KONTINUITÄTEN UND BRÜCHE
Arbeitszwang, Arbeitsverweigerung und Verfolgung so genannter Asoziale
Der neue telegraph widmet sich den Themen Arbeitszwang, Arbeitsverweigerung und Verfolgung so genannter Asozialer. Die wohlfahrtsstaatliche Idee, den Obdach- und Wohnungslosen zu helfen, reichte Ende des 19. Jahrhunderts bis 1932 von der aufsuchenden Hilfe, über Nachtasyle, die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen bis zu verschiedenen Formen der Arbeitsverpfl ichtung. Bereits damals standen in der Gesetzgebung die Bedürftigkeitsprüfung und der Arbeitsgedanke im Vordergrund. Es ging zu keiner Zeit um Arbeit nach Wunsch, Lust oder Profession, sondern um eine Arbeit als letztes Mittel vor der äußerst kärglichen Erwerbslosenfürsorge.
Zu den Kontinuitäten der deutschen Geschichte bis heute gehören sechs verschiedene Prozesse:
1. Eine Traditionslinie ist das Arbeitsethos und die damit verbundenen Formen des Arbeitszwangs. In der Weimarer Republik existierten verschiedene Formen des Arbeitszwangs: Notstandsarbeiten, Pfl ichtarbeiten und Fürsorgearbeiten.
Im NS-Staat betraf der Arbeitszwang nicht nur Erwerbslose, Bedürftige, Missliebige und deportierte Menschen, sondern er war auch auf Erwerbstätige ausgedehnt, z. B. mit Kündigungsverbot und extrem langem Arbeitstag in für die militärische Produktion wichtigen Unternehmen. Schritt für Schritt wurden ab 1933 Millionen deportierte ausländische ZwangsarbeiterInnen unter widerwärtigen Arbeits- und Lebensbedingun- Editorial gen zur Zwangsarbeit eingesetzt und viele AusländerInnen und missliebige Deutsche aller Schattierungen in den Konzentrationslagern „durch Arbeit“ vernichtet.
2. Die an das Aufenthaltsrecht gekoppelte Arbeitsverbots- bzw. Arbeitserlaubnispolitik für Asylsuchende und bestimmte AusländerInnengruppen. Wegen einer faktischen Abschaffung des Asylrechts durch den deutschen Staat vor einigen Jahren hat Deutschland nicht nur das Sagen in der Migrantenpolitik in Europa als wirtschaftsstärkste Macht, sondern versucht auch in der innerdeutschen Politik den Vorrang einer ausschließlichen Immigration Hochqualifi zierter zu Lasten Niedrigqualifi zierter durchzusetzen. Im Sprachgebrauch von Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble nach Berliner Zeitung vom 8.7.2008 braucht die Europäische Union keine Einreise von unqualifi zierten Ausländern aus Afrika oder Osteuropa.
3. Die mit dem sozialadministrativen Arbeitszwang oder dem Arbeitsverbot verbundenen ideologischen Argumentationsfi – guren des Sozialschmarotzertums und des „Asozial“-Seins finden sich aktuell in der öffentlichen Meinungsmache und vor allem im Alltagsbewusstsein. Der Begriff „Asozial“ fi ndet sich seit 2007 wieder häufi ger in der öffentlichen Diskussion in TV- und Printmedien. Es soll vermittelt werden, dass Nicht- Konformität zum Unterschichtsdasein bzw. zum Ausschluss aus der Gesellschaft führt. KONTINUITÄTEN UND BRÜCHE telegraph 116/117 2008 3
4. Schärfer noch als die gehobene Ideologiekritik kann ein kritischer Blick auf den alltäglichen Sprachgebrauch in einer Gesellschaft offenbaren, ob der Fortbestand dessen, was als „Nationalsozialistisches Gedankengut“ identifi zierbar ist, auch die Gefahr des Wiederaufl ebens menschenfeindlicher Konzepte birgt. Eine mutmaßlich große Zahl von Menschen hat es nie gelernt, einem solchen Ruf nach „Dienst an der Gemeinschaft“ zu widerstehen.
5. Vergleichbar ist der Umgang der Verwaltungen mit Erwerbslosen und Bedürftigen und die damit verbundene Schikane in der Gesetzgebung. Sowie die Datensammlungen, die Be- bzw. Aburteilungen und die öffentliche und verwaltungsseitige verbale Abqualifi zierung: unrichtige Alg-II Bescheide, meist falsche Widerspruchsbescheidungen, unklare Zahlungskürzungen, seltsame Fristsetzungen, falsche Rechtsfolgenbelehrungen, falsche Arbeitsbeschreibungen für „Ein-Euro-Jobs“, ganz zu schweigen von Verlangen nach Arbeitsfördermaßnahmen oder Umzug.
6. Der immer wieder als Drohkulisse für die Erwerbstätigen genutzte Umgang mit den Erwerbslosen dient mit Hatz IV dazu, dass Kapital und Staat sämtliche Teile der arbeitenden Menschen als fl exible und billige Arbeitskräfte erpressen, und das mit dem harten Hartz- IV-Brot und der Sanktionspeitsche. Dies bekommen besonders „Aufstocker“ zu spüren. Zum Beispiel muss sich ein Familienvater von 2 Kindern und mit einer arbeitslosen Frau als Vollzeit-Hausmeister in 24-Stunden-Rufbereitschaft mit 1.100 Euro Brutto Gehalt vom Jobcenter drohen lassen. Wenn er nicht bald mehr verdiene, sollte er sich einen Nebenjob besorgen oder er bekommt vom Jobcenter einen neuen Job zugewiesen. Trete er den nicht an, würden ihm aufstockende Leistungen gestrichen. Dass allerdings die Schaffung von immer mehr Mehrwert an seine Grenzen stößt, zeigt die derzeit ausgebrochene weltweite Wirtschafts- und Währungskrise und die Versuche der politischen Regulierung. Obwohl die internationale Bankenkrise keine Liquiditätskrise ist, sondern eine klassische Überakkumulationskrise – eine Krise der im großen Maßstab ausgegangenen Investitionsmöglichkeiten in produktives und verwertungsfähiges Kapital –, nehmen die Regierungen der USA, Europas und der BRD die Banken in Zwangsernährung an den Tropf. Doch noch mehr Liquidität ändert nichts am Problem der Banken, an den Sorgen der vom Lohn abhängigen Menschen aber sehr wohl.
Der neue telegraph entstand in Zusammenarbeit mit dem Arbeitskreis „Marginalisierte – gestern und heute!“. Der AK Marginalisierte hat in diesem Jahr in 31 Veranstaltungen die Verfolgung und Vernichtung der so genannten Asozialen im NS-Staat, die Obdachlosenasyle in Berlin um 1920 sowie den Umgang mit ungeliebten Bevölkerungsteilen in der BRD, der DDR und heute thematisiert. Ein Querschnitt der Themen liegt hiermit als Publikation vor.
Eure telegraph-Redaktion
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