Im Ukraine-Konflikt spielt „der übliche Verdächtige“ bei internationalen Konflikten eine zentrale Rolle: Amerikanische und europäische Energieunternehmen brauchten für ihre Investitionen dringend ein Assoziierungsabkommen zwischen Europa und der Ukraine. Im nächsten Jahr wollen sie ein Freihandelsabkommen mit Europa erzwingen.
Von Malte Daniljuk
Ein Jahr nach ihrem Beginn auf dem Kiewer Maidan-Platz scheint die Ukraine-Krise langsam abzuklingen. Sie hat Europa auf viele Jahre verändert. Auf der Suche nach Gründen werden vor allem ideologische und kulturelle Ursachen diskutiert. Selbst unter denjenigen, die aktiv dagegen aufgetreten sind, dass die NATO, die US-Außenpolitik und Teile der Europäischen Union den Konflikt mit Russland eskalieren, spielen konkrete Akteure und handfeste wirtschaftliche Interessen kaum eine Rolle. Jacob Augstein etwa sieht einen mangelnden Willen auf beiden Seiten des Atlantiks. Putin und Obama seien „Getriebene“ ihrer politischen Vorstellungen und „Getriebene“ der innenpolitischen Verhältnisse. Er titelt: „Denn sie wissen nicht, was sie tun.“1
Zuletzt meldete sich John J. Mearsheimer mit einem vielbeachteten Beitrag, in dem er immerhin feststellt: „Die Hauptschuld an der Krise tragen die USA und ihre europäischen Verbündeten.“2 Wo es allerdings um konkrete Motive geht, bleibt auch er konkrete Antworten schuldig. Über allgemeine Überlegungen zur NATO-Osterweiterung hinaus behandelt Mearsheimer den Konflikt als Missverständnis zwischen Denkschulen der internationalen Politik. Vertreter eines realistischen außenpolitischen Denkens, prägend unter anderem für die russische Herangehensweise, seien auf Vertreter des Liberalismus aus der Obama-Administration getroffen. Der Ukraine-Konflikt, ein bedauerliches Missverständnis, ausgelöst durch mangelnde Empathiefähigkeit in Washington und Moskau?
Fast ein Wunder
In diesem Sommer 2014 übernahmen langsam wieder andere Konflikte die erste Seite der überregionalen Zeitungen: die Organisation „Islamischer Staat“ in Irak und Syrien. Ganz nebenbei ereignete sich etwas, das es in der Geschichte der modernen Welt noch niemals gegeben hat. Obwohl einige der wichtigsten Förderländer für Erdöl und Erdgas von Bürgerkriegen zerstört werden, stagnierten im Frühjahr die Energiepreise. Seit Juni 2014 fallen sie sogar.
„Das alte Ölkartell der Opec-Staaten, der große Preistreiber, erlebt gerade seine Entmachtung“, jubilierte die FAZ bereits im September3. Amerika habe mit der Förderung des unkonventionellen Öls die krisenbedingten Produktionsunterbrechungen in Iran, in Libyen, in Südsudan und in Syrien mehr als ausgeglichen. „Es war fast ein Wunder. Das unkonventionelle Öl kam gerade rechtzeitig.“
Abseits der Öffentlichkeit hat in Nordamerika eine kleine technische Revolution stattgefunden. In den vergangenen fünf Jahren zog die Produktion von Öl- und Gas auf dem Kontinent extrem an. Die Technologie besteht darin, tiefliegende, bisher unzugängliche geologische Schichten und Ölsande effektiver auszubeuten, mithilfe einer Technik, mit der amerikanische Unternehmen schon seit den 1960er Jahren experimentieren: Hydraulic Fracturing oder kurz Fracking.
