aus telegraph #110
von Kamil Majchrzak
In einer Erzählung beschreibt der polnische Schriftsteller Pawel Huelle das Nachkriegsleben einer polnischen Familie in Gdañsk (Danzig). Die Geschichte über den Umgang mit einem „poniemiecki“ Tisch ist in vielerlei Hinsicht auch eine Allegorie der deutsch-polnischen Beziehungen. Für viele Polen schwingt mit der im Westen allgegenwärtige Bezeichnung „poniemiecki“, die eigentlich nur „von Deutschen hinterlassen“ bedeutet, auch eine Mischung aus Respekt, Angst und Hass.
Der Tisch ist deutsch, sprich ordentlich gemacht, praktisch und solide, aber er ist auch alt und der letzte Krieg hat ihn zu einem Krüppel gemacht. Er wackelt.
Der pragmatische Vater versucht das gute Stück zu reparieren und kürzt auch die drei gesunden Beine. Die Mutter würde den Tisch dagegen am liebsten zerhacken und in den Ofen werfen, um nicht jedes Mal beim Essen an dessen vorherige deutsche Besitzer zu denken.
Ein Hiesiger – weder „nur“ polnisch noch „nur“ deutsch
Auch ich bin in einer solchen Welt, einer poniemiecki Welt aufgewachsen. Aber mich hat der Überlebenswille eines „hiesigen“, deutschen Tisches mehr interessiert als die Erzählungen meiner Großmutter über das Geschirr und das Mobiliar in dem 1945 verlassenen Dorf irgendwo in der Westukraine.
Meine Kindheit der 70er und 80er Jahre in Breslau-Wroclaw oder besser die Zusammensetzung dieser beiden Namen „Breslaw“ bzw. „Wroclau“, war eine Erkundungs- und Spurensuche. Die Mutigsten unseres Viertels schafften es in den poniemiecki Bunker im Park ohne Taschenlampe zu gehen. Und wir wussten, wie wir gegen die anderen Viertel im Winter unseren Rodelhügel zu verteidigen hatten. Es war unser Rodelhügel der Jeleniastrasse und aller „hiesigen“ Kinder. Als wir älter wurden erweiterte sich unser Horizont auf die gesamte Stadt. Eine Stadt der „Hiesigen“.
Jetzt sind es die hiesigen Wälder und Seen Schlesiens, die den hiesigen Menschen gehören. Die Hügel und Flüsse, Dörfer und Landwege gehören denen, die an der Erforschung und dem Erhalt dieses Kulturraumes interessiert sind.
Meine Welt das waren: deutsche Gullydeckel in der Altstadt, deren Bewahrung eher Zeichen polnischer Nachlässigkeit als systematischer Vergesslichkeit gewesen ist. Der Hl. Nepomuk auf der Dominsel. Die deutsche „Besetzt“-Aufschrift auf einem öffentlichen Klo unter dem Plac Solny. Der metaphysische Geruch des Dachbodens bei meiner Oma, die bis heute meint, wenn sie zur Verwandtschaft nach Lódz fährt, sie fahre „nach Polen“. Freude, bei der Entdeckung der Existenz des jungen Horst, der, als er sein Haus in Legnica (Liegnitz) verlassen musste, sein Photo meiner damals 17-jährigen Großmutter geschenkt hat. Und das es ein ungarischer Soldat in deutscher Wehrmachtsuniform war, der meine Grosseltern als letzte über die Brücke in Lwów (Lemberg) gebracht hat, bevor sie gesprengt wurde.
