oder Martin Jander’s Abwicklung der DDR – Opposition, Teil 3 [1]
von Bernd Gehrke
aus telegraph 1/1996 (#92)
In seinem Buch benennt Jander aus der von ihm zahlreich zitierten Literatur durchaus eine Reihe von Besonderheiten der DDR-Opposition, die es verdienten, genauer untersucht zu werden. Doch gerade dies geschieht nicht. So verweist Jander u.a. durchaus berechtigt darauf hin, daß die DDR-Opposition nicht nur in dem von ihm geforderten Sinne einer ”Demokratie an sich” im Jahre 1989 kein politisches Projekt vorgelegt hatte, sondern daß auch ihr ”demokratischer Sozialismus” ”ohne genaue Vorstellungen über seine institutionelle und rechtliche Struktur” blieb (S. 52). Zumindest für die dominanten Teile der Opposition und für das äußere Bild ist das richtig. Auch fällt ihm auf, daß die Initiative für Frieden und Menschenrechte zwar in ihrem politischen Ansatz hinsichtlich einer menschenrechtlich argumentierenden Opposition durchaus ihrem Vorbild, der Charta ’77 vergleichbar war, nicht aber hinsichtlich ihrer politischen Kompetenz.
Solche Besonderheiten der DDR-Opposition werden von Jander aber stets nur unter dem ideologischem Blickwinkel des Antisozialismus betrachtet. Entweder sie werden in seinen eigenen Schlußfolgerungen ignoriert oder nur als Beleg für den sozialistischen Utopismus der DDR-Opposition herangezogen. Mit eigener Überschrift bedacht wird von ihm sogar, daß die oppositionellen Gruppen in der DDR bis zum Sommer 1989 nur ”am Rande der Gesellschaft” existierten und mit einer Krise des politischen Regimes konfrontiert waren, ”ohne daß das Gros der Bevölkerung selbst die Initiative für eine Veränderung in der DDR in die eigenen Hände nahm”(S.37). Obgleich solche Beschreibungen zentrale Charakteristika einer politischen Opposition und ihrer Entwicklungsgeschichte berühren, bleibt diese wesentliche Feststellung ohne die geringste Nachfrage danach, wie sie den Gesamtzustand und die Fähigkeiten dieser Opposition prägten. Ebenso bleibt etwa außer Betracht, welche Zusammenhänge es zwischen solcher fundamentalen Charakteristik mit Janders eigener Feststellung gab, daß die von den oppositionellen Gruppen ”gewählten Themen, Aktionsformen und die von ihnen repräsentierten Bevölkerungsgruppen” ”eindeutig eine Minderheit und Minderheitenanliegen in der Gesellschaft der DDR” bildeten (S.38) und welche Bedeutung dies für die Herausbildung der IUG oder eben für die Nichtherausbildung einer Alternative zum FDGB in der ”Wende” hatte.
Die systematische Ignoranz eigener Beobachtungen bei der Analyse der DDR-Opposition wird dadurch ergänzt, daß Jander gerade jene Ansätze der DDR-Oppositionsforschung abbügelt, die versuchten, -wieweit im einzelnen auch immer in richtiger Weise, sei dahingestellt- die gesellschaftlichen Ursachen eines Typs von Opposition in der DDR herauszuarbeiten, der den oppositionellen neuen sozialen Bewegungen im Westen strukturell verwandt war (S. 22f). Janders Versuch, alles aus dem ”sozialistischen Utopismus” der Opposition oder, wie in diesem Fall, aus der Übernahme westlicher linker Ideen zu erklären, kann gerade die Differenz dieses Typs von Opposition, dessen Existenz von ihm nicht bestritten wird, zum Typ einer Opposition von ”traditionellen” Linken nicht einmal als Problem aufwerfen (S. 22). Lediglich eine ideologisch begründete Abgrenzung zwischen der Opposition in der DDR und in Osteuropa fällt ihm ein.
