Die PalästinenserInnen, der Staat Israel und die (anti)deutsche Linke bei der Selbstzerfleischung
aus telegraph #110
von Peter Ullrich
Israel und die PalästinenserInnen waren in der Geschichte der deutschen Linken immer polarisierende Themen. An den Debatten in diesem Themenkreis lassen sich Bruchlinien und extreme Wandlungen innerhalb der Linken aufzeigen. Man trifft hier auf Antisemitismus und Philosemitismus, auf platten antiimperialistischen Reduktionismus ebenso, wie auf selbsternannte Reinheitswächter der Linken, die manchmal sämtliches bisher als links Bekanntes aufgeben – wenn sie sich zum Nahen Osten äußern1.
Anlass jüngerer Diskussionen um den Nahostkonflikt ist der Ausbruch der so genannten Al-Aksa-Intifada Ende 2000, aber auch der 11.9.2001 und der Krieg gegen den Irak. Diese Diskussionen sorgen in der deutschen Linken begrenzt für Reflexionen und sind erneut Anlass zu vielfältigen Projektionen eigener deutscher Befindlichkeiten in einen fernen Konflikt. Diese Projektionen treten an die Stelle materialistischer Analyse. Anstatt den Konflikt in all seinen Kontexten zu betrachten und unter Beachtung der Komplexität der Interessenslagen und Ideologien in ihrer historischen Gewordenheit zu analysieren, wird er durch die eigene, wie auch immer verfärbte Brille betrachtet. Vorerst letzter trauriger Abschnitt dieses langen und verhängnisvollen Verhältnisses zwischen der deutschen Linken und dem Nahen Osten ist die Israel-Wahrnehmung (oder besser: der blinde Philoisraelismus?) in Teilen der so genannten antinationalen oder antideutschen Linken, deren positiver Input für die Entwicklung linken Denkens die systematischen Schwachpunkte leider nicht ausgleichen kann.
Ich möchte hier einen ideologiekritischen Versuch unternehmen, zu erklären, warum sich die deutsche Linke zum Nahostkonflikt so verhält, wie sie das eben tut. Es geht um den Einfluss von Identitäten auf die Theoriebildung. Meine Herangehensweise, deutsche Nahostperzeption von deutschen Befindlichkeiten abzuleiten, soll keinen monokausalen Erklärungsansatz für theoretische bzw. ideologische Differenzen liefern, aber einen entscheidenden Einfluss-(und Stör-)faktor näher bestimmen (vgl. Treichel 1999).
Wendepunkte 1945-1989
Im Israel/Palästina-Konflikt solidarisierte und identifizierte sich die Linke aus ideologischen Gründen mit einer Vehemenz und Radikalität entweder für die eine oder die andere Seite, die ihresgleichen sucht: bis 1967 mit dem ‚sozialistischen Experiment der antifaschistischen Juden und Jüdinnen’ und nach dem Sechs-Tage-Krieg mit den „Opfern der Opfer“, den PalästinenserInnen, die einen „antikolonialistischen Befreiungskampf“ als Teil der „weltweiten Front gegen den Imperialismus führen“ (Später 1994: 13).
Das Verhältniss der bundesdeutschen Linken zum Staat Israel und zum „Palästinaproblem“ kann man anhand seiner Wendepunkte chronologisieren2. Bis zum Juni-Krieg 1967 war die Linke diejenige, die zu Israel stand und es unterstützte. Nahostwahrnehmung war Israelwahrnehmung. Interesse für den Nahen Osten war Interesse für Israel. Linke waren die, die aus der Erfahrung des Nationalsozialismus heraus mehrheitlich Solidarität mit Israel für selbstverständlich hielten. Erleichtert wurde dies auch durch eine Idealisierung der sozialistischen Elemente im zionistischen Projekt. Und selbst die imperialistischen Implikationen der Suez-Krise konnten der unbedingten Israelsolidarität, die oft Züge eines verklärten, idealisierenden Philosemitismus trug, nichts anhaben. Der Hauptmotor für diese Positionierung waren die Verbrechen der jüngsten deutschen Vergangenheit und die restaurative Politik der Adenauer-Ära, in welcher sich die Bundesrepublik nicht eben als ein besonders neues Deutschland präsentierte, sondern vielmehr Kontinuitäten personeller, ideeller und ökonomischer Art das Bild bestimmten. Somit war Israel-Solidarität auch innenpolitische Opposition. Ihr Thema war die „Wiedergutmachung“, der Versuch von Ausgleich und Annäherung an die Opfer, die man im Staate Israel verortete.