Die Erfahrung, dass die doppelte Vertreibung der Deutschen und Polen wenigstens in dem Haus meiner Grosseltern ohne Vergewaltigung und Niederträchtigkeit stattfand, ließ mir die Hoffnung auf Versöhnung und Menschlichkeit zwischen diesen beiden Nationen. Diese Hoffnung hielt ich aufrecht, trotz realsozialistischer TV-Normalität, welche aus II. Weltkriegsfilmen mit Hauptmann Kloss – einem polnischen Doppelagent der Abwehr – und der Serie „Vier Panzersoldaten und ein Hund“ bestand. Die einzigen deutschen Wörter, die wir damals auf dem Hof kannten, setzten sich aus einem beschränkten Repertoire aus: „Hände hoch“; der KZ-Lautsprecheransage „Achtung, Achtung“ und diversen Schimpfwörtern wie „polnisches Schwein“ und „Maul Halten“ zusammen.
Meine Generation hat es trotzdem geschafft Deutschland nicht nur über die Gräueltaten des II. Weltkriegs und ihrer Fackelumzüge durch Europa zu definieren, sondern auch über Hermann Hesse und Thomas Mann. Ich gehöre der zweiten Generation an, die nach 1945 in Schlesien geboren und dort aufgewachsen ist. Im Unterschied zu meinen Eltern, die auch in Schlesien zur Welt kamen, hatte aber der Mythos des verlorenen polnischen Ostens und die Städtenamen Lviv (Lwów, Lemberg) oder Vilnius (Wilno, Wilna) nie eine Bedeutung für mich. Meine Heimat war hier, zwischen deutschem Kopfsteinpflaster und polnischen Straßennamen. Im Gegensatz zu unseren Vorgängern waren wir nicht für die Zerstörung deutscher Spuren, sondern für deren Erhalt eingetreten, denn es ist unsere Stadt und ihre Geschichte hat nicht 1945 angefangen. Dies zu verstehen fällt den meisten Menschen in Warschau genauso schwer wie in Berlin.
Das Präludium der Vertreibung
Für die „Hiesigen“ hat die Vertreibung nicht erst 1945 angefangen und für viele, insbesondere Ukrainer und Lemken1 endete sie auch nicht mit der sog. „reaptryjacja“. Die sog. „Repatriation“ – die Vertreibung der polnischstämmigen Bevölkerung aus der Ukraine, Weißrussland und Litauen – stellte die Umsetzung der Beschlüsse der Potsdamer Vier-Mächte-Konferenz da, an der Polen nicht einmal beteiligt gewesen war. Ihr folgte 1946/47 die Vertreibung der Ukrainer und Lemkos durch Polen, um sie von ihrer Heimat in Süd-Ostpolen zu entwurzeln und im neuen polnischen Westen anzusiedeln.
Für viele Deutsche begann der Aufbruch in den Westen bereits vor Kriegsende. Als die russische Front näher rückte, organisierte Hitlerdeutschland Transporte unter dem Motto „Umsiedlung ist der beste Schutz für Mutter und Kind“. Eine Tatsache, die neben der starken Siedlungspolitik während des Krieges im Rahmen der Lebensraumerweiterung, von vielen Vertriebenen vergessen scheint.
Schlesien ist eine Region die über Jahrhunderte von verschiedenen Kulturen geprägt wurde. Dabei spielte die deutsche Kultur die größte Rolle. Daneben kommt jüdischen und vor allem böhmischen Einflüssen eine herausragende Bedeutung zu. Zuletzt prägten Polen am stärksten die Region und haben hier dauerhafte Spuren hinterlassen. Die Polen kamen zwar nach Schlesien nicht erst 1945, aber seit dem Ausgehenden Mittelalter hat ihre Bedeutung zusehends, vor allem im Zuge der Erstarkung Preußens und seiner Germanisierungspolitik gegenüber Minderheiten, kontinuierlich abgenommen. Jedoch konnte man noch Anfang der 30 Jahre in Breslau eine polnische Messe besuchen.