Da die Entwicklung wirklicher gesellschaftlicher Widersprüche der DDR, die auch die Entwicklung ihrer Opposition prägten, außer Betracht bleiben, sind einzelne richtige Charakteristika der Opposition, wie sie oben erwähnt wurden, ohne jede Folge für Janders Analyse, obwohl durchaus grundsätzliche Probleme davon berührt sind. Denn Jander führt seine Auseinandersetzung mit der DDR-Opposition als ganzes ebenso, wie die mit der IUG im besonderen, nicht in kritisch-wissenschaftlicher, sondern ideologisch-doktrinärer Art und Weise, die mit vorgefertigten Rastern im Kopf das, was ihr widerspricht, nicht erklärt, sondern ignoriert oder verbiegt. Das geistige Instrumentarium, mit dessen Hilfe die Abwicklung des ”sozialistischen Utopismus” dieser Opposition betrieben wird, ist ein verdünnter Aufguß der Totalitarismus-Doktrin. Angesichts des eigentlich interessierenden Gegenstandes von Janders Buch, der IUG und der Wende in den Betrieben der DDR, kann an dieser Stelle weder eine Auseinandersetzung mit der Totalitarismus-Doktrin als Ganzes noch mit der Geschichte der DDR-Opposition insgesamt erfolgen. Die Kritik an Janders Darstellung von DDR-Opposition im allgemeinen und IUG im besonderen muß sich hier deshalb vor allem auf die Zurückweisung der gröbsten Entstellungen und Verfälschungen beschränken, die Janders doktrinärer Sicht geschuldet sind und die dem von ihm selbst zusammengetragenen oder zitierten Material widersprechen.
Angesichts der zentralen Bedeutung, die die Totalitarismus-Doktrin jedoch nicht nur für Janders Abwicklung der DDR-Opposition, sondern für die antisozialistische Konsensbildung des ”Blocks an der Macht” im vereinigten Deutschland bildet, sind dennoch einige Worte nötig, Gerade auch deshalb, weil nahmhafte Vertreter der ehemaligen DDR-Opposition heute in der Öffentlichkeit maßgeblich an der antisozialistischen Konsensbildung mit Hilfe der Totalitarismus-Doktrin beteiligt sind. Zur Geschichte der Totalitarismus-Doktrin soll hier nur angemerkt werden, daß deren beschreibender Charakter sich seit ihrer Entstehung zentral um das Begriffspaar Demokratie und Diktatur und erst sodann um die verschiedenen Typen von Diktatur -damit also äußerliche Merkmale rein politischer Herrschaftsformen- dreht und die sozialökonomische Machtstruktur und deren historische Entwicklung weitgehend ausblendet. Ihre Einseitigkeiten, die sie von vornherein für eine doktrinäre und antikommunistische Anwendung prädestinierten, haben bereits seit ihrer Herausbildung in den 20er und 30er Jahren zu Auseinandersetzungen in der Arbeiterbewegung und der nichtstalinistischen Linken geführt. Kern der totalitarismusdoktrinären Argumentation war bereits im Ursprung die Identifizierung der bürgerlich-parlamentarischen Demokratie mit Demokratie überhaupt und die Gleichsetzung von rotem und weißem Terror in der russischen Revolution, später rotem und braunem Faschismus, wie etwa bei Karl Kautsky und seinen Anhängern2. Hiergegen hatten sich bereits damals auch wichtige Vertreter der nichtkommunistischen Linken, besonders auch aus der sozialdemokratischen Emigration Rußlands, ausgesprochen. ”Die vulgär demokratische Kritik an der bolschewistischen Diktatur, welche in ihr nur die Vernichtung der Demokratie sieht, übersieht vollständig die historische Stellung und die Funktion dieser Diktatur”, schrieb etwa der menschewistische Exilant Alexander Schifrin.3 Daß aus der Einbeziehung der sozialen und historischen Funktion in die Analyse von Bewegungen und Regimen auch verschiedene Einschätzungen folgen, versteht sich von selbst. ”Während aber der Bolschewismus aus der revolutionären Bewegung werktätiger Massen, die bewußtseinsmäßig noch nicht reif genug sind… erwächst, entsteht der Faschismus… aus dem Bestreben der Ausbeuterklassen, einen Damm aufzurichten gegen die soziale Revolution.”4 Wegen der zahlreichen Parallelen im Herrschaftsmechanismus des ”modernen Diktaturstaates”, vor allem von Faschismus und Stalinismus zu Zeiten des Hochterrors in den 30er Jahren, die ihn zugleich von früheren diktatorischen Herrschaftsformen unterschieden, fand die Anwendung des Totalitarismusbegriffs in der nichtstalinistischen Linken auch außerhalb der Sozialdemokratie ebenfalls relativ weite Verbreitung, so bei Trotzki oder Otto Rühle5.
