5000 Menschen demonstrierten in der sächsischen Stadt Wurzen gegen Faschismus und Ausländerfeindlichkeit
von Dietmar Wolf
aus telegraph 1/1996 (#92)
Es ist Samstag 16.11. Mit einer kleinen Gruppe von sieben Personen mache ich mich auf nach Wurzen. Etwa sechzig Organisationen hatten für diesen Tag zu einer Antifaschistischen Demonstration aufgerufen. Wurzen – dieser Name steht seit Jahren für rassistische Gewalt und faschistische Umtriebe. Darüber kann selbst der sächsische Verfassungsschutz nicht hinwegsehen. In seinem letzten Bericht heißt es, Wurzen sei eines der wichtigsten Neonazizentren in Deutschland. Auf 17.000 Einwohner käme ein harter Kern von dreißig rechten Kadern und ein Umfeld von bis zu dreihundert Unterstützern. Übergriffe auf Ausländer und „Linke“ sind an der Tagesordnung. 1991 wurde das einzige Flüchtlingsheim der Stadt überfallen, danach geschlossen, abgerissen und an seiner Stelle ein Altersheim errichtet. 1994 wurden Portugiesen von 20 Skinheads mit Eisenstangen schwer verletzt, 1995 wurden italienische Arbeiter krankenhausreif geschlagen. Im gleichen Jahr wird das einzige alternative Wohnprojekt überfallen. Als Reaktion darauf erhielten die Nazis von der Stadt einen Jugendtreff und den Opfern wird alternatives Wohnen von kommunaler Seite verboten. Am 7. November 1996 stechen drei jugendliche Nazis zwei Türken mit Messern nieder und verletzen einen Dritten durch Tritte und Schläge. Als der Reaktion der Stadtoberen heißt es, die jugendlichen Täter seien nicht ausgelastet, es fehlten ihnen die Ziele im Leben und es müsse ihnen mehr geboten werden. Diese Argumentationsmuster der Stadt hat System. Besonders Bürgermeister Anton Pausch (CDU) versucht verbissen, die Rolle der Nazis in Wurzen herunterzuspielen. Seiner Meinung nach wäre es in Wurzen nicht viel anders als in anderen Städten. „Zwei bis drei Sympathisanten der NPD sind hier ansässig“, mehr nicht. Man will Ruhe haben in Wurzen. Eine Demo der Linken ist da mehr ein Dorn im Auge und schmälert das biedere Kleinstadtimmage. So versuchte Pausch mit Rückendeckung der SPD alles, um die Demo zu verhindern. Selbst Bündnis 90/Die Grünen meldeten Zweifel an und kritisierten in einem offenen Brief des Landesvorstandes den Demo-Aufruf wegen seines „immanenten militärischen Grundverständnisses“. Als klar war, daß ein Verbot nicht durchgesetzt werden könne, trat man Hand in Hand mit der lokalen- und Landespresse eine Hetzkampagne gegen die Demo los und verängstigte die Bewohner in beispielloser Weise. So schrieb die „Dresdener Morgenpost“, daß mit der Demo die Sicherheit der Stadt Wurzen und ihrer Bürger nicht mehr gewährleistet sei. Als Beleg dafür mußte eine Sprüherei auf dem Stadthaus: „16.11. Wurzen in Schutt und Asche“ herhalten. Und man hatte Erfolg.
Als wir gegen 12 Uhr die Stadt erreichen, bietet sich uns ein unglaubliches Bild. Die Stadt ist wie leergefegt. So gut wie kein Auto fährt oder steht auf den Straßen. Nur wenige Bürger lassen sich draußen blicken. Im neu sanierten Zentrum der Stadt, wo sonst um dieses Zeit sicherlich reges Einkaufstreiben herrscht, ist es totenstill. In den Schaufenstern der Geschäfte sind Schilder angebracht wie „Aus technischen Gründen am 16.11. geschlossen“, oder „Heute wegen Familienangelegenheiten geschlossen“. An den Eingangstüren fast aller Gaststätten und Kneipen ist zu lesen,“Heute erst ab 17 Uhr geöffnet“. Auf der Suche nach einem Café fragen wir ein junges Mädchen, ob das immer so wäre. „Nein, nur heute, wegen der Demo“. In der Fußgängerzone dann endlich eine kleine Konditorei, die offen hat. „Die haben hier totale Panik verbreitet“ erklärt mir die Kellnerin. „Aber wir lassen uns nicht verrückt machen“. Selbst die öffentlichen Toiletten sind geschlossen. Einzig im Bahnhof ist das Männerklo offen, um das sich gegen 13 Uhr eine riesige Traube beiderlei Geschlechts drängelt. Wer sich das nicht antun will, pinkelt in die Grünanlagen. Gegen 14 Uhr, dem eigentlichen Demobeginn ist der Bahnhofsvorplatz übervoll mit Menschen. 