Was in den vergangenen Monaten als „Fracking-Boom“ diskutiert
wird, erweist sich als ein echter Game-Changer für die weltweite Energie- versorgung. Der wichtigste überparteiliche Think-Tank für Außenpolitik, der Council on Foreign Relations, kündigte etwa „America´s Energy Edge“ an und spricht von einer Revolution. „Dank diesen Entwicklungen sind die USA auf dem Weg eine Energie-Supermacht zu werden“, so die Zeitschrift Foreign Affairs im April 2014.4
Allein auf dem Territorium der USA wurden im Jahr 2013 täglich 8,5 Millionen Barrel Erdöl gefördert, womit das Land bereits 80 Prozent seines Bedarfs deckt. Zum Vergleich: Im Jahr 2005 waren es nur 60 Prozent. Kanada eingerechnet, hat sich Nordamerika von einem der größten Importeure von Kohlenwasserstoffen zu einem Netto-Exporteur entwickelt. Nach Einschätzung der nordamerikanischen Energieunternehmen lassen sich diese aktuellen Förderquoten bei Erdöl demnächst auf ein Niveau verdreifachen, das sich anschließend für etwa 20 Jahre halten lässt – nach heutigem Stand der Technik.
Bei der Förderung von Erdgas stellen sich die Auswirkungen noch dramatischer dar. Zwischen 2005 und 2011 erhöhte sich die tägliche Fördermenge an Erdgas um das Siebenfache auf fast 700 Millionen Kubikmeter. Die Gaspreise purzelten dramatisch von 13 auf 4 Dollar für je 26,4 Kubikmeter Gas. Große Teile der Industrie wie auch der Stromerzeugung stellten ihre Verfahren auf klimagünstigeres Erdgas um, was erheblich niedrigere Produktionskosten zur Folge hatte.
Die beteiligten Unternehmen, darunter auch Total aus Frankreich, Shell aus den Niederlanden und British Petroleum aus Großbritannien, schaffen gegenwärtig die Voraussetzungen für Öl- und Gasexporte nach Europa und Asien. Angesichts der extrem hohen Investitionen in die Entwicklung und in den Aufbau der neuen Fördertechnologien müssen die transnationalen Unternehmen schnell und aggressiv neue Absatzmärkte erschließen. Alleine in die extrem umweltschädliche Ölsandförderung im Bundesstaat Alberta in Kanada – auch hier kommt Fracking zum Einsatz – investierten sie bisher 100 Milliarden US-Dollar, weitere 364 Milliarden sollen folgen.
Die niedrigen Energiekosten in Nordamerika verbesserten deutlich die Wettbewerbsfähigkeit der dortigen Unternehmen auf dem internationalen Markt. Das trug wesentlich dazu bei, dass sich die US-Wirtschaft von den Folgen der Wirtschaftskrise erholen konnte. Auf dieses Konjunkturwunder hoffen nun auch andere Regionen. In Europa befinden sich die neuerdings förderbaren Ressourcen vor allem in Frankreich, Deutschland und in den Niederlanden, in der Ukraine, in Litauen und Polen. Wenn die transatlantischen Energieriesen ihnen die für eine Gasförderung notwendigen Technologien zur Verfügung stellen, d.h. ihren in den vergangenen Jahren entwickelten Technologievorsprung global vermarkten, hat das weltweit unmittelbare Auswirkungen auf regionale politische Beziehungen.
Exxon-John auf dem Maidan
Aber zurück zum Konflikt um die Ukraine. Hier befinden sich vermutlich die größten derzeit durch Fracking zu erschließenden Gasvorkommen in Europa. Die wichtigsten Gasfelder liegen sowohl im Westen des Landes, in der Region um Lwow, als auch im äußersten Osten, im so genannten Jusifska-Feld rund um Charkow, Donezk, Slawjansk und Kramatorsk, sowie im Schwarzen Meer, an der Küste vor der Krim. Genaue aktuelle Angaben zu möglichen Fördermengen veröffentlichten die beteiligten Unternehmen nicht. Die Sowjetunion schätzte ihrerzeit die ukrainischen Vorkommen mithilfe geologischer Untersuchungen auf zwischen vier und sieben Billionen Kubikmeter.