Gerade wegen des einseitig politischen und äußerlich beschreibenden Charakters sowie des zumeist vulgär demokratischen Argumentationskerns Demokratie vs. Diktatur, bot sich der theoretische Totalitarismus-Ansatz jedoch nach dem zweiten Weltkrieg vor allem als ideologische Doktrin antikommunistischer Kräfte über Parteigrenzen hinweg an, um im ”kalten Krieg” etwa die DDR mit dem 3. Reich gleichzusetzen. Ebenso, um die vom Westen installierten und bezahlten Diktaturen als ”bessere”, nicht-totalitäre Diktaturen zu verteidigen, wie es seinerzeit etwa die USA-Regierungen mit der Pinochet-Diktatur machten. Der rein analytische Gebrauch stand dagegen hinter ihrer Anwendung als antikommunistischer Doktrin und als Kampfbegriff in der ideologischen Auseinandersetzung stets zurück: ”totalitär” wurde zum schlimmsten, was eine Diktatur überhaupt sein konnte, gleich, wieviel Tote sie produzierte. ”Totalitär” wurde zum i-Punkt in der ideologischen Bewertung eines Regimes.
Jander braucht und gebraucht die Totalitarismus-Doktrin, um mit der DDR auch die DDR-Opposition wegen ihrer ”sozialistischen Utopien” als demokratieunfähig abzuwickeln. Wie seine von ihm selbst zusammengetragenen Fakten und Beobachtungen der DDR-Opposition werden dabei auch jene Autoren, die einem totalitarismustheoretischen Ansatz folgen und die er als Beleg seiner eigenen Doktrin braucht, auf dieses Ziel hin ”widerlegt”. Zur Erklärung und Differenzierung der DDR-Opposition aus dem ”totalitären Charakter” der DDR-Diktatur selbst verweist er zunächst darauf, daß Opposition in Osteuropa und in der DDR mit der in westlichen Demokratien nicht gleichzusetzen ist. ”Aber sie scheint doch ähnliche (Hervorhebung B.G.) Elemente und Bedingungen vorzufinden, wie Opposition im Nationalsozialismus.” Welche Opposition im 3. Reich ähnliche Bedingungen vorfand, wie die unabhängige Friedens- und Bürgerrechtsbewegung in der DDR teilt uns Jander leider nicht mit. Von einer unabhängigen oppositionellen Bewegung im 3. Reich, die in einem relativ geschützten Raum, wie dem der Kirche diskutieren oder sich via westeuropäischer, sowjetischer oder anderer Medien relativ öffentlich artikulieren konnte, hat wohl auch Jander noch nichts gehört. Was bedeutet es da, daß er darauf verweist, daß der Vergleich zwischen den Herrschaftsformen im 3. Reich oder in der Sowjetunion, wie ihn die Totalitarismus-Doktrin betreibt, nicht Gleichsetzen bedeutet und schon gar nicht zur Relativierung der Verbrechen des Nazireiches führen soll (S. 28)? Es bedeutet vor allem die Delegitimierung der DDR und -bei Jander noch weiter gefaßt- die Delegitimierung jeglicher sozialistischer Utopie, auch, wenn es die Utopie eines demokratischen Sozialismus ist! Die Kriterien, welche der Auswahl der Ähnlichkeiten der Bedingungen von Widerstand und Opposition im Nazi-Faschismus und in der DDR zugrunde lagen, verschweigt er seinen Leserinnen und Lesern denn auch.