Eine Verschiebung in diesem Verhältnis zeichnet sich seit 1965, dem Jahr der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Israel und der Bundesrepublik, ab, welche die Trägerschaft der deutsch-israelischen Kontakte änderte. Der Junikrieg (Sechs-Tage-Krieg) 1967 ist schließlich der Umschlagpunkt einer schnellen und radikalen Wendung weg vom israelfreundlichen Konsens der Linken. Spätestens hier wurde deutlich, dass sich die im Gegenzug zur Elterngeneration bewusst geübte Solidarität mit dem Staat Israel nicht ohne weiteres durchhalten ließ. Mit einem (Militär-) Schlag wurde vielen Linken bewusst, was Israel für ein Identifikationsobjekt gewesen war: auch nur ein Staat, einer der auch Gewalt einsetzt, eigentlich gar nicht so sozialistisch ist, imperiale Ansprüche zu haben scheint, vom „US-Imperialismus“ gestützt wurde usw. Damit erwiesen sich die Israelis (=Juden) nicht wie erwartet als die besseren Menschen, die sie schon sein müssten, um ein positives Identifikationsobjekt abzugeben.
Die entstehende Neue Linke entdeckte in dieser Zeit den „Trikont“ für sich, und v.a. die nationalen Befreiungsbewegungen in den Kolonien in Afrika, Asien und Lateinamerika. In diesem Raster wurde fortan auch die palästinensische Nationalbewegung3 wahrgenommen. Hier sollte auffallen, dass überhaupt erstmals die PalästinenserInnen auftauchen. Doch dieser Wandel im linken Urteil war ebenso von ihnen (Teile der Linken zeigten sich beeindruckt von aufsehenerregenden Attentaten und Flugzeugentführungen), wie auch wieder von innenpolitischen Determinanten bestimmt. Im Zuge von schnellen israelischen Kampferfolgen und großen Gebietsgewinnen begann in Deutschland eine Hinwendung zu Israel durch das konservative Establishment. Besonders der philosemitische Bild-Verleger Springer tat sich mit seinen Blättern hervor. Der fiese Hetzer gegen die StudentInnenbewegung übernahm mit aller Macht das Feld des positiven Israel-Bezugs.
Ein wesentlicher Grund für unsere Zurückhaltung in der Kritik an den Terrorakten palästinensischer Gruppen und überhaupt prägend für unsere Einstellung zum palästinensisch-israelischen Konflikt war unsere entschiedene Abneigung, mit den Wölfen zu heulen. Die bundesdeutschen Medien und Hauptparteien waren […] in einer Weise pro-israelisch und anti-palästinensisch, die man sich heute überhaupt nicht mehr vorstellen kann.4
Die israelischen Soldaten wurden in (neo) konservativen Kreisen zu „Wüstenfüchsen“ und „Erben Rommels“. Mittels philosemitischer Idealisierung, zum Teil bloßer Umkehrung antisemitischer Stereotype (hier zum Beispiel dem der Wehrlosigkeit) war wohl eine Möglichkeit gefunden, sich drückender Schuldgefühle zu erwehren.