Im vergangenen Sommer, unmittelbar vor dem Ausbruch der Ukraine-Krise, trat der ukrainische Energy Strategies Fund mit der optimistischen Aussage auf, dass die Vorkommen das Land für etwa 60 Jahre mit Gas versorgen könnten. Die Grundlage für diese Annahme bilden Probebohrungen, welche die alte Regierung unter Victor Janukowitsch bereits in der ersten Jahreshälfte 2013 von Exxon, Chevron und Shell hatte durchführen lassen. Dabei handelt es sich um ein Pilotprojekt für den Export von Fracking-Technologie aus Nordamerika.
Chevron und Shell investierten für erste Untersuchungen 150 Millionen beziehungsweise 260 Millionen Euro und kamen offensichtlich zu zufriedenstellenden Ergebnissen. Zumindest trat Ian MacDonald, Chevrons Vizepräsident für Europa, anschließend mit der Aussage auf, dass „diese Ressourcen die Energiesicherheit in Europa sicher verbessern werden“.5 Die Journalisten ergänzten: Der Export der Schiefergastechnik hilft der Region, sich aus der Abhängigkeit von russischem Brennstoff zu lösen und verhindert, dass Russland sich in eine „Energie-Supermacht“ verwandelt. Diese Einschätzung wird vermutlich auch in Moskau Gehör gefunden haben.
In der Folge schlossen alle drei Unternehmen Förderverträge ab und erhielten Lizenzen auf riesige Flächen. Das wichtigste Projekt hätte sicher das von Exxon geleitete Förderprojekt im Schwarzen Meer vor der Krim werden sollen. Das Skifska-Öl- und Gasfeld umfasst 17.000 Quadratkilometer. Gemeinsam mit der rumänischen Firma Petrom und NJSC Nadra Ukrainy wollte das größte US-Energieunternehmen hier jährlich 3-4 Milliarden Kubikmeter Erdgas fördern. Die geplanten Investitionen betrugen 10-12 Milliarden US-Dollar.6 Eine weitere Lizenz im Skifska-Feld hielt die italienische Firma ENI.
Auch die niederländische Firma Shell vereinbarte noch in Davos, im Januar 2014, einen genauen Förderablauf mit der Janukowitsch-Regierung für die Region um Donezk. Das anvisierte Geschäftsvolumen betrug für die Ostukraine ebenfalls 10 Milliarden US-Dollar. Da Shell hier bereits seit langem konventionelles Gas fördert, kann die Firma die durch Fracking zu erschießenden Vorkommen sehr gut einschätzen. Nach dem Ausbruch des Bürgerkriegs, der Ablösung der Krim und der Gründung von Noworussia, bleibt von den Fracking-Plänen nur ein einziges Projekt übrig. Im Westen der Ukraine bereitet Chevron gegenwärtig mit etwa 400 Millionen US-Dollar den Beginn der Ausbeutung und weitere Untersuchungen vor. Eine ausführliche öffentliche Stellungnahme der beteiligten Energieunternehmen zum Sturz ihrer damaligen Verhandlungspartner lässt sich selbstverständlich nicht finden. Noch Anfang März, nach der Entscheidung der Krim, sich Russland anzuschließen, erklärte ein Sprecher von Exxon kleinlaut, dass man davon ausgehe, dass jede Regierung die Verträge ihrer Vorgänger respektiere. „Exxon und Shell befinden sich jetzt in einer rechtlichen Grauzone“, kommentierte ein russisches Wirtschaftsberatungsunternehmen.7
Allerdings kann einer der härtesten Scharfmacher in der Ukraine-Krise durchaus als Visitenkarte für Big-Oil herhalten. Senator John McCain wird von Kritikern in den USA als „Exxon John“ bezeichnet. Unmittelbar nachdem Janukowitsch die Verhandlungen über das EU-Assoziierungsabkommen abgebrochen hatte, trat er in Kiew auf und versicherte den ersten Protestierenden, dass Amerika ihnen beisteht: „Die Ukraine macht Europa besser, und Europa macht die Ukraine besser“.8
Als Journalisten im März 2014 in Washington recherchierten, wer die hartnäckigsten Lobby-Gruppen in Sachen Ukraine-Konflikt sind, standen Exxon, Shell und Chevron ganz weit oben auf den Terminkalendern der US-Politiker.9 Zudem verfügt die US-Außenpolitik historisch über ungewöhnlich enge Kontakte zu den nationalistischen und liberalen Kräften.10
Da es sich um die einzigen größeren Wirtschaftsprojekte in der Ukraine handelte, an denen US-Unternehmen beteiligt sind – selbst der wirtschaftliche Austausch mit Russland macht nur ein Prozent in der US-Außenhandelsbilanz aus –, liegt die Vermutung nahe, dass Big-Oil dringend auf ein Assoziierungsabkommen angewiesen war, möglicherweise um seinen Technologievorsprung durch Investorenschutzrechte gegen politische Entscheidungen abzusichern. Sicher ist, dass Exxon, Chevron und Shell mit der ukrainischen Gasförderung nicht nur den regionalen Markt anvisierten, sondern von den Fracking-Feldern in Osteuropa verschiedene Staaten der EU versorgen wollten, ein Projekt, das im Rahmen eines Assoziierungsabkommens sicher einfacher umzusetzen gewesen wäre.