Gerade dort jedoch, wo ein totalitarismustheoretischer Ansatz -trotz aller Bedenken gegen dessen Einseitigkeiten und Ideologisierungen- bei nicht-doktrinärer Anwendung Erkenntnisse produzieren kann, gerade dort verleugnet Jander seine Quellen. Exemplarisch dafür ist sein Umgang mit Karl Wilhelm Fricke, Hannah Arendt und Richard Löwenthal. Als Beleg für seinen eigenen doktrinären Zugang beruft sich Jander in seiner Arbeit zunächst auf die von Karl Wilhelm Fricke gewählte Darstellung von Opposition und Widerstand in der DDR.6 ”Wie die inzwischen rundweg als Standardwerk anerkannte Arbeit von Fricke zeigt, läßt sich als Rahmenbedingung politischer Dissidenz die DDR durchaus als totalitär bezeichnen, selbst dann, wenn es gewichtige Argumente gibt, die eine Gleichsetzung des Umfangs und der Qualität der nationalsozialistischen Staatskriminalität mit der Regierungskriminalität der DDR verbieten” (S.29).
Doch gerade Frickes Arbeit zeichnet sich durch eine zu Jander gegenteilige Herangehensweise aus: obwohl er die DDR als totalitär einschätzt, bestimmt Fricke als Meßlatte für seine umfangreiche empirische Darstellung von Opposition und Widerstand nicht (s)eine Doktrin, sondern die internen Kriterien des DDR-Systems selbst, also faktisch die von der SED zwangsweise durchgesetzten Normen einer Gesellschaft, die offiziell keine Opposition kennt und die sie, soweit sie realiter auftritt, aus äußeren Konstellationen (”gekaufte Leute”, ”Agenten” etc.), erklären muß, weil sie innere Widersprüche ihres Systems als Quelle von Opposition und Widerstand nicht akzeptieren kann.7/8 Aber gerade diese von Fricke gewählte Methode der Erklärung einer spezifischen Opposition aus der Spezifik des Systems selbst, wird von Jander zurückgewiesen. ”Mit dieser Konzeption übernimmt man leicht den Oppositionsbegriff des Regimes, des Staatssicherheitsdienstes selbst, der dazu neigte, alles als ‘staatsfeindlich’ und ‘antisozialistisch’ zu bekämpfen, was nicht streng der jeweiligen politischen Linie folgen wollte. Fricke neigt dazu, Stärke, Bedeutung und Qualität von Opposition im Gefüge des DDR-Systems zu überschätzen und die Bedeutung der Motive und kulturellen Traditionen (Hervorhebung B.G.) eher zu unterschätzen. Der Widerstands und Oppositionsbegriff wird so in der Beschreibung ausgedehnt. Dabei entspricht diese Ausdehnung durchaus der totalitären Wirklichkeit (Hervorhebung B. G.), die diejenigen, die sich auch nur minimale Räume individueller Kommunikation und individuellen Handelns erhalten oder erobern, sehr schnell zu spüren bekommen” (S. 29f).
Diese Kritik an Fricke macht den Ansatz deutlich, daß Jander seine Maßstäbe für die Darstellung und Bewertung der DDR-Opposition nicht der ”totalitären Wirklichkeit” der DDR-Gesellschaft selbst entnehmen will, sondern seiner Bewertung der Motive und kulturellen Traditionen der Oppositionellen. Daß die Darstellung von DDR-Opposition und Widerstand durch Fricke mitnichten den Einschätzungen der SED oder der Staatssicherheit folgt, ist fast überflüssig zu erwähnen.
Bei einer solchen Untersuchungsmethode, wie der Janders, die alle objektiven und gesellschaftlich-gültigen Widersprüche der DDR-Gesellschaft selbst ausläßt und die (vermeintlichen) Motive und kulturellen Traditionen zum Dreh- und Angelpunkt der Entwicklung der Opposition in der ”Wende” macht, ohne zu erklären, wie deren Träger und deren Praxis insgesamt durch diese Gesellschaft und ihre Widersprüche geprägt wurden, werden dann natürlich auch solche Differenzen der gesellschaftlichen Bedingungen zwischen dem antifaschistischen Widerstand und der DDR-Opposition relativ unwichtig, die darüber entscheiden, ob Oppositionellen für ihr Handeln der Kopf abgeschlagen wird oder nicht. Daß solche Unterschiede auch unterschiedliche Oppositionen hervorbringen müssen, entgeht ihm.