Dem steht die begrüßenswerte Erkenntnis gegenüber, dass es die PalästinenserInnen gibt, dass viele von ihnen Opfer im Kampf zweier widerstreitender nationaler Bewegungen im Magnetfeld des Ost-West-Konfliktes sind. Der Perspektivwechsel führte allerdings zu neuen eigenwilligen Wandlungen. Im Rahmen der „antiimperialistischen Arbeitsteilung“ (J. Später) waren die arabischen Bewohner des historischen Palästina nun für die Weltrevolution zuständig. „In das theoretische Korsett des Antiimperialismus eingezwängt, traten die historischen Besonderheiten und Widersprüche der einzelnen Konfliktgebiete zugunsten antikolonialer ‚Eindeutigkeit’ zurück.“ (Kloke 1994: 288)
Nachdem der Zionismus nun im Raster des Antiimperialismus eindeutig als Kolonialismus und Imperialismus, die Befreiungsbewegung der PalästinenserInnen hingegen als antikoloniales Subjekt entdeckt worden waren, fand sich das Israelbild vieler plötzlich komplett gewendet.
Wurde Israel eben noch verherrlicht, konnte es nun sogar als faschistischer Staat bezeichnet werden. Auch wenn dies keineswegs repräsentativ für die ganze Linke ist, muss festgehalten werden, dass sich in die Israelkritik Töne mischten, die mehr als nur stutzig machen sollten. Denn die Kritik am Zionismus und am Staat Israel, die durchaus ihre Berechtigung hat, verdichtete sich zu einem geschlossenen antizionistischen Weltbild, in welchem auch antisemitische Äußerungen und Handlungen ihren Platz hatten. Dazu gehört die vielgehörte Rede vom „nationalsozialistischen Zionismus“ und vom „Faschistischen Regime der Zionisten“. Dazu gehört auch die Selektion von jüdischen Geiseln bei der Flugzeugentführung von Entebbe durch linke deutsche Hijacker oder die eine ganze Hauswand in der Hamburger Hafenstraße einnehmende Aufforderung zum Boykott israelischer Waren. Nicht nur, dass die Assoziationen zu „Kauft nicht bei Juden!“ in einem Land mit noch immer starkem Antisemitismus fatal sind – es steht auch eine romantische Vorstellung der Veränderbarkeit von gesellschaftlichen Verhältnissen dahinter.
Der linke, aus dem Antiimperialismus resultierende Antisemitismus im Gewand des Antizionismus zeichnet sich durch ein schwarz-weiß-Weltbild aus, das gute und schlechte Völker kennt. Er ist linksnationalistisch und fußt auf einem sozialdemokratischen Imperialismusbegriff, der nicht von Ausbeutung und Kapitalverhältnis spricht, sondern in letzter Konsequenz nur Fremdherrschaft kennt ([…]von fremden Staaten über gute Völker).5
Eines der krassesten Beispiele dieses Antizionismus, der kaum den dahinter stehenden Antisemitismus verbirgt, ist die Befürwortung des Anschlags des palästinensischen „Schwarzen September“ auf die israelische Olympiamannschaft durch die gerade verhafteten Ulrike Meinhof und Horst Mahler. Sie nannten die Aktion in einer Erklärung aus dem Knast ein „mutiges Kommando gegen zionistische Soldaten, die in München als Sportler auftraten“.
Die Ursachen der beschriebenen Feindbildveränderung sind vielfältig. Nicht nur die Abgrenzung vom Establishment und der Antiimperialismus gehören dazu. Es ist anzunehmen, dass es auch in der Linken starke Exkulpationsbedürfnisse für die deutschen Verbre- chen der NS-Zeit gegeben haben muss, worauf einige der relativierenden Parolen dieser Zeit deuten (z.B. „Zionismus = Faschismus“), die sicherlich nicht von analytischem Gewinn waren. Ebenso entscheidendes Moment war die Abgrenzung von der Elterngeneration. Dies führte zu der Manie der 70er-Linken alles als Faschismus zu bezeichnen, was irgendwie schlecht war. Das tiefenpsychologische „Argument“ es handele sich hierbei um eine unbewusste Identifikation mit dem Judenhass der Eltern ist aber ebenso möglich wie unwiderlegbar. Eine Rolle spielte sicher auch die Marxismus-Leninismus-Rezeption der APO. Stalin hat 1913 in seiner Schrift „Marxismus und nationale Frage“ in Auseinandersetzung mit den Austromarxisten ein Konzept geschaffen, welches seine prinzipielle Gültigkeit für den ML lange behalten hat. Stalin entwickelt in Gegensatz zum subjektiven bei Otto Bauer einen objektiven Nationenbegriff. Nation ist ihm eine historisch gewordene Gemeinschaft von Sprache, Territorium, Kultur, Wirtschaftsleben und psychischer Wesensart.
