen be- triebspolitischen Bezug zum gesellschaftspolitischen Kontext etwas schwach zu sein. Das Buch ist lesenswert, weil es zeigt, was ostdeutsche betriebliche Interessenvertretungen gegenüber westdeutschen Interessenvertretungen alles bewältigen mussten und wie sie dies mit den ihnen bekannten Handlungsmustern bewältigen konnten. Logisch scheint, dass gewerkschaftspolitische Ziele in den Bereichen Lohn, Arbeitszeit, Überstunden für diese Betriebsräte gegenüber dem wirklichen oder vermeintlichen Erhalt des Betriebes erst in zweiter Linie eine Rolle spielten. Hieraus können IG Metall-Gewerkschaften durchaus den Grad des Engagements von ostdeutschen Betriebsbelegschaften und die für sich selbst erwachsenen Aufgaben ableiten. Wichtig ist die Kenntnisnahme, dass sich ostdeutsche Betriebsräte sehr stark mit dem betrieblichen Geschehen identifizieren (Kapitalaufstockung, Produktpalette und Innovation, Produktionsumstellung, Konversion, Arbeitszeitgestaltung, Lean production, Gruppenarbeit). Daraus erklärt sich auch die herausgefundene Besonderheit, dass Ersatzmanager eigene Vorschläge bis zur Um- setzungsreife präsentieren und diese auch gegenüber Geschäftsleitung und Belegschaft durchsetzen (S. 168). Interessante Aussagen finden sich auch zur Qualifikation der Betriebsräte und der Belegschaften, zu Gründen kämpferischen Handelns und Pochen auf Tarifverträge trotz geringer Gewerkschaftsmitgliedschaft, zum Betriebssyndikalismus oder zur Verzichtsmentalität zum „Wohl des Betriebes“.
1) Gerlof, Kathrin: Total marode Treuhand in: clara. Das Magazin der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag, Nr. 17 2010, S. 10 2) de.wikipedia.org/wiki/Treuhandanstalt 3) ebenda
4) http://de.wikipedia.org/wiki/Friedrich_Ernst_(Bankier) Ralph Hartmann: Feindliches Vermögen, in: Ossieztky, 17/2008 unter: http://www.sopos.org/aufsaetze/48bea9015b735/1. phtml/ Derselbe, in: Ralph Hartmann: Die Liquidatoren Der Rechtskommissar und das wiedergewonnene Vaterland. Vorwort Hans Modrow. Verlag Neues Leben, Berlin 1996, 190 S.
5) Gerlof, Kathrin: Total marode Treuhand in: clara. Das Magazin der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag, Nr. 17 2010, S. 11
6) http://www.linkezeitung.de/cms/index.php?option=com_c ontent&task=view&id=6723&Itemid=313 7) Kotthoff, H.:1981, Betriebsräte und betriebliche Herrschaft,
Frankfurt am Main, S. 101-136. 8)Jürgen Kädtler, Gisela Kottwitz und Rainer Weinert: Betriebsräte in Ostdeutschland. Institutionenbildung und Handlungskonstellationen. 1989-1994, Westdeutscher Verlag, 1997, Opladen.
Hinrich Garms: „Mitgefangen – mitgehangen“? Co-Management ostdeutscher Betriebsräte, Theoretische Einordnung, Konzeption und Auswertung einer Untersuchung in der Metallindustrie in Berlin, Brandenburg und Sachsen, AG SPAK, Neu-Ulm, 2009, 224 S., ISBN 978-3-930830-70-1
Anne Allex ist Publizistin und arbeitet zu sozial- politischen Themen.
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