4000 seien es schon, heißt es aus dem Lautsprecherwagen. Doch der Beginn verzögert sich. Nur mühselig gelingt es den ankommenden Reisebussen, durch die Vorkontrollen der Polizei zu kommen. Derweil verteilen nette Polizisten Flugblätter an die Demonstranten. Um Verzicht auf Gewalt wird gebeten und um das Distanzieren von Gewalttätern und Störern. Schließlich stände man ja unter dem Schutz des Versammlungsgesetzes und also unter dem Schutz der Polizei. Um 15 Uhr sind noch immer nicht alle Busse durch die Kontrollen, da sich die Insassen eines Busses der Kontrolle verweigern. Also wird erst mal Aufstellung genommen und der erste Redebeitrag gehalten. 15.30 Uhr dann geht es los. Einmal quer durch die Stadt und wieder zurück zum Bahnhof. Parolen werden skandiert. Alt Bekanntes wie „Wir haben Euch was mitgebracht Hass, Hass, Hass!“ oder „Ob Ost ob West, Nieder mit der Nazipest.“ Aber auch ganz neue Ergüsse menschlicher Gehirnmasse waren da zu hören: „Es lebe die Zecke – Nazi verrecke“. Kleine Gruppen von Einwohnern beobachten aus sicherer Distanz und immer in Tuchfühlung zur Polizei das Geschehen. Hier und da luken Augenpaare hinter leicht zur Seite geschobenen Gardinen hervor. Ich höre wie eine erstaunte Frau zu einer anderen sagt: „Die sind ja gar nicht so schlimm.“ Die Demo verläuft im Wesentlichen ohne Vorkommnisse. Lediglich die Scheibe einer Bank wird eingeschlagen. Mehrmals fordert die Polizei dazu auf, die Vermummung abzulegen. Ansonsten werde man die Demo beenden. Doch der Drohung folgen keine Taten. Man will offensichtlich nichts anbrennen lassen. Der Zug führt an verschiedenen Städten faschistischen Treibens vorbei, an denen kurze Redebeiträge gehalten wurde.
Gegen 18 Uhr, es ist längst stockfinster, gelangt der Demozug wieder am Bahnhof an. Während sich die Demonstranten in ihre Busse drängeln, auf den Bahnhof strömen oder ihre Autos suchen, beschließen wir erst einmal eine Gaststätte zu suchen. Wir wählen die Erstbeste, die gerade öffnet. Die Wirtin mustert uns und fragt verstört: „Seid ihr auch anständig?“ Und gewährt uns zögerlich Einlaß. Während unser Bestellung fragen wir nach, wie das gemeint war. Die Wirtin stammelt herum: „Na ja, man weiß ja nie und wir gehören doch sicher zu den Demonstranten, man hätte doch so einiges gehört. Außerdem hätte sie schon ihre Erfahrungen. Sie erzählt, daß im Sommer zehn Jugendliche in ihrem Biergarten nach ausgiebigen Mahl die Zeche geprellt hatten. Nach einigen Nachfragen stellt sich heraus, daß es einheimische Skinsheads waren. Allerdings hätte ihr das bei sogenannten Linken genauso passieren können.
Kurz und gut, bei der Frau war eine offensichtliche Verwirrung festzustellen. Man spürte, daß ihr vorgefertigtes Menschenbild leicht ins Wanken geriet. Zu der geschürten Angst der Wurzener vor den Demonstranten befragt, bestätigte sie das, was wir schon wußten und erzählte noch, daß bereits seit dem Vortage Ausnahmezustand geherrscht hatte und auch sie schwer überlegt hatte, ob sie ihre Gaststätte lieber schon Freitag zulassen würde.
Auf dem Heimweg gerieten wir kurz hinter Wurzen noch in einen Stau. Die Polizei hatte sieben Busse mit Demonstranten auf der B6 Richtung Leipzig zum Anhalten gezwungen. Es sei eine Straftat aus einem der Busse verübt worden. Während vier Busse aus Hamburg festgehalten wurden, forderte man die anderen drei aus Berlin auf, weiterzufahren. Als sich die Busfahrer weigerten, wurde ihnen von der Polizei gedroht, daß ihnen die Fahrtenschreiberscheibe abgenommen werde. Also fuhren sie weiter. Hinter den Bussen bildetet sich ein kilometerlanger Stau. Der Verkehrsfunk meldete : „Vollsperrung auf der B6 zwischen Wurzen und Leipzig wegen einer Demonstration“. So kann man das auch nennen. Während wir uns über Schleichwege und Dorfstraßen nach Leipzig durchschlagen, ist in Wurzen längst wieder Ruhe eingekehrt, Grabesruhe.
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