aus telegraph #110
Kolumne von Hans-Jochen Vogel
Die Geschichte: Nennen wir ihn Bernd. Er hat die 50 überschritten, versucht aber immer noch jugendlich zu wirken; trägt einen Pferdeschwanz. Groß geworden in einer DDR-Bezirksstadt. Mistige Kindheit. In der Jugend ein „Langhaariger“ mit Neigung zu verpönter Westmusik. Jobs bei der Wismut. Meist körperliche Arbeit. Die Mutter in der SED. Er selbst vom Sozialismus überzeugt. Er reimt und singt im Singeclub der FDJ, zeichnet, ein kreativer Mensch ohne Ausbildung, begeistert und fähig, andere zu begeistern. Seine junge Ehe zerbricht, als er bei der NVA dient; ein Sohn. Mit fiesen Methoden wirbt ihn die Stasi. Weil er an den Sozialismus und an Gerechtigkeit glaubt, erregt er sich über Schlampereien und Schweinereien, die er in seinem Arbeitsumfeld erlebt, schreibt Eingaben, läßt auch Chefs „hochgehen“. Damit schafft er sich Feinde. Sein Drang zum Aktivismus wird schließlich auf das harmlose Feld des Sports gelenkt: „Kraftsport/Kulturistik“, also Bodybuilding. Er hilft maßgeblich dabei, ein Netz von Gruppen aufzubauen, Nachwuchs heranzubilden – wie gesagt: er kann begeistern. Zwischenzeitlich läßt ihn die Stasi in Ruhe, aktiviert ihn in den 80er Jahren wieder. Er ist kein leichter IM. Er will bei der Firma seine Beschwerden über die Zustände im Lande und über die Korruptheit von Kadern loswerden. Als man ihn später wegen seiner IM-Geschichte aus dem Öffentlichen Dienst entlassen will, gewinnt er vorm Arbeitsgericht: er war als IM ein Gerechtigkeitsstreiter. Öffentlicher Dienst? Nach der Wende ist er kommunaler Angestellter als Friedhofsarbeiter, Bademeister, Hausmeister … Überall eckt er an, deckt er auf, prangert er an, kämpft er gegen Unrecht bzw. das, was er als solches empfindet. Er fühlt sich, wohl zurecht, gemobbt, als Ziel von Intrigen und Angriffen. Einer viel jüngeren, ganz jungen Frau macht er ein Kind. Die Beziehung hält nicht. Eine belastende Geschichte mit dem Ex-Stasi-Stiefvater der Frau, den er anzeigt und vor Gericht bringt. Gesundheitlich und finanziell angeschlagen, allein, enttäuscht, wütend voller böser Geschichten über die Bonzen von damals und wie sie heute mit dem Rücken an die Wand gekommen sind und ihn, den in seinen eigenen Augen ehrlichen Idealisten und gläubigen Sozialisten, schikanieren und auslachen. In der Wendezeit war er aktiv, sprach zu den Massen, feurig, überzeugend, den Nerv treffend, als ein Arbeiter, der sich artikulieren konnte. Er rieb sich auf als Parteisoldat der SDP/SPD. Als die Posten vergeben wurden und die Partei in der Stadt an die Macht kam, blieb er außen vor. Die, für die er gerackert hatte (und die sich in der DDR durchaus geschont hatten) saßen jetzt auf den Sesseln der Macht, er stand mit schmerzenden Gliedern im Finstern frierend hinter ihrem Rathaus und zerschredderte die Pappen der Weihnachtsmarkthändler. SPD adé! Immer wieder taucht er dann bei Protesten, bei Demos und Ostermärschen auf. Dann hat er die Partei gefunden, in der er nun mit ganzer Kraft für die Gerechtigkeit kämpfen wird: die PDS. Bis er dort die Typen entdeckt, die für das Scheitern der besten Sache der Welt, des Sozialismus verantwortlich sind und die offenbar nichts dazu gelernt haben, und wenn sie wieder an die Macht kämen, Leute wie ihn fertig machen würden. Dennoch schafft er es in den Stadtvorstand, findet dort aber kein Verständnis für seine Ideen, schon gar nicht für seinen Wunsch, Stadtrat werden zu wollen. Raus aus dem Stadtvorstand, raus aus der Partei. Weil ich lange nichts von ihm gehört habe und vermute, dass es ihm nicht gut geht, rufe ich ihn gestern abend an. Er hat den Kampf wieder aufgenommen, gegen alle, die die Stadt und das Land ruinieren, gegen das Unrecht, den Sozialabbau. Er will immer noch Stadtrat werden, nun jedoch für die Republikaner. Letzten Sonnabend war er dabei, als ein Häuflein Rechter dem Aufruf der Reps zu einem eigenen Bombardierungs-Gedenken gefolgt war. Am 14. Februar wa er mit den Nazis durch Dresden marschiert. Nein, ein Nazi sei er nicht, sondern weiterhin vom Sozialismus überzeugt, von Marx und Lenin. Aber eine multikulturelle Gesellschaft wolle er nicht, und erst einmal müßten für Deutsche Arbeitsplätze geschaffen werden, und das sei unser Land, und da könnten wir die Grenzen nicht für alle Ausländer aufmachen. Und natürlich empört er sich nun über jene, die, wie in Dresden geschehen, einen ehrlichen Menschen wie ihn, attackieren: die Antifaschisten. D.h. er ist inzwischen integriert in den Naziblock. Man könnte die Geschichte abtun, aber mir ist angst, denn er ist ein mitreißender Redner, ein geschickter Demagoge, ein Erniedrigter und Beleidigter, Einer von uns, intellektuell seinen möglichen Zuhörern gerade so weit überlegen, dass er ihnen das Gefühl vermitteln kann, er drücke genau das aus, was sie denken.
