Editorial telegraph 120 | 121

KRISEN UND JUBILÄEN II

Im Herbst 1989 wollten, laut einer SPIEGEL- Umfrage (1), noch mehr als 70% der befragten DDR-Bürger eine bessere DDR. Bereits ein halbes Jahr später war für die meisten Menschen nur noch die D-Mark eine tragfähige Alternative zum DDR-Wirtschaftssystem, aber auch zu der noch im Herbst 89 durchaus populären Option eines selbstverwalteten demokratischen Sozialismus. Unser Autor Thomas Klein schrieb nach dem Wahlerfolg von Helmut Kohls „Allianz für Deutschland“ im März 1990: „Bürgerlicher, parlamentarischer Demokratismus hatte als Alternative zum politbürokratischen Etatismus eine Massenbasis, weil die linke Alternative direkter Demokratie und Selbstverwaltung nach 40 Jahren Stalinismus nur Ergebnis sozialer Kämpfe um die Freiheit von jeglicher Ausbeutung und Fremdbestimmung, aber nicht das Ergebnis der Massenempörung gegen die bürokratische Diktatur in der DDR sein konnte.“

Trotz allem war für uns die DDR, in ihrem letzten Jahr, das freieste Land der Erde. Dieses Jahr endete mit dem Anschluss der DDR an die BRD.

Eine, in der damaligen Zeit, eher unauffällige Randfigur diktiert uns heute folgendes frech ins Geschichtsbuch: „Natürlich haben wir viele blühende Landschaften, inzwischen sind Dinge geschehen, die haben wir überhaupt nicht für möglich gehalten“ und „Wenn wir heute mit ein wenig Abstand auf die Ereignisse in den Jahren 1989 und 1990 schauen, dann stellen wir fest: Es handelte sich bei den damaligen Geschehnissen nicht um etwas Vergangenheitsbezogenes, nicht etwa um ein Ereignis, das eine Epoche abgeschlossen hat. Es handelte sich vielmehr um den Beginn einer neuen Zeit …“ (Angela Merkel, Demokratischer Aufbruch/CDU (2))
Was war und was ist diese „neue Zeit“? Wir sehen uns genötigt, im neuen telegraph eine Bestandsaufnahme zu versuchen.

Der Beginn der 1990er Jahre war geprägt von Betriebsschließungen und Privatisierungen im Osten und von gesellschaftlichem und staatlichem Rassismus. Deutschland war wieder Weltmeister und baute seine neue internationale Vormachtstellung aus. Viele ostdeutsche Städte wurden zerstört, es folgte Abriss und Verödung. Dem Zusammenbruch der bis dahin agierenden Linken im Westen und der ehemaligen DDR-Oppositions  und Wendegruppen folgten Neugründungen linker Projekte und deren baldiges Ende. Kurz genannt seien „Radikale Linke“ und Wohlfahrtsausschüsse im Westen, WBA (Wir Bleiben Alle) in Berlin oder „Antinationale“ in Leipzig. Eine bis heute aktive Konstante blieben die zahlreichen Antifa-Gruppen und antirassistischen Initiativen. Daneben versuchte die PDS das Loch auf der Linken zu füllen, sie entwickelte sich jedoch nur zu einer neuen sozialdemokratischen Partei. Dort wo sie im Lande Bürgermeister oder andere kommunale Entscheidungsträger, oder wie in Berlin, Senatoren, stellt, ist von einer sozialistischen Praxis nichts zu sehen. Die ersten zwanzig Jahre des wiedervereinigten Deutschlands waren aber auch von einem penetranten neuen deutschen Selbstbewusstsein begleitet. Deutsche Soldaten führen, wie ihre Großväter vor über 65 Jahren, wieder Krieg (und einige kehren aus ihm, wie ihre Großväter, nicht mehr lebend zurück). Anfang der 90er Jahre sind westdeutsche Nazi-Kader in Ostdeutschland erfolgreich beim braunen Aufbau Ost. Die neuen Nazis ziehen in Parlamente ein und bauen weiter ihren Einfluss, vor allem in strukturarmen und ländlichen Gebieten, aus.