Kurz vor Ausbruch des zweiten Weltkrieges befahl Hitler seinen Offizieren: „So habe ich meine Totenkopfverbände bereitgestellt mit dem Befehl unbarmherzig und mitleidlos Mann, Weib und Kind polnischer Abstammung und Sprache in den Tod zu schicken. Nur so gewinnen wir den Lebensraum ,den wir brauchen“. Noch vor dem Überfall Hitlers auf Polen wurden aus den damaligen deutschen Ostgebieten Tausende Juden nach Polen ausgewiesen – ein Präludium ihrer Vernichtung.
In einem Schulungsfilm für deutsche Krankenschwestern aus den 40er Jahren – den ich bei den Dreharbeiten zu dem Dokumentarfilm „Familienreise“ entdeckte – wird die Räumung polnischer und jüdischer Wohnungen gezeigt. Die Vertreibung wird euphemistisch als „Auswanderung“ bezeichnet: „Verlassene Wohnungen polnischer und jüdischer Auswanderer werden gesäubert und für Volksdeutsche bereitgestellt“.
Im Rahmen dieser Säuberungsaktionen ist das damalige Warthegau gänzlich von der polnischstämmigen Bevölkerung gesäubert worden. Dabei hatten die hiesigen Breslauer wie Ferdinand Lassalle, Edith Stein oder Clara Haber – die Frau des Senfgaserfinders Fritz Haber, die sich aus Protest das Leben nahm – und viele andere, die nicht „nur“ deutsch oder „nur“ jüdisch waren, ihren Einfluss weit über die Grenzen dieser Region ausgeübt, der bis heute anhält. Die neuen „Hiesigen“, das sind vor allem die Polen, Deutschen, Juden und Ukrainer, die gelernt haben das reiche kulturelle Erbe dieser Erde zu lieben und zu schätzen.
Es sind Schriftsteller und Schriftstellerinnen wie Olga Tokarczuk, die in einem poniemiecki Haus bei Klodzko (Glatz) wohnt oder Marek Krajewski aus Wroclaw, ein Krimiautor, der sich gewagt hat den Namen Breslau im Titel seines Romans zu benutzen. Weitere, wie die Danziger Schriftsteller Pawel Huelle oder Stefan Chwin, bestätigen diese Entwicklung in anderen Regionen.
Die Suche nach eigenen Wurzeln deckt sich mit dem Interesse und der Akzeptanz der Geschichte und der persönlichen Schicksale dieser Region. Katholisch Getaufte entdecken plötzlich bislang gut versteckte Photos der Grosseltern und treten in die Jüdische Gemeinde ein. Zwangsweise in den 50er Jahren polnisierte Namen bekommen wieder ihre ursprüngliche Schreibweise.
Es ist für mich nicht mehr verwunderlich, wenn ich in einem Lebensmittelladen in Cieszyn (Tesin) an der Wand ein Bild von Kaiser Franz Josef entdecke. Was für manche reaktionär anmuten mag, blendet aus, dass man gerade in Galizien unter der k. k. Monarchie die polnische Kultur und Sprache pflegen konnte, ohne in Konflikt mit anderen Kulturen zu geraten.
Solche multikulturellen Räume wieder zu beleben, die einst das eigentliche Polen, vor allem in seiner Grenzlandschaft – den Kresy, prägte, spiegelt die Sehnsucht immer mehr junger Menschen in Polen nach kultureller Verwurzelung. Dieses Phänomen wird zwar von neurechten und neuheidnischen Gruppierungen in Polen gefährdet, die es auf eine völlig andere Bahn des Ethnopluralismus oder Bioregionalismus lenken wollen. Bislang kann man jedoch noch von einer positiven Entwicklung und Akkulturation sprechen, die sich der Homogenität des Jakobinischen Einheitsstaats Polen, der 1945 entstanden ist, widersetzt. Man will sich den verschiedenen kulturellen Einflüssen nicht verschließen, sondern diese für sich selbst in Anspruch nehmen.