Der Kommentar: Warum lasse ich mich hier über Bernd aus? Weil ich in letzter Zeit mehrfach erlebe, wie in der allgemeinen Orientierungslosigkeit rechte Parolen bei den sogenannten einfachen Menschen greifen. Da kommt neben nie erledigtem und sich neu reproduzierendem Kleinbürgertum auch das DDR-Erbe hoch, das uns nicht gefiel: dichte Grenzen nach außen, klare Grenzen im Inneren, die Verklärung der entfremdeten Arbeit, die Spießeridylle. Dies nun umgeprägt und reaktiviert durch die Faschismus erzeugenden Faktoren, die im krisenhaften Kapitalismus am Werk sind, Rassismus ohnehin, die Flucht in die „monolithische Identität“ (Dan Bar-On) als Entsprechung zum Markt- und Besitzindividualismus.
Angst ist unter den Leuten. Sie drückt sich im religiösen Fundamentalismus aus, dem christlichen wie auch anderem. Angst, die sich aus einer grundsätzlichen und tiefreichenden Verunsicherung speist. Aus einer Verunsicherung der materiellen, sozialen und ökonomischen Existenz, aus einer Auflösung sozialer und ideologischer Bezugsrahmen, der Zersetzung von Wertvorstellungen, Zersetzung geistiger Kohärenz in Bilderflut, Eventkultur, Beliebigkeit und Geschwafel. Dabei bleibt ein Allerheiligstes der ökonomischen und politischen Herrschaftsstrukturen im numinosen Dunkel: die Nachrichten decken die Wahrheit zu, der Wald verschwindet hinter den Bäumen. Die Folge ist die Personalisierung des Politischen und die Blüte von Verschwörungstheorien, die das Aufdecken der realen Verschwörungen erschwert.
Wen sollen wir wählen? So fragen die Leute? SPD nicht, gut! Wen dann? „Sagen Sie nicht: PDS!“ meint ein Mann am Attac-Infostand.
Aber es geht um mehr. Die Koordinaten scheinen nicht mehr zu stimmen. Die Welt, auf die sie zuzutreffen schienen, ist nicht mehr. Was ist links heutzutage? Die SPD? Das wagt wohl niemand mehr zu bejahen. PDS? In Berlin hat sie beim Mitverwalten des Kapitalismus ihr Image schneller verschlissen, als man befürchten wollte. Eine Reihe kleiner und mehr oder weniger feiner (manchmal auch unfeiner) Gruppierungen? Darunter gibt es durchaus Edelsteine, aber im Osten sind sie kaum präsent. Antiimperialisten und Antideutsche? Wo schließt sich der Kreis zu ganz rechts?
Was ist nötig in Ostdeutschland? Wo liegen die Chancen für eine politische Neuorientierung und Selbstfindung? Zum Glück hat eben jene Entwicklung der neoliberalen Globalisierung, der die DDR schließlich alternativlos zum Opfer gefallen ist, auch einen weltweiten Widerstand auf den Plan gerufen. Proteste, Solidarisierung, alternative Projekte vernetzen sich und nehmen die Gestalt einer „anderen Globalisierung“ oder „Globalisierung von unten“ an. In diesem Prozess mit Millionen aktiver und kreativer Subjekte findet auch eine intensive Diskussion über Grundlagen, Ziele und Strategien für eine Veränderung der Verhältnisse statt. Diese Diskussion ist zum Glück weiträumiger, interessanter und hoffnungsvoller, als wir es bisher in den linken Szenen unseres Landes kannten. Da hinein sollten wir uns einbringen, dies als unseren Bezugsrahmen sehen.
Wir haben traditionelle linke Identitäten daraufhin zu befragen, inwiefern sie eher als Reflex und Produkt westlicher bürgerlich-kapitalistischer Verhältnisse zu verstehen sind, denn als ihre Alternative bzw. als Ausweg aus ihnen.
Schließlich müssen wir uns der Tendenz entgegen stellen, die gesamte Geschichte, die sich von der russischen Revolution herleitete, und hier besonders die Geschichte der DDR, in einem schwarzen Loch des Vergessens verschwinden zu lassen oder sie gerade eben als düstere Folie zu benutzen, von der sich der gegenwärtige Zustand unserer Dinge leuchtend abhebt. Wir haben dem Rest der Menschen in Deutschland Erfahrungen voraus, die uns keiner ausreden kann. Wir wissen, dass es auch anders geht. Wir wissen, dass man eine Gesellschaft auch bescheidener organisieren kann und dennoch kultureller Reichtum und soziale Einbindung möglich sind.
Die Chance ist gegeben, dass unser Antiheld Bernd keine Massen hinter sich her zieht. Aber das sicherste Mittel dagegen ist ein glaubhaftes gesellschaftliches Projekt, das den Menschen eine Perspektive gibt und ihrem Leben damit Sinn und Wert verleiht.
Hans-Jochen Vogel lebt in Chemnitz, er ist unter anderem aktiv in der Arbeitsgemeinschaft Offene Kirche (AG-OK Sachsen).
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