Entscheidungsfindung in Washington
Natürlich ist es keinesfalls so, dass einzelne unternehmerische Interessen ausreichen, um den gesamten amerikanischen Staatsapparat inklusive NATO-Führung neu auszurichten. Zunächst dürfen außenpolitische Maßnahmen, wie der Putsch am 21. Februar 2014 in Kiew und die damit verbundene Konfrontationspolitik, keine innenpolitischen Nachteile mit sich bringen. Präsident Obama steht mit seiner angeblich unentschiedenen Außenpolitik und seinem vorgeblichen Isolationismus seit Monaten unter schwerem Beschuss durch Medien und konservative Politiker.
In Bezug auf Russland kam eine Eskalation der US-Außenpolitik jedoch auch aus geopolitischen Erwägungen sehr gelegen. Die russische Regierung trat im Verbund mit den BRICS-Staaten in den vergangenen Jahren zunehmend selbstbewusst auf und torpedierte offen zentrale Projekte des „Westens“, etwa den seit Jahren angekündigten Regime-Change in Damaskus. Gegen diese strategischen Konflikte wirkt es geradezu wie eine Petitesse, dass Russland am 1. August 2013 den ehemaligen Mitarbeiter der Geheimdienste CIA und NSA, Edward Snowden, aufnahm, obwohl Washington mithilfe wilder Drohungen versuchte, jeden potentiellen Gastgeber einzuschüchtern.
Präsident Barack Obama hatte beispielsweise im Mai 2013, pünktlich zum Ende des UNO-Waffenembargos gegen alle Parteien im syrischen Bürgerkrieg, eine Rote Linie verkündet: Falls die Assad-Regierung in Syrien Massenvernichtungswaffen einsetzt, würde man militärisch eingreifen. Drei Monate später ereignete sich ein Zwischenfall mit dem Giftgas Sarin in einem Vorort von Damaskus11, den Außenminister John Kerry prompt den Regierungstruppen anlasten wollte. „Syriens Präsident Assad reiht sich ein in eine Liste mit Adolf Hitler und Saddam Hussein, die chemische Kampfstoffe gegen ihre eigene Bevölkerung eingesetzt haben“, behauptete Kerry und forderte den Kongress auf, grünes Licht für einen Militärschlag gegen die Führung in Damaskus zu geben.12
Das Ganze ereignete sich Anfang September, wenige Tage vor dem G-20-Gipfel in St. Petersburg, wo Präsident Obama internationale Rückendeckung für einen Angriff auf Syrien mobilisieren wollte. Dieser Plan scheiterte gründlich, denn am Vortag erklärte Russlands Präsident Wladimir Putin zu Kerrys Einlassungen: „Er lügt und er weiß, dass er lügt.“ Die russische Regierung verlangte, dass die USA dem Weltsicherheitsrat ihre Beweise vorlegen. Ein Alleingang unter US-Führung, d.h. die Umgehung des UN-Sicherheitsrats, sei illegal. Diese Ansage war derartig undiplomatisch, dass Barack Obama kurzfristig überlegte, seine Teilnahme am Gipfel abzusagen. Schließlich erschien er doch, um dann festzustellen, dass auch China sich Russlands Forderung anschloss, auf einen Militärschlag zu verzichten. Die transatlantischen Scharfmacher gaben die Hoffnung auf, eine Resolution des Sicherheitsrates für einen Angriff auf Syrien zu bekommen.