Für viele der „Hiesigen“ ist es zwar auch eine Suche nach dem arkadischen Mythos, aber diesmal geht es nicht mehr um reale Grenzen, sondern um die Metaphysik der Geographie und seiner Gegenstände. Es gibt damit auch kein Anfang und Ende und keine Eintrittskarte, denn eine solche Kartographie ist eine alternative, wo keine Städte und Dörfer existieren, sondern ihre innere Geschichte und Gefühlswelt, irgendwann mal ausgesprochene Worte, vorbeigegangenen Personen, verschlafene Waldwege und ausgetrocknete Bäume.
Bei den Dreharbeiten mit Hans-Christian Schmid und Michael Gutmann zu seinem neuen Film „Familienreise“ im letzten Herbst in Klodzko (Glatz) betraten wir alte Häuser und Wege die ihre Geschichten erzählten. Selbst Türen quietschten nach 50 Jahren an denselben Stellen. Es waren jedoch neue „Hiesige“ die vergeblich versuchten sie zu ölen.
In einem Museum fanden wir einen ersten polnischen Dokumentarfilm der Nachkriegsjahre, den Robert Stando, ein junger Filmstudent anfertigte. Es war ein Hilfeschrei an die kommunistische Zentralregierung in Warschau, um die vom Untergang bedrohte Stadt zu retten. Obwohl gerade damals jegliche Spuren der deutschen Vergangenheit getilgt werden sollten, gab es bereits bei den ersten neuen Siedlern staatlich unterdrückten Respekt vor der neuen Heimat.
Restitution der Wahrheit
Bei der Debatte um die Schaffung eines Vertriebenenzentrums in Berlin hat man die Nachkriegsentwicklung dieser Gefühlswelt verkannt, so als ob dieser Kulturraum in seiner Entwicklung auf einem Zeithorizont von 1945 stehen geblieben ist. Die Unnachgiebigkeit in den Forderungen der Präsidentin des Bundes der Vertriebenen Erika Steinbach, stellt einen Versuch dar, die positiven Entwicklungen der Mentalität der hiesigen Menschen aufzuhalten. Steinbach verhält sich so, als ob sie das Copyright für Vertreibung gepachtet hätte. Ihre Absicht, die Deutsche Vertreibung aus dem Kontext des II. Weltkrieges herauszulösen, ist ein gefährliches Spiel das auf Geschichtsverfälschung hinausläuft. Seit Ende des Krieges haben Polen verschiedene Initiativen ergriffen, um durch Respekt vor der Wahrheit eine deutsch-polnische Zukunft zu ermöglichen. Es waren polnische Bischöfe, die Vergaben und um Vergebung baten und das zu einer Zeit als es in Deutschland noch keinen Willi Brandt geben konnte. Seit mindestens 10 Jahren hat sich in Polen auch im Bereich der öffentlichen Aufklärung viel Positives getan. Deutsche Friedhöfe werden wiederhergestellt, in Dörfern werden gemeinsame Gottesdienste von den Deutschen und polnischen Bewohnern gefeiert.
Wer braucht nun plötzlich diese zerstörerische Debatte? Wem nützt die vergessen geglaubte Unterteilung in Gerechte und Ungerechte, Eigene und Fremde? Das fehlende Verständnis für die mentale Entwicklung dieser Gebiete ist auf ein Wiederaufflammen von Hass, Gewalt und dem Streben nach Dominanz angelegt. Je aggressiver und unrealisierbarer Steinbachs Forderungen, desto stärker die Existenzberechtigung der Vertriebenenverbände, einer vom Aussterben bedrohten Art. Ihr Ziel erreichen sie jedoch langfristig nur, durch Zerstörung des mühsam über Jahre aufgebauten Vertrauens zwischen Deutschen und Polen und den juristischen Erfindungsgeist der Vererbbarkeit des Vertriebenenstatus.
Für solche Personen, die wegen Wegfall der Geschäftsgrundlage um ihr Ableben fürchten müssen, kann es keine anderen Erfolge außer einer neuen Grenzziehung geben. Dabei führt die Verfestigung von, aus Machtstreben erwachsener, Differenzierung zwischen alten und neuen Bewohnern zur Gleichgültigkeit und Apartheid, anstatt zur Akkulturation. Dauerhaften Frieden zwischen Deutschen und Polen schafft man nur durch Gerechtigkeit. Im Kontext der Vertreibung besitzt der Gerechtigkeitsbegriff jedoch zwei Elemente. Was vielen Polen schwer fällt, ist die Abgrenzung der menschenrechtlichen Komponente und dem so genannten Recht auf Heimat von zivilrechtlichen Elementen und damit einer finanziellen Restitution.
Die meisten Polen sehen die Vertreibung der Deutschen als Unrecht im universellen Sinne. Ein Verbrechen, dass gegen den Menschen an sich gerichtet ist und nicht speziell gegen das Deutsche Volk. Ein Unrecht, das womöglich schon mit Hitlers Machtergreifung begann oder spätestens mit dem Einmarsch in die tschechischen Sudeten. In diesem Zusammenhang werden Entschädigungsforderungen als ungerechtfertigt angesehen, da man bislang davon ausgegangen ist, dass die endgültige Einigung über bestehende Grenzen weitere Forderungen aufgehoben hat. Das man nicht mehr gegeneinander aufrechnen will. Man hat dabei vergessen, dass privatrechtliche Ansprüche auf Entschädigung durch einen völkerrechtlichen Vertrag, nicht ausgeschlossen wurden. Dabei gewinnen Definitionen der geschichtlichen Ursachen und Fakten vor allem im polnischen kulturellen Kontext eine besondere Rolle und werden durch Politik auf beiden Seiten der Oder instrumentalisiert. Es sind die Interpretationen der Begriffe wie „Tatsache“ und „Unrecht“, welche die soziale und geschichtliche Identität der Polen bestimmen. Es fällt einem Polen sehr schwer sich von einem „wir“-Denken und seiner nationalen Verortung loszulösen. Das „wir“ prallt auf die „ich“-Perspektive der deutschen Opfer und macht zurzeit eine Verständigung unmöglich. Ein Verständnis dafür, dass die aus dem Osten vertriebenen Deutschen vermutlich einen größeren Preis für den Überfall auf Polen zahlen mussten als andere Deutsche, ist nur schwer vermittelbar.
Solange in Deutschland versucht wird von Polen mehr zu fordern als die Akzeptanz der Tatsache, dass Deutschen auch Unrecht widerfahren ist, bekommt man als Antwort lediglich die kollektive Schuldzuweisung für alle Deutschen. Eine gemeinsame Zukunft ist damit aber noch nicht erreicht.
Als wir mit Michael Gutmann im Frühjahr nach Klodzko (Glatz) kamen, waren alle Bewohnerinnen und Bewohner offen und wollten mit uns reden. Wir trafen überall Menschen, die uns mit großem Interesse und Aufmerksamkeit in unserer Film-Recherche begleiteten. Die Bewohnerinnen und Bewohner der Stadt hatten Interesse an der Erforschung der Geschichte ihres Wohnhauses; Arbeitsplatzes und des Straßennamens vor 1945. Denn es war ihre Stadt und ihre Geschichte.
Nach dem destruktiven Auftritt von Frau Steinbach änderte sich plötzlich alles. Im Spätsommer trafen wir auf verschlossene Türen, Verweigerung der Drehgenehmigung. Man fühlte sich in ihrer Offenheit durch Frau Steinbach, die man mit allen Deutschen gleichsetzte, verraten.