Dieser Nationenbegriff ist einerseits modern und kritisch, indem er den Charakter der sozialen Konstruiertheit der Nation mitdenkt und die gewiss zweifelhafte „psychische Wesensart“ (heute vielleicht: Politische Kultur) einer Nation zumindest an deren konkrete historische Seinsumstände rückbindet. Andererseits kann sich Stalin durchaus einen Nationalcharakter all der verstreuten Juden in Russland, Dagestan, Polen und Amerika vorstellen6. Nicht jedoch vorstellen kann er sich die Berechtigung deren nationaler Ambitionen. Diese seien eine Spaltung der Arbeiterklasse. Das Recht auf nationale Interessensverfolgung verlangt die Gemeinsamkeit aller der von ihm aufgestellten Merkmale einer Nation.
Nicht Bestandteil der Stalin’schen Betrachtungen ist außerdem der bürgerliche Staat. Damit ignoriert er aber die „ursprüngliche Akkumulation“ der Nation, die Gewalt, die erst in der Lage ist, diese Einheit der Merkmale zu schaffen bzw. zu suggerieren7. Dies hat zwei für diese Überlegungen interessante Implikationen: 1) Der Staat Israel, Resultat der zionistischen Bewegung, ist in dieser Auffassung nicht legitim, da den Juden das historisch gemeinsame Territorium und die gemeinsame Sprache etc. als Grundlage der Berechtigtheit ihrer nationalen Ansprüche fehlen. Die israelische Nation erscheint in dieser Auffassung weniger „urwüchsig“ oder „natürlich“ als z.B. die russische oder die deutsche. 2) Die Verbindung mit der „Gemeinschaft“ Nation erscheint ausschließlich objektiv.
Der zweite Punkt hilft vielleicht mit zu verstehen, warum sich zumindest für große Teile der Linken als Lehre aus Auschwitz nicht auch die Distanzierung von der Nation ergab, stattdessen aber der Versuch einer Schlussstrichziehung für Deutschland und die Deutschen von ihr mitgetragen wurde. Doch der narzisstischen Identifikation mit der deutschen Nation muss Auschwitz immer entgegenstehen. Die Einebnung dieses Widerspruchs gelingt mittels einer Täter-Opfer-Umkehr, indem die (vielleicht auch unbewusst) als eigener Makel empfundene Schande in die Opfer bzw. in mit diesen identifizierte Menschengruppen und deren Staatlichkeit, sprich: Israel, projiziert wird.
Seit Ende der 70er Jahre und in den 80ern kommt es jedoch zu einer gewissen Lockerung fest gefügter antizionistischer Argumentationsmuster, zu der Einsicht, dass neben antikapitalistisch, antisexistisch und antirassistisch nicht auch noch antizionistisch stehen muss. Einige Linke werden gewahr, dass es nicht Aufgabe der Linken sein kann, bestimmten Staaten das Existenzrecht abzusprechen – eine Einsicht, die sich auch noch in ihr Gegenteil verkehren sollte.