Fracking Europa
Der Umstand, dass Russland infolge des Ukraine-Konflikts nun aus der selbsternannten „internationalen Gemeinschaft“ ausgestoßen ist, kommt den an der Fracking-Revolution beteiligten Energieunternehmen in Europa und den USA jedoch auch an anderer Stelle sehr gelegen. Die gesamte nordamerikanische Infrastruktur wird gegenwärtig auf Export umgestellt. Im Rahmen des Freihandelsvertrages TTIP soll der größte Binnenmarkt der Welt entstehen. Während die Politik noch verhandelt, schaffen die europäischen, kanadischen und amerikanischen Energieunternehmen schon Fakten. In Rotterdam und Bilbao werden bereits die Raffinerien auf Flüssiggas- und Schwerölimporte umgerüstet. Der amerikanischen Energieagentur liegen mehr als 30 Projektanträge auf Exporte vor. Das Handelsvolumen der nordamerikanischen Energie wird zwischen 600 Milliarden und 1,6 Billionen US-Dollar geschätzt. Je früher die Lieferungen beginnen, desto eher die finanzielle Ausbeute. Gegenwärtig führt Big-Oil eine aggressive Kampagne in Washington und Brüssel, damit die Exporte im kommenden Jahr 2015 starten können.
Eine der Bedingungen dafür, dass der zukünftige transatlantische Wirtschaftsraum mit nordamerikanischer Energie geflutet werden kann, ist, dass etablierte Anbieter verdrängt werden. Vor diesem Hintergrund lässt es sich verstehen, wenn einer der wichtigsten Vordenker amerikanischer Vorherrschaft13, Joseph Nye, zum Ukraine-Konflikt erklärt: „Der Westen muss Sanktionen gegen den Finanz- und Energiesektor verhängen, um Russland aus der Ukraine herauszuhalten; aber man darf auch nicht die Notwendigkeit aus den Augen verlieren, bei anderen Themen mit Russland zusammenzuarbeiten.“14
Im Berliner Bundeskanzleramt fiel die Entscheidung, russische Gasimporte mittelfristig durch Lieferungen aus Nordamerika zu ersetzen, offensichtlich sehr schnell. Angeblich15 unterstützt Angela Merkel ein geheimes EU-Positionspapier vom 28. März 2014 für die Freihandelsverträge CETA und TTIP, das zukünftige Gas- und Ölimporte aus Kanada und den USA zum wichtigsten Thema bei den Freihandelsgesprächen macht. „TTIP wird dazu beitragen die Sicherheit der Energieversorgung in der EU zu stärken“, heißt es darin mit Blick auf Krise in der Ukraine. „Eine solche Anstrengung beginnt man mit seinen engsten Verbündeten“.
Die Frage der Freihandelsverträge bestimmt auch die energiepolitische Debatte in den USA. „Wo immer es möglich ist, sollten die USA den Freihandel und Investitionen fördern, die nicht an politische Bedingungen gebunden sind“, forderte etwa Foreign Affairs im September 2013 im Zusammenhang mit bevorstehenden Flüssiggasexporten16.
In Europa sehen die amerikanischen Energieunternehmen solch unzumutbare Bedingungen etwa in der geplanten „Kraftstoffqualitätsrichtlinie“ der EU. Das Gesetz schreibt vor, dass nur Erdölprodukte importiert werden können, die den CO2-Emissionswerten entsprechen. Die Werte des mithilfe von Fracking-Technologien geförderten Schweröls aus Kanada und den USA überschreiten die vorgesehenen Richtwerte allerdings um das Vierfache. Bei den Verhandlungen um den Freihandelsvertrag CETA mit Kanada drohte die kanadische Delegation bereits an, die Gespräche platzen zu lassen, sollten keine weitreichenden Investorenschutzrechte verankert werden, die es ihnen ermöglichen, solche gesetzgeberischen Regelungen auszuhebeln.