Die Vertreibung hat nicht erst 1945 angefangen. Ein Vertriebenenzentrum kann nur in Ost-Mitteleuropa entstehen, wenn dieses ernsthaft einen Beitrag zur Aufarbeitung der Geschichte und der Restitution der Wahrheit leisten will. Wroclaw bzw. „Breslaw“ ist ein geeigneter Ort dafür, nicht Berlin. Umsomehr als in den letzten Jahren durch die deutsche Außenpolitik gravierende Veränderungen und ein Mentalitätswechsel der deutschen Gesellschaft vollzogen wurden. Nach Kosovo maßen sich mittlerweile auch einige Deutsche an, behaupten zu können, die Welt vor Auschwitz schützen zu wollen oder wie Walser das Volk von dieser Moralkeule befreien zu müssen.
Im Mai 2004 tritt Polen mit weiteren Staaten aus Mitteleuropa der Europäischen Union bei. Einige Grenzen werden fallen und die Möglichkeit, innerhalb der EU frei an der Fortentwicklung der genannten metaphysischen Landkarten mitzuwirken, wird erleichtert. Schon jetzt gibt es in vielen größeren Städten in Polen Versuche, verlorene kulturelle Welten wiederaufzubauen oder doch wenigstens zu dokumentieren. In Bialystok arbeiten die Polen Wiœniewski und Osadczuk im Rahmen des Projektes „Wir suchen Polen“ mit Litauern, Ukrainern und Weißrussen gleichberechtigt an der wohl größten Dokumentation in Europa zum kulturellen Erbe der „Kresy“.
Die Schaffung eines Vertriebenenzentrums in Polen und damit die Europäisierung des Themas, würde auch helfen, die bislang nur teilweise durchgeführte Aufarbeitung der polnischen Geschichte voranzutreiben. Die Vertreibung der Deutschen und die Mitschuld der Polen an der Ermordung von Juden sowie die Vertreibung der Lemkos 1946/47 könnte so erforscht werden. Für andere Völker in Ost-Mitteleuropa wie Russland, dass an der Ermordung und Vertreibung von Millionen Andersdenkender verantwortlich ist oder in jüngster Zeit Serbien, Kroatien und Bosnien, wäre ein Ort der geschichtlichen Auseinandersetzung und Forschung geschaffen. Dem Zentrum sollte ein internationales Gremium vorsitzen und jeder teilnehmende Staat auf dem eigenen Territorium zur Zusammenarbeit an der Erforschung der Menschenschicksale der Vertreibung, gleich welcher Nationalität, verpflichtet werden.
Persönlich habe ich die Erfahrung gemacht, dass – mit einigen Ausnahmen – sowohl in Polen als auch in Deutschland, die Zusammenarbeit auch der Vertriebenengenerationen sich viel besser gestaltet, als ihre vermeintlichen Vertriebenenvertreter vorzugeben glauben.
National-konservative Kräfte in Polen erhalten mit Auftritten Frau Steinbachs wieder Nahrung. Der national-konservative Präsident von Warschau rechnet nun die Schäden, welche die Stadt durch die deutsche Besatzung erfahren hat auf und ist damit auf eventuelle Forderungen der Vertriebenen auf Entschädigung vorbereitet. Eine Massenhysterie der gegenseitigen Schuldzuweisungen und Ansprüche ist zwar noch nicht eingetreten aber durchaus möglich. Deshalb sollte nun verstärkt an der Schaffung eines Vertriebenenzentrums in Wroclaw gearbeitet werden. Frau Steinbach wäre sonst erfolgreich und wir würden wieder das Jahr 1945 schreiben.
Kamil Majchrzak ist Regieassistent und Drehbuch-Rechercheur von Hans-Christian Schmids Film „Lichter“und Tonmeister und Rechercheur für Michael Gutmanns „Familienreise“ für den Bayerischen Rundfunk. Er studierte Jura an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder). www.peaceresearch.com, www.funambules.net
s. auch www.ostblog.de/archives/2004_03.php, 15.03.04 „Frankfurt(Oder): Ausländer raus!“
1 Lemken/Lemki: Bevölkerungsgruppe in den Westbeskiden,
1930 ca. 60.000.
© telegraph. Vervielfältigung nur mit Genehmigung des telegraph