Nach 1990: Die Antideutschen in der neuen Weltordnung
Die Krise der Linken mit ihren Zerfallserscheinungen nach dem Ende des Staatskapitalismus 1989 verstärkte die Reflexionsprozesse, bei denen das Nachdenken über den antiimperialistischen Antizionismus und den linken Antisemitismus einen wichtigen Platz einnahm. In der Nahostwahrnehmung kam es zu einer radikalen Umorientierung nicht unbedeutender Teile des linksradikalen Spektrums. Der Staat Israel hat sich erneut als „jener libidinös besetzte Fixpunkt herauskristallisiert, an dem sich links-deutsche Geister noch immer krass voneinander scheiden.“ (Kloke 1994: 321). Es bilden sich als Reaktion auf den nationalen Taumel der Wiedervereinigung die so genannten antinationalen und antideutschen Gruppen8 und legen den Grundstein einer Entwicklung, die von der Sensibilisierung der Linken für ihre antisemitischen Fehlleistungen hin zu einem neuen Philosemitismus führt und einer thematischen Zentrierung einiger Teile der deutschen Linken um die Themen Nationalsozialismus und Shoah als exklusive Ausgangspunkte ihres Selbstverständnisses und oft auch romantischer Identitätssuche. Israel wird von diesen Kreisen fast ausschließlich als Folge der Shoah begriffen, bzw. nur dieser Aspekt wird als wesentlich erachtet. Diese Entwicklung lässt sich am besten verfolgen, wenn man die Jahrgänge 1990/1991/1992 der Zeitschrift „konkret“ durchschaut. Dort findet sich der Wandel der Genossen Gremliza9 und Co. dokumentiert.
Diese Wende manifestiert sich v.a. im zweiten Golfkrieg gegen den Irak, der begrüßt wird, weil er angeblich die Bedrohung des Staates der Überlebenden der Shoah abwenden helfe. Die nicht komplett umgeschwenkten Linken kritisierten dies berechtigterweise; sie stellten schon damals fest: „Die Alliierten, vorneweg die USA, deren ‚gerechten’ Krieg wir, wenn es nach der deutschen linken Intelligenz geht, alle unterstützen müssen, kämpfen am Golf für alles mögliche, aber sicher nicht für die Interessen der bedrohten Juden oder gar der Überlebenden der Shoah.“10 Einige retteten sich mit der Formulierung, man unterstütze das „Richtige im Falschen“. Deutlich zu erkennen war schon damals: der Schutz potentieller israelischer Opfer war diesen Linken augenscheinlich wichtiger als die einigen Zehntausend Irakischen „Kollateralschäden“. Dieser westorientierte Zivilisationschauvinismus zog sich von nun an durch den antideutschen Ansatz, der von Anfang an auf gewisse Weise blind war.
Blinde Flecken
Antinationalistisch eingestellt zu sein ist hoffentlich, zumindest in der radikalen Restlinken mittlerweile vollkommen normal und wahrscheinlich auch nicht wieder rückgängig zu machen. Dieses Umdenken war dringend notwendig. Gerade in kommunistischen Strömungen und bei anderen Altlinken sowie in der Soli-Szene sind noch heute die Überreste der Fetischisierung von Begriffen wie Volk anzutreffen, die in letzter Konsequenz die nationale Ideologie tradieren und damit die Simulation von Interessenshomogenität im nationalen Kollektiv. Diese Ideologiekritik ist u.a. Resultat der antinationalen/antideutschen Wendung. Allerdings ist damit auch schon ein Schwachpunkt benannt: die Ideologiekritik schloss oft auch materialistische Analyse aus. Die von der Identifikation mit Israel getragene Zustimmung zum Golfkrieg musste zwangsläufig den imperialen Charakter des Krieges und seine Funktion in der Etablierung der neuen Weltordnung ignorieren.