Die zentrale Bedeutung von Freihandelsabkommen hat aber auch inneramerikanische Ursachen. In den USA gelten für Energieexporte weiterhin Restriktionen, die aus den Zeiten der knappen Ölreserve stammen. „Diese Anforderungen werden sich erledigt haben, wenn mit den europäischen und asiatischen Ländern die Verträge über transatlantische Partnerschaft für Handel und Investitionen sowie die Transpacific Partnership abgeschlossen sind“, informiert der Council on Foreign Relations in einem aktuellen Hintergrund17. Exporte in Länder, mit denen Freihandelsabkommen abgeschlossen sind, benötigen keinerlei Sondergenehmigungen.
Innerhalb Europas liegen die wichtigsten eigenwirtschaftlichen Interessen an dieser Entwicklung vielleicht in Frankreich vor. Der französische Ölriese Total hatte frühzeitig in Fracking-Technologie investiert und sich an zahlreichen Projekten in Nordamerika direkt beteiligt. Gegenwärtig beginnt das Unternehmen große Vorhaben auf dem europäischen Kontinent, unter anderem in Dänemark und Großbritannien. Zudem werden in Frankreich selbst mit 5,1 Billionen Kubikmetern die größten europäischen Schiefergas-Ressourcen außerhalb der Ukraine vermutet. Wie auch in den USA agiert die französische Regierung dabei konsequent im Sinne ihres Energieunternehmens. Sie blockiert seit längerem den Import von Erdgas aus Algerien.18
Dass aus solchen wirtschaftspolitischen Brachialstrategien auch Konflikte entstehen, die moderiert werden müssen, illustriert vielleicht am deutlichsten die Übernahme des amerikanischen TurbinenHerstellers Dresser-Rand, wichtigster Lieferant der boomenden Fracking-Industrie in Nordamerika, durch den deutschen Siemens-Konzern. Dessen Vorstandsvorsitzender, Joe Kaeser, reiste Ende März 2014, auf dem Höhepunkte der Krim-Krise, nach Moskau und kündigte an, dass sein Unternehmen weiterhin beabsichtigt, in Russland zu investieren. Damit stellte er sich an die Spitze der 6.000 deutschen Unternehmen, die schwerwiegend von Sanktionen betroffen wären. Allerdings gestaltete sich deren Opposition gegen die Sanktionspolitik bisher zurückhaltend. Im September konnte Siemens überraschend den Kompressorenhersteller Dresser-Rand für 5,8 Milliarden Euro übernehmen. Angeblich hatte der Dax-Konzern in den drei Jahren zuvor erfolglos in dieser Sache sondiert.
Für eine politische Debatte in Europa
Teile der alten Friedensbewegung und der aktuellen Protestbewegung gegen das westliche Vorgehen im Ukraine-Konflikt orientieren sprachlich weiterhin sehr stark auf „die USA und die NATO“. Vor dem Hintergrund der beschriebenen energie- und außenpolitischen Umbrüche sollte klar sein, dass auch europäische und kanadische Energieunternehmen ein entscheidender Akteur sind. Wir reden von einem transatlantischen Netzwerk, in dem bestimmte Kapitalgruppen so dominant sind, dass sie ihre Interessen problemlos auf Kosten anderer wirtschaftlicher Gruppen, vor allem in Europa, durchsetzen können.
Es zeichnet sich ab, dass die Entscheider in der EU, in Kanada und den USA eine neue wirtschaftliche Konjunktur auf der Basis von Freihandelsverträgen anstreben, die auf dem größten Binnenmarkt der Welt für die nächsten beiden Jahrzehnte eine weitgehend selbständige Versorgung sichern können.
Diese neue Konjunktur basiert auf einem technologischen Sprung in der Förderung fossiler Brennstoffe, mit dem eine neue, extrem zerstörerische Form der Umweltbelastung verbunden ist. Diese aggressive Inwertsetzung bisher unzugänglicher Ressourcen durch Fracking und Ölsandausbeutung hat nichts mit grüner Technologie zu tun, auch wenn Big-Oil dies in einer Milliarden Dollar schweren PR-Kampagne glauben machen will.
Alleine die in öffentlichen Bilanzen gut versteckten CO2-Emmissionen des Fracking bedeuten einen weiteren Sprung hin zu einer globalen Klimakatastrophe. Zudem führt der transatlantische Transport von Flüssiggas und Erdöl zu höheren Kosten und Umweltrisiken. Die lokalen Verwüstungen und unkalkulierbaren geologischen Risiken bergen weitere gesellschaftliche Kosten, die am Ende nicht die beteiligten Unternehmen begleichen werden.
Eine weitere dramatische Bedrohung besteht darin, dass diese neue transatlantische Offensive darauf angelegt ist, Europa wirtschaftlich, politisch und kulturell von seinen geographischen Nachbarn – Russland, den Ländern des Nahen und Mittleren Osten sowie Nordafrikas – zu isolieren. Europa ist mit der gesamten muslimischen Welt auf dem Landweg verbunden. Anders als Nordamerika stellt die chaotische und gewalttätige Neuordnung der Region, die auch aufgrund unterschiedlicher Vorstellungen der Regionalmächte möglicherweise Jahrzehnte andauern wird, eine unmittelbare Bedrohung für Europa dar.
Deshalb sollten die verschiedenen Oppositionsbewegungen gegen die Freihandelsabkommen TTIP und CETA, die Umweltbewegung gegen das Fracking und eine auf wirtschaftliche Integration und kulturellen Austausch mit den unmittelbaren Nachbarregionen orientierte Friedens- und Menschenrechtspolitik dringend ihre Kräfte fokussieren.
1 Jakob Augstein, 4. September 2014, Denn sie wissen nicht, was sie tun
2 John J. Mearsheimer: Why the Ukraine Crisis Is the West’s Fault. The Liberal Delusions That Provoked Putin, in Foreign Affairs September/Oktober 2014
3 FAZ, 15. September 2014, Der Ölpreis ist verrückt
4 Robert D. Blackwill, Meghan L. O’Sullivan: America’s Energy Edge. The Geopolitical Consequences of the Shale Revolution, Foreign Affairs March/April 2014
5 Bloomberg, 24. Juli 2013: Chevron Draws Europe Toward Natural Gas Independence: Energy
6 Black Sea News, 23. August 2014, Ukraine hopes to sign agreement with ExxonMobil by end of September
7 Bloomberg, 11. März 2014, Ukraine Crisis Endangers Exxon’s Black Sea Gas Drilling: Energy
8 The Telegraph, 15. Dezember 2013, John McCain in Kiev: ‘Ukraine will make Europe better’
9 Bloomberg, 23. Mai 2014, Ukraine Crisis Drives a Quiet Lobbying Boom in U.S., htt Jakob
10 siehe ausführlich: Telepolis, 19. Mai 2014, Paul Schreyer: Falsche Freunde
11 siehe auch: London Review of Books, April 2014, Seymour M. Hersh: The Red Line and the Rat Line
12 Die Welt, 1. September 2013: USA haben Hinweise auf Sarin-Einsatz in Syrien
13 zum Konzept amerikanischer Vorherrschaft siehe auch Joseph S. Nye, William A. Owens: America‘s Information Edge, Foreign Affairs März/April 1996
14 Joseph S. Nye: A Western Strategy for a Declining Russia
15 Plusminus 3. September 2014: CETA: Handel mit schädlichem Öl
16 Amy Myers Jaffe, Edward L. Morse: Liquefied Natural Profits. The United States and the Remaking of the Global Energy Economy, Foreign Affairs, 16. September 2013
17 Mohammed Aly Sergie: U.S. Energy Exports, 2. Oktober 2014, Foreign Affairs
18 Susanne Kaiser: Algeriens Vormarsch endet an den Pyrenäen, 16. September 2014
Malte Daniljuk ist Publizist und ist bei dem Portal „Amerika21“ Redakteur für das Ressort Hintergrund & Analyse.