Im aktuellen telegraph untersuchen wir schwerpunktmäßig die Folgen des Anschlusses vor 20 Jahren. Jenz Steiner wagt einen persönlichen Blick aus der Perspektive einer Generation, die noch in der DDR geboren wurde und zu den blühenden Landschaften und erklärten Siegern des neuen Deutschlands gehören sollte. Urmila Goel sieht sich Ost-Diskriminierungen und West-Privilegien im vereinigten Deutschland an und fordert: Das ungleiche Machtverhältnis zwischen West und Ost in Deutschland muss in seiner Spezifik thematisiert werden. Sebastian Gerhardt schreibt darüber, warum Hartz IV die Vollendung der deutschen Einheit ist. (Was auch heißt: Sie ist vollendet, mehr Einheit wird nicht mehr geliefert.) Christiane Mende zeigt eindrücklich, wie die Wiedervereinigung den entscheidenden Impuls für eine Generalabrechnung mit Migranten in Deutschland lieferte. Peter Nowak kommentiert die Aktionen von Initiativen der Erwerbslosenproteste, während Andrej Holm die Verdrängung von Arm durch Reich in den Innenstadtvierteln der Großstädte thematisiert. Das faktische Verbot der libertären Gewerkschaft FAU nimmt Willi Hajek zum Anlass, den Zustand der Gewerkschaften genauer zu beleuchten. Christoph Marischka enthüllt die Grundlagen des neuen deutschen Selbstbewusstseins und die kriegerische deutsche Außenpolitik. Kamil Majchrzak ergänzt dies mit einer Untersuchung zur Rolle Osteuropas bei der Renaissance einer gewaltvollen Sicherheitspolitik von NATO und EU, in welcher der Zusammenhang zwischen ungebremstem Neoliberalismus, gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen und deren Institutionalisierung besonders deutlich wird. Bernhard Schmid wirft einen Blick auf die deutsche Linke im Jahr der Wiedervereinigung und auf die Entstehung der „Antideutschen“ und Thomas Klein formuliert eine Kritik der Linken, die angesichts des begründeten Ekels vor dem real-existierenden Kapitalismus, mit dem Stalinismus in der DDR ihren Frieden zu schließen scheint.
Die Schweizer Feministin Tove Soiland analysiert die blinden Flecke der Gender Studies, die es versäumen, die ökonomische Basis in ihre Kritiken einzubeziehen. Der Philosoph Zygmunt Bauman erinnert uns in einem Gespräch daran, dass die Verwerfungen beim Übergang in die Konsumgesellschaft nur ein Ausschnitt aus einer von Menschen gestaltbaren Geschichte sind. In seinen Lebenserfahrungen lassen sich die Gräuel des XX. Jahrhunderts nachlesen; seine Biographie macht zugleich deutlich, dass Widerstand möglich und notwendig ist. Die 90er Jahre waren ebenfalls von einem nach wie vor notwendigen Widerstand gegen staatlichen und gesellschaftlichen Rassismus geprägt. Der italienisch-französische Historiker Enzo Traverso spricht in einem telegraph-Interview über Faschismus und Antifaschismus und die Bedeutung der Geschichte für linke Kämpfe. In einem ausführlichen Artikel für den telegraph unterzieht Karl-Heinz Roth die Ausgangsbedingungen der gegenwärtigen Krise einer genaueren Betrachtung. Am Beispiel der Kämpfe ostdeutscher Betriebsräteinitiativen erinnert Helmut Höge an den Widerstand gegen die Treuhand-Entscheidungen „Privatisierung geht vor Sanierung“. Tomasz Konicz erlaubt uns einen vergleichenden Blick nach Polen, der Geburtsstätte einer starken Arbeiterbewegung, mit deren Scheitern die Widersprüche der installierten Demokratie unmissverständlich an die Oberläche traten. Der Globalisierungskritiker Peter Streckeisen dekonstruiert helvetische Mythen und die Verklärung des privaten Sozialstaats, dessen Gesundheitssystem auch für die US-amerikanische Obama-Regierung ein Vorbild abgibt. Der Sozialist Robert Havemann wurde vor 100 Jahren geboren. Marko Ferst erinnert für den telegraph, im Gegensatz zu vielen antikommunistischen Geschichtsverdrehern heute, daran, dass Havemanns Ideen immer eine Alternative zum Bestehenden – auch zum Kapitalismus! – zum Ziel hatten. In dieser Ausgabe wollen wir auch einen Blick nach Israel und Irland richten. Der israelische Schriftsteller Joel Schalit beschreibt in einem exklusiven Beitrag die Schwierigkeiten einer israelischen Identität, während Jürgen Schneider über Vorwürfe des Kindesmissbrauchs gegen einen Aktivisten der Sinn Fein berichtet.