Hinsichtlich der Bestimmung der DDR als eines ”totalitären Systems” begnügt sich Jander mit der Übernahme der ”gegebenen Merkmale” eines solchen, wie sie die gängige vulgär demokratische Literatur Westdeutschlands handelt, die den ”antitotalitären Konsens” pflegt: einheitliche Ideologie mit Ausschließlichkeitsanspruch; eine Partei, die den Monopolanspruch politischer Herrschaft durchsetzt; ein existierendes Terrorsystem; die vollständige Kontrolle der Massenkommunikationsmittel; die zentrale Überwachung und Lenkung der gesamten Wirtschaft und das Gewaltmonopol der herrschenden Partei (S29).9
Doch das entscheidende Argument mit dem er festlegt, daß die genannten Merkmale eines ”totalitären Systems” auch tatsächlich die Begründung dafür sind, daß die DDR-Opposition Opposition in einem totalitären System war, ist eine eigene intellektuelle Glanzleistung. Wie zitiert, stellt er fest, daß ”es gewichtige Argumente gibt, die eine Gleichsetzung des Umfangs und der Qualität der nationalsozialistischen Staatskriminalität mit der Regierungskriminalität der DDR verbieten.” Das bedeutet, daß, wenn ”Umfang und Art” oder ”Quantität und Qualität” der ”Kriminalität” beider Staaten nicht gleichsetzbar sind, deren Kriminalität eben in nichts gleichsetzbar ist. Doch trotzdem fährt er fort: ”Auch der Verweis auf die in der historischen Entwicklung der DDR zurückgenommene Dimension des Terrors kann allein keine Ablehnung des Begriffs ‘totalitäres System’ begründen. Der Terror blieb als Potentialität bestehen.” Mit anderen Worten: den Terror -und damit sind ja wohl im Kontext von Opposition im 3. Reich Erhängung, Erschießung, Folter und KZ gemeint, wenn nicht auch Ausschwitz, den gab es nur als Möglichkeit, als Potentialität, nicht aber als Wirklichkeit. Über das 3. Reich hinaus geschaut und als Vergleich zur DDR vielmehr passend – es gab auch keinen Archipel GULAG, keine Ärzteprozesse usw. in der Wirklichkeit, schon gar nicht in jener Zeit, von der Jander vor allem handelt, den 80er Jahren. Die in der ”Potentialität” ausgesprochene, langfristige und wirkliche ”Nicht-Aktualität” des Massenterrors als Begründung des totalitären Charakters ist schlichtweg lächerlich.
Gerade die Differenz zu diesem Terror hat die DDR-Opposition jener Jahre überhaupt ermöglicht und sie in sehr verschiedener Hinsicht geprägt – nicht nur in ihrer antifaschistischen Position, die von Jander zum Urgrund ihres demokratieunfähigen ”demokratischen Sozialismus” erklärt wird (vgl. S. 51f), sondern auch in ihrer konkreten Gestalt. Wer nun meint, die Möglichkeiten eines Terrors wie im 3. Reich oder in der Sowjetunion bis 1953 wären in einer Gesellschaft, auch einer despotischen, beliebig einsetzbar und hätten in der DDR als ”Potentialität” im Sinne jederzeitiger Abberufbarkeit und Einführung bestanden, der hat weder von der Geschichte im allgemeinen, noch von der DDR im besonderen das geringste verstanden. Der hat vor allem nicht begriffen, warum Herrschaftsformen des Massenterrors in den sowjetisch beherrschten Ländern nach 1953 zugunsten anderer aufgegeben wurden. Quelle solcher Behauptungen ist eben jene politisch doktrinäre Einseitigkeit und Enge, die Gesellschaften nicht als geschichtlich bestimmten Gesamtorganismus begreift, in den die politische Konstitutionen, auch die einer Despotie, eingebettet sind.
Als Beleg der ”Potentialität” eines Terrors wie im 3. Reich, und dies ist immer der Kontext, bedient sich Jander eines schlichtweg lächerlichen Argumentes: ”Die bisher schon erfolgte Forschung, insbesondere über die Planungen des Ministeriums für Staatssicherheit für den Spannungsfall, haben diese Dimension der DDR noch einmal deutlich hervortreten lassen.” (S. 29). Nun erwähnt Jander leider nicht, was die ”bisher schon erfolgte Forschung” über Gewaltmaßnahmen des Staates oder über Internierungslager für potentielle Staatsfeinde ”im Spannungsfall” in der Bundesrepublik, Frankreich, USA oder gar der parlamentarisch-demokratischen Türkei ”hervortreten” ließ. Es darf vermutet werden, daß viele von denjenigen Menschen in diesen Ländern, die ähnliche politische Anschauungen vertreten, wie sie Jander bei dem Gros der DDR-Opposition sieht, in ähnlicher Weise Planungsobjekte, wenn nicht gar gefoltert und ermordet sind, wie in der demokratischen Türkei. Wie die Realität eines solchen ”Spannungsfalles” im Ostblock der 80er Jahre tatsächlich ausgesehen hat, konnte mit der Unterdrückung der ”Solidarnosc” seit Dezember 1981 konkret beobachtet werden. Bei aller Feindschaft zu Jaruzelski und zu einer preußischen SED-Variante desgleichen Vorgangs: Wer solches mit dem Terror unter Hitler oder Stalin vergleicht, hat eine Ehrenmedaille im Argumentewettstreit der TUI’s auf dem Kongreß der Weißwäscher verdient, die dem chinesischen Kaisers wieder einmal das beste Argument fürs Volk liefern müssen.
Gleichwohl ist die theoretische Definition einer Gesellschaft als totalitär oder sonstwie ein eher peinlicher Vorgang, wenn deren kräftigstes Argument nicht die Regel, also die jahrzehntelange Wirklichkeit, betrifft, sondern die Planungen für einen Ausnahmezustand. Dies gilt um so mehr, als gerade die wirkliche Gewaltdimension des DDR-Regimes, also sowohl die Art und Weise ihres Funktionierens, wie auch der Umfang ihrer Anwendung gegen ”Andersdenkende”, die in Abhängigkeit davon die Formen der Opposition maßgeblich prägten, durch Jander überhaupt nicht in die Analyse der Opposition einbezogen werden. Dabei ist gerade ihre Veränderung im Laufe der Jahrzehnte auch für die Veränderungen der Formen von Widerstand und Opposition von wesentlicher Bedeutung.
Janders Argumentation für den totalitären Charakter des DDR-Systems verdient allerdings noch in anderer Hinsicht Aufmerksamkeit. Sie ist nämlich eine wahre Perle jener Art von Auseinandersetzung, die die schwierigen Klippen der eigenen Position durch Vertuschung zu umgehen versucht. Der ”Verweis auf die in der historischen Entwicklung der DDR zurückgenommene Dimension des Terrors kann alleine keine Ablehnung des Begriffs ‘totalitäres System’ begründen”, behauptet er. Ein ”Verweis allein” reicht gewiß nicht, Argumente sollten es schon sein. Doch Spaß beiseite: Jander ”vergißt” hier schlichtweg, seinen Leserinnen und Lesern mitzuteilen, daß das Problem der historisch verschiedenen ”Dimension des Terrors” nicht nur maßgeblich für Kritiker/innen der Totalitarismus-Doktrin ist, sondern daß ihr vor allem auch innerhalb der verschiedenen totalitarismus-konzeptionellen Ansätze konstitutive Bedeutung zukommt. Vor allem unterschlägt er, daß die von ihm in seinem Buch ansonsten ausgiebig zitierte Hannah Arendt, die ja zur geheiligten Berufungsinstanz der Totalitarismus-Doktrinäre geworden ist, die Sowjetunion oder die DDR gerade wegen der nach 1953 schrittweise zurückgenommenen ”Dimension des Terrors” ausdrücklich als nicht mehr totalitär begriff. Eben sie spielt jedoch in Janders Argumentation noch eine wichtige Rolle, weil sie von ihm zur Zeugin gegen die DDR-Opposition auserkohren wurde.
Vor allem im Werk von Hannah Arendt, in dem es um das Begreifen der Shoa und des millionenfachen Blutbades in der stalinistischen Sowjetunion geht, haben Massenterror, faschistische Vernichtungslager oder der Archipel GULAG konstitutive Bedeutung für den Begriff des totalitären Staates. Besonders für sie reichen die von Jander ausgewählten ”Merkmale” eines ”totalitären Systems” nicht hin, weil der Massenterror nicht nur durch die Verbreitung von Angst alle Poren der Gesellschaften durchdringt und Individualität vernichtet, sondern auch durch seine Anwendung nach ”Rassen- oder Klassenmerkmalen”, also nach ”objektiven Kriterien”, die nicht vom Handeln der Individuen, z. B. widerständigem, abhängen. Eben diese durch ”das eiserne Band des Terrors” bewirkte absolute Auflösung des Individuums ist eine zentrale Denkfigur in der Darstellung Hannah Arendts. ”Dem Terror gelingt es, Menschen so zu organisieren, als gäbe es sie gar nicht im Plural, sondern nur im Singular, als gäbe es nur einen gigantischen Menschen auf der Erde . . .” 10 Wohlgemerkt, nur dem Terror gelingt dies; und der Terror, von dem bei ihr die Rede ist, ist keiner der ”Potentialität”, sondern jener der ”Aktualität” der 30er und 40er Jahre, der Millionen von Menschen Freiheit, Gesundheit und Leben kostete. Und zu jenem Thema, das Janders spezieller Gegenstand ist, teilt sie obendrein mit: ”Der außerordentlich blutige Terror im Anfangsstadium einer totalen Herrschaft dient in der Tat nur dazu, den politischen Gegner zu erledigen und alle Opposition unmöglich zu machen; der totale Terror wird aber erst losgelassen, wenn das Regime keinerlei Opposition mehr zu fürchten hat”.11 In diesem kurzen Zitat wird sehr deutlich, daß Hannah Arendt sehr wohl einen Zusammenhang von Terror und Opposition herzustellen weiß, der die ”außerordentlich blutige Unterdrückung” einer Opposition strukturell von jenem Terror unterscheidet, der das Individuum auslöscht. Doch Jander spart nicht nur die Darstellungen Hannah Arendts über den Zusammenhang von Terror und Opposition aus, die ihm sichtlich nicht ins Bild passen, sondern verzichtet auch noch auf eigene Überlegungen hierzu.
Hannah Arendt wollte mit ihrer Totalitarismus-Konzeption das Außerordentliche und Besondere von Massenterror und Massenvernichtung im 3. Reich und im Hochstalinismus, also gerade die Differenz dieser diktatorischen Strukturen zu anderen Formen ”moderner Diktaturen”, insbesondere den Tyranneien, herausarbeiten. Ihr Anliegen war gerade die Unterscheidung dieser nach dem ersten Weltkrieg aufgetretenen neuen ”Tyrannenherrschaften aller Art, faschistische und halbfaschistische, Einparteien- und Militärdiktaturen, und schließlich totalitäre Regierungen, die fest etabliert schienen und von der Unterstützung der Massen getragen waren: so in Rußland 1929, im Jahr der, wie man sie heute oft nennt, ‘zweiten Revolution’, so in Deutschland 1933.”12 Dazu gehörte eben auch explizit, daß sie verschiedene Formen ”kommunistischer Einparteidiktaturen” unterschied. Als sie ihre Befürchtungen aufschrieb, daß es sich bei der maoistischen ”Kulturrevolution” im China der 60er Jahre erneut um die Durchsetzung eines Regimes mit staatlich organisiertem Massenmord handeln könnte, unterschied sie das maoistische China seit der Revolution sehr wohl von einem solchen totalitären Regime, wie es bis dahin in der Sowjetunion bestanden hatte und wie es sich in China anzubahnen schien. Eben wegen dieser Unterscheidung und der Schwierigkeit herauszubekommen, ob sich im China der ”Kulturrevolution” ein ”totalitäres System” herausbildet oder nicht, schrieb sie den Janders und allen, die sie heute vergotten, aber verfälschen, ins Stammbuch: ”Denn es erleichtert nicht gerade die Lösung der Probleme, weder theoretisch noch praktisch, daß uns die Ära des Kalten Krieges eine offizielle ‘Gegenideologie’ hinterlassen hat, den Antikommunismus, welcher gleichfalls dazu neigt, einen Anspruch auf Weltherrschaft zu entwickeln, und uns dazu verleitet, nun unsererseits einer Fiktion nachzuhängen; denn er verbietet es uns prinzipiell, die verschiedenen kommunistischen Einparteidiktaturen, denen wir in der Realität gegenüberstehen, von einem echten totalitären System zu unterscheiden…”13
Eben wegen der analytischen Suche nach dieser Differenz, die den antikommunistischen Konsens mißachtete, ist die wirkliche Hannah Arendt den antitotalitären Doktrinären ebenso ein Dorn im Auge, wie es der wirkliche Marx oder der wirkliche Lenin für ihre doktrinären Anhänger waren oder sind. Aus der Sicht des antkommunistischen Lagers ist es geradezu eine ungeheuerliche Ketzerei, daß Hannah Arendt gar der Auffassung war, daß es zu ”Stalins Machtergreifung und der Umwandlung der Einparteiendiktatur in ein System totaler Herrschaft eine klare Alternative gab: nämlich die Fortsetzung der NEP-Politik, wie sie von Lenin eingeschlagen worden war.”14 War das aber nicht gerade die Forderung der Bucharinisten und Trotzkisten? Nach der Logik Janders ist sie jedenfalls ziemlich verdächtig, selbst noch Rudimente einer totalitären Ideologie mit sich zu schleppen. Hannah Arendt hat die Sowjetunion seit der Zeit des ”Tauwetters” zwar als ”Einparteiendiktatur” und ”moderne Form der Tyrannei” definiert, deren Rückfall ins totalitäre Regime ihr möglich schien, aber die Zeit des ”totalitären Systems” ließ sie entschieden mit dem Tode Stalins enden.15 Das gleiche betonte sie für die übrigen Ostblockländer, also auch für die DDR.16 Indizien dafür, daß es sich nach 1953 nicht mehr um totalitäre Herrschaftsformen handelte, sind ihr nicht nur die Auflösung des GULAG und die Beendigung der Massenprozesse gewesen, sondern auch der Abbau der umfassenden Macht, die die Geheimpolizei als Herrschaftszentrum unter Stalin ausübte. Sogar die Art der Unterdrückung des Ungarnaufstandes durch die sowjetische Armee gilt ihr als Beleg dafür. Ebenso sieht sie im seitherigen Aufblühen der Künste in der Sowjetunion, wie in der Durchführung von (nicht öffentlichen) Gerichtsprozessen gegen Oppositionelle einen solchen Beleg.17
Wenn es notwendig war, im Rahmen dieser Auseinandersetzung einige Essentials der Arendtschen Totalitarismus-Konzeption vorzustellen, so natürlich nicht deshalb, weil den Auffassungen dieser Frau nichts entgegenzusetzen ist. Es war vor allem deshalb notwendig, weil Jander in der für die gesammelte ”Anti-Totalitarismus-Gemeinde” heute typischen Weise, den Bruch vertuscht, der zwischen der eigenen Doktrin von einer totalitären DDR und den originären Ansichten der zur Ikone stilisierten Hannah Arendt besteht. Als exemplarisch für den Allgemeinheitsgrad dieser doktrinären Verfahrensweise darf der Abschlußbericht der sogenannten ”Eppelmann-Kommission” gelten, dessen ”antitotalitäre” Stoßrichtung sich ebenfalls auf Hannah Arendt beruft.18
Eben dies ist allerdings der typische Weg, auf dem aus lebendigen und streitbaren Gedanken der Begründer von theoretischen Schulen Doktrinen werden, die dem Bedarf der jeweils agierenden Subjekte angepaßt sind. Der Marxismus kann mehrere Lieder davon singen, aber er ist dafür keine Ausnahme, sondern nur die Bestätigung der Regel.
Die Vertuschung des Bruches der eigenen Konzeption mit jener von Hannah Arendt durch Martin Jander enthält jedoch noch eine besondere Zumutung. Denn für Hannah Arendt ist die Differenzierung zwischen einem totalitären Staat, einer Diktatur oder einer Tyrannis ”beileibe nicht ein akademisches Problem, das man getrost den ‘Theoretikern’ überlassen dürfte, denn totale Herrschaft ist die einzige Staatsform, mit der es keine Koexistenz geben kann.”19 Nun wird gerade diese Autorin, die jegliche Koexistenz mit einem totalitären System ablehnt, zur ”systematischen” Abstützung von Janders These mißbraucht, daß die DDR-Opposition ”politische und kulturelle Restbestände totalitären Denkens in ihren Konzeptionen” aufwies (S. 36).
Fortsetzung folgt
[1] Hannah Ahrendt, op. cit., S. 636
weitere Quellen und Zitate: siehe Printausgabe telegraph 1/1996
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