Die Antideutschen haben anfänglich mit ihrer Analyse zu einem veränderten linken Verständnis des Nationalsozialismus beigetragen. Zurecht setzten sie den Aspekt der aktiv sich beteiligenden „Volksgemeinschaft“, die in ihrer Ekstase mit Trägerin des NS war, gegen den immer wieder anzutreffenden und irreführenden Begriff des „Hitlerfaschismus“, der wegen seiner Verantwortungsübergabe an den „Führer“ auch viel mehr mit Volksverbundenheit und an diese geknüpfte Erlösungshoffnung gekoppelt ist. Dieses soll keine Absage des Autors (der Antideutschen durchaus) an einen Massenansatz sein, aber auf das Unding, ein gutes und nur verführtes Volk gegen die wirklich schuldigen Verbrecher zu stellen, hinweisen, also die platte ML-Variante. Besonders die DDR hat seit der Gründung des „Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands“ gezeigt, dass ein solches Vorgehen Verschleierung beinhaltet, aber nicht der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus diente, nicht der Etablierung von demokratischem Bewusstsein, sondern eher der Restauration bürgerlicher Elemente der Kultur. Ebenso ist es ein Verdienst der antideutschen/antinationalen Linken, die Bedeutung des völkischen Antisemitismus für den Nationalsozialismus aufgezeigt zu haben, der mit den bloß ökonomischen Analyseinstrumenten nicht hinreichend erklärt werden kann. Aber diese neue Schwerpunktsetzung in der Linken war m.E. ein notwendiger Impuls zur Verschiebung des linken Blickwinkels, nicht aber eine großartige Verbesserung der Gesellschaftsanalyse insgesamt. Doch lassen wir die antinationalen Antideutschen selbst zu Wort kommen:
Seit dem Kosovo-Krieg ist klar, die antinationale Linke hat ganz schön viel Dreck am Stecken. Die Kritik an der Linken verselbständigte sich und reagierte auf bestimmte Reizwörter ohne wirkliche Auseinandersetzung niederschmetternd. Die Antinationalen verloren damit nicht nur die Möglichkeit in vielen Diskussionen wirklich angehört zu werden, sie stießen damit auch vielen jungen Linken vor den Kopf. Wer eine Bank einschmiß, war schnell als platter Ökonomist enttarnt, wer den Immobilienbesitzer als Spekulant angriff, wurde ohne Differenzierung als Antisemit geoutet. An den Unterstützern von Befreiungsbewegungen ließ man kein gutes Haar. Nach Gorleben fuhren nur Ökofaschisten und schon die Erwähnung des Wortes „Kapitalismuskritik“ ließ eingefleischte Antinationale Verdacht schöpfen, hier würde unter einem Deckmantel die Zugehörigkeit zum deutschen Volke affirmiert.11
Die Hinwendung zu „Ideologie-, Mentalitäts- und Kulturkritik“12 machte blind für ökonomische Verhältnisse, die Fixierung auf das barbarische Deutschland und die westliche gegen die Barbarei zu verteidigende „Zivilisation“ erlaubte es nicht mehr, andere Staaten zu kritisieren, ein Analysedefizit, welches den Antinationalen im Jugoslawienkrieg deutlich „vor Augen gebombt wurde“13, verständlich bei einer „Betrachtung Deutschlands, die“ nur „von Erklärungsversuchen des Holocaust ausgeht.“14
Einer dieser blinden Flecke antideutschen Gesellschafts- und Politikverständnisses ist auch die Nahostproblematik. Ganz im Gegensatz zur israelischen Linken, stehen viele deutsche Linke nunmehr unverbrüchlich und unkritisch auf Seiten Israels. Kritik am Vorgehen des Staates Israel gegen die PalästinenserInnen kann ganz leicht, nämlich einfach mit dem Hinweis auf Antisemitismus abgewürgt werden. Dazu kommt die automatische Gleichsetzung von Antizionismus und Antisemitismus. Die Möglichkeit und auch in bestimmten Kontexten reale Existenz eines solchen Zusammenhangs – der gleichwohl nicht zwingend ist – wurde generalisiert. Die Diskussionen in der Linken waren (und sind) gerade bei diesem Thema alles andere als solidarisch und auf instrumentellen Erkenntnisgewinn ausgerichtet, sondernd gleichen und glichen oft moralischen Hinrichtungen der als Gegner begriffenen. Auffallend ist dabei, dass oft allein aus „Form“ (scheinbar durch Verwechslung mit Struktur) auf „Inhalt“ geschlossen wird. Oft reicht Kritik am Staat Israel für den Antisemitismusvorwurf, weil auch Antisemiten Israel kritisieren. In der Konsequenz führte das zum teilweisen „Verbot“ von Kapitalismuskritik, weil kleinbürgerlicher Antisemitismus traditionell Kapital und Judentum in einer Verschwörungstheorie zusammengebracht hat. Dass mittlerweile die Rückführung gesellschaftlicher Verblendungszusammenhänge wie Antisemitismus als an Marx geschulte materialistische Warenformanalyse und Wertkritik auftritt, ist kein Gegenargument, denn die grundsätzliche vorhandenen normative Orientierung wurde selten angezweifelt, während sich die Begründungsstrategien änderten.
Spitze dieses Eisberges der Inkonsistenz ist die häufiger vertretene Position, allen Staaten der Welt sei das Existenzrecht abzusprechen – außer Israel, welches nicht einmal kritisiert werden darf. Denn genau an diesem Punkt der Argumentation wird deutlich, dass die PalästinenserInnen halt Pech haben, dass es in Deutschland die Shoah gab. Aus diesem Grund ist nämlich Engagement für ihre Interessen nicht möglich. Mittels halsbrecherischer Apologetik wird versucht, den Konflikt moralisch zugunsten Israels umzudeuten. Jürgen Elsässer, ehemaliger antideutscher Guru, der im letzten Jahr die Lager wechselte (von konkret zur Jungen Welt), wusste z.B. zu berichten, dass die Israelis doch nur gummiumantelte Stahlgeschosse verwenden würden – na, mit Gummi drum stirbt es sich doch gleich viel angenehmer!
Einige exponierte (und auch die nebensächlichen) Vertreter dieser Position verringern den Gewinn der antideutschen/antinationalen Erkenntnisse durch einen neuen Rassismus, der wichtige deutsche politische Handlungskontexte und Identitätsfixpunkte universalisiert. Doch bspw. von PalästinenserInnen zu verlangen, die „globale Bedeutung der Shoah“ anzuerkennen und die Bedeutung einer „Heimstatt für die Jüdinnen und Juden“ zu akzeptieren (die nicht zwangsläufig in Palästina liegen musste!), setzt voraus, dass die damit einhergehenden eigenen Leiden anerkannt und entschädigt werden. Es muss den betreffenden Eiferern klar werden, dass in Israel rassistische Unterdrückung passiert. Und diese Äußerung ist nicht antisemitisch, nur weil auch Antisemiten ihr zustimmen würden.
Einige, diese Widersprüche aufgreifende Diskussionen wurden durch die Ereignisse der Al-Aksa-Intifada angestoßen und führten kurzfristig sogar zu abgewogeneren Stellungnahmen aus dem antideutschen Lager. Während „konkret“ lieber gegen die islamische Gefahr wettert, die Berliner Autonomenzeitung „Interim“ hinter dem palästinensischen Widerstand ausschließlich reaktionäre Bewegungen á la Hamas sieht und noch immer nicht die Berechtigung der Forderungen der PalästinenserInnen sehen kann, stellte sich eine Zeitschrift an die Spitze der Polarisierer. Die Berliner „Bahamas“ rief zu bedingungsloser Solidarität mit Israel und – den USA auf. Die Ereignisse des 11. September 2001, die als antisemitischer Anschlag wahrgenommen wurden, wurden der Ausgangspunkt einer Kampagne, die eher von der jungen Union stammen könnte, als von den sich selbst als Kommunisten bezeichnenden Radikalen. Ihr Inhalt – in deutlicher Gegnerschaft zur Restlinken – war die Solidarität mit dem Nato-Krieg in Afghanistan und dem alliierten Angriff auf den Irak, die Affirmation der „westlichen Zivilisation“ und die Ausