EROSION DES WESTBLOCKS

Kolumne von Wolfgang Engler
aus telegraph #108

Seit der Überfall der angelsächsischen Alliierten auf den Irak in die militärische Endphase eingetreten war, traktierte ich Freunde und Bekannte mit stets derselben Frage: Bist Du mit dem Verlauf des Krieges in etwa einverstanden? Die Frage war nicht rhetorisch gemeint und sollte auch nicht provozieren; sie entsprang vielmehr eigener Unentschiedenheit. Für einen schnellen Sieg der Eroberer sprach neben der geringeren Zahl vor allem ziviler Opfer sein Entlarvungseffekt: Wer binnen weniger Wochen in Bagdad einmarschiert, hatte es offenkundig gerade nicht mit einem hochgerüsteten Gegner zu tun, der seine Nachbarn und vielleicht sogar die gesamte Völkergemeinschaft bedrohte. Für ein zäheres Ringen der Kriegsparteien, verlustreicher auch für die Interventionsmächte, sprach der Vietnam-Effekt: Ein toter US-Soldat wiegt in der Heimat Hunderte getöteter Feinde auf, und wenn die eigenen Verluste selbst nach Hunderten oder Tausenden zählen, greift bald der Schrecken um sich und lähmt die Kriegsbegeisterung – auch für die nächsten Jahre.

Derzeit spricht alles gegen derartige Lernprozesse und dafür, dass die U.S.A. und Großbritannien ermutigt aus dem Feldzug hervorgehen, zu neuen Abenteuern allzeit aufgelegt. Für seine Initiatoren erfüllte der Krieg sämtliche in ihn gesetzte Erwartungen, war er eine einzige große Machtdemonstration, eine „show of force“, die die Welt das Fürchten lehrt.

Der Krieg war zugleich eine eindrucksvolle Unterweisung in politischer Theorie, sofern man bereit ist, Begriff und Praxis des Politischen mit der Nüchternheit eines Carl Schmitt zu bestimmen: „Solange ein Volk in der Sphäre des Politischen existiert, muss es … die Unterscheidung von Freund und Feind selber bestimmen. Darin liegt das Wesen seiner politischen Existenz. Hat es nicht mehr die Fähigkeit oder den Willen zu dieser Unterscheidung, so hört es auf, politisch zu existieren. Ein Krieg hat seinen Sinn nicht darin, dass er für Ideale oder Rechtsnormen, sondern darin, dass er gegen einen wirklichen Feind geführt wird.“ (Ders. Der Begriff des Politischen, 1932).

Für die Vereinigten Staaten war der Krieg gegen den Irak die Probe aufs Exempel der einzig verbliebenen politischen Nation im Weltmaßstab.

Für den Rest der Welt besaß er dieselbe Bedeutung, erschöpfte sich darin aber nicht, sondern gewann schon im Vorfeld einen ganz andersartigen Aufforderungscharakter: Die eigenen Interessen neu zu bestimmen, und zwar in ausdrücklicher Abgrenzung zum US-amerikanischen Politik- und Machtverständnis und dadurch zu politischem Leben überhaupt erst wieder erweckt zu werden.

In diesem Zusammenhang kommt der deutschen Position im Irak-Konflikt eine herausgehobene Bedeutung zu. Ob diese Position aus rein wahltaktischen Gründen zustande kam – letzter Rettungsanker einer innenpolitisch ratlosen Koalition -, ist dabei nur noch von retrospektivem Belang. Mag die den Krieg und die deutsche Kriegsbeteiligung ablehnende Haltung der Bundesregierung noch so dilettantisch und zuletzt auch halbherzig vorgetragen worden sein – sie ist unverzichtbar. Hätte es diese Haltung nicht gegeben – man hätte sie erfinden müssen.

Als das schroffe Andere zur US-amerikanischen Position beförderte sie weltweit Klärungsprozesse, die ansonsten weiter vertagt und kaschiert worden wären.

Während einer Debatte im polnischen Sejm äußerten Politiker unterschiedlicher Parteien kürzlich ihren Unmut darüber, dass Deutschlands Beharren auf einer eigenen Meinung sie dazu nötige, klarzustellen, wo ihre eigentlichen Loyalitäten lägen – diesseits oder jenseits des Atlantik. Ähnliches war aus den Niederlanden zu hören. Kommt ein solcher Konflikt auch ungelegen, so ist er doch angesichts einer Weltlage unausweichlich, die, wieder einmal, auf eine strategische Weggabelung zuläuft: „Ewiger Krieg für ewigen Frieden“ (Gore Vidal) oder entschlossene Entparadoxierung von Friedenspolitik.

Hätte die deutsche Regierung die Gleichgültigkeitserklärung der Washingtoner Administration gegenüber der UNO („Welche Evidenzen die Inspektoren auch immer zutage fördern, am Ende steht der Krieg“) nicht spiegelverkehrt reproduziert („Mögen die Inspektoren eine militärische Entwaffnung des Irak nahelegen, wir beteiligen uns nicht daran“), wären andere Regierungen, darunter solche mit Veto-Recht in der Weltorganisation, in der Deckung geblieben.

So aber wird im Umriss eine Achse Peking – Moskau – Berlin – Paris sichtbar, die sich durch die „Achse des Bösen“ nicht so leicht einschüchtern läßt. Sie kann wieder zerfallen, aber auch neu oder anders entstehen – unter Einschluss von derzeit noch unentschlossenen Staaten. Die Alternative zum US-amerikanischen Politikprojekt bleibt offen – dank der deutschen Position, und wenn das Beispiel Schule macht, könnten sich Begriff wie Praxis des Politischen doch noch aus der gewaltmonopolistischen Umklammerung befreien.

„Läßt sich (ein Volk) von einem Fremden vorschreiben, wer sein Feind ist und gegen wen es kämpfen darf oder nicht“, fährt Carl Schmitt nach den oben zitierten Sätzen fort, „so ist es kein politisch freies Volk mehr und einem anderen politischen System ein- oder untergeordnet.“

Sich von der fremden Vorschrift und Unterordnung zu emanzipieren, zögernd gewiss und ängstlich, aber doch unverkennbar und mit dem Anspruch auf eine andere Art der Politik, war das entscheidende Signal, das von Berlin ausging und in anderen Metropolen aufgenommen wurde.

Wichtiger, folgenreicher noch als der Einfluss der deutschen Position auf andere Regierungen dürfte ihre Ausstrahlung auf die Regierten sein. Einer luziden Beobachtung Alexis de Tocquevilles zufolge „verzeihen die Regierenden den Regierten gern, dass sie sie nicht lieben; sofern sie sich gegenseitig nicht lieben“. Ein Krieg gegen den Irak ohne UN-Mandat war in keinem Land der Welt mehrheitsfähig, und der Dauerdruck den die Bush-Regierung auf ihre „Partner“ ausübte und noch ausübt, könnte leicht ins Gegenteil umschlagen. Bevölkerungen mit anders gesonnenen Regierungen könnten ernsthaft zu zweifeln beginnen, ob sie für die Lösung der wichtigsten aller Fragen die geeigneten Repräsentanten besitzen und der „Koalition der Willigen“ den Willen der Mehrheit entgegensetzen, „globale Nächstenliebe“, sozusagen. Wer weiß, welchem guten Zweck der Kampf gegen das „Böse“, ganz gegen seine eigene Absicht schließlich dient.

Die kaum verhaltene Wut der politisch Verantwortlichen in den USA auf die Querulanten in Berlin kommt aus dieser Furcht.

Die Vereinigten Staaten haben das eigene politisch-militärische Bündnissystem selbst gesprengt, indem sie sich ihre Verbündeten je nach Bedarf zusammensuchen, auch außerhalb seiner Grenzen. Ihre neuen Widersacher aus Europa gehen denselben Weg, wodurch nach der schon vollzogenen Auflösung des Ostblocks nun auch die Auflösung des Westblocks auf der weltpolitischen Tagesordnung steht.

Wolfgang Engler ist Autor und Soziologe, er lebt in Berlin.

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