Die Zeiten stimmen wenig optimistisch, doch es gibt genügend Gründe, um trotz der Krise der Linken nicht in Pessimismus zu verfallen. Die seit zwei Jahren anhaltende weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise bewirkt ein breiteres Bewusstsein dafür, dass der Kapitalismus, wie auch sein Parlamentarismus, seinem Ende entgegen schreitet. In Lateinamerika werden verschiedene neue Modelle ausprobiert. Auch hier bilden sich neue Netzwerke. Das Bemühen um konkrete Utopien feiert neue Auferstehung. Denken heißt auch kritisches Prüfen, Grenzen überschreiten. Dabei motiviert die Unausweichlichkeit des Eintretens eines neuen Zukünftigen, des Fortgangs der von Menschen gestalteten Geschichte.

Dies ist in der Geschichte angelegt, wie Ernst Bloch uns erinnert: „Ich bin. Wir sind. Das ist genug. Nun haben wir zu beginnen.“

(1) Siehe: Der Spiegel Nr. 51 und 52/1989 vom 18. und 25.Dezember 1989. Die Umfrage wurde in der ersten Hälfte des Dezember 1989 gemacht. Siehe auch: Bahrmann, H./Links, Ch.: Chronik der Wende. Die Ereignisse in der DDR zwischen 7. Oktober 1989 und 18. März 1990 (überarb. Neuauflage), Berlin 1999, S. 136.

(2) In die Vereinigung Demokratischer Aufbruch (DA) ist Angela Merkel bei wohl vollem Bewusstsein und in Kenntnis der Gründungspapiere im Herbst 1989 eingetreten. Aus den Gründungspapieren des Demokratischen Aufbruchs (DA): Aufruf zum Demokratischen Aufbruch vom 2. Oktober 1989: „Wir wollen neu lernen, was Sozialismus für uns heißen kann.“ Resolution des Demokratischen Aufbruch vom 29. Oktober 1989: „Wir fordern …: 2. Eine gesamtgesellschaftliche Diskussion über die Grundwerte und Ziele eines wirklichen demokratischen Sozialismus.“ Programmatische Erklärung des Demokratischen Aufbruch vom Oktober 1989: „Das besondere Verhältnis der DDR zu seinen östlichen Nachbarn, geprägt durch die Kriegs- und Nachkriegsgeschichte, bedeutete für den DA die Verpflichtung zum Antifaschismus und zum Antimilitarismus. … Die kritische Haltung des DA zu vielen Erscheinungen des real existierenden Sozialismus bedeutet keine grundsätzliche Absage an die Vision einer sozialistischen Gesellschaftsordnung. … Die wirklichen und gelungenen sozialistischen Lösungen in der DDR müssen daher diskutiert, bewahrt und weiterentwickelt werden. … Das politische Ziel ist eine demokratische, soziale und ökologische Gesellschaft in der Fortführung der sozialistischen Tradition.“ s. http://www.ddr89.de/ddr89/inhalt/ddr_da.html Der „Demokratische Aufbruch“ verschwand: Am 5. Februar 1990 gründeten die CDU-Politiker Kohl, Seiters und Rühe (alles Politiker der Bundesrepublik Deutschland) das Wahlbündnis „Allianz für Deutschland“ (zwischen der DDR-CDU, dem DA und der DSU) für „die ersten freien Wahlen in der DDR“. Was für eine Selbstverleugnung bei den DDR-Adepten im Jahr 1990 ebenso wie im Jubiläumsjahr 2010!

Eure telegraph-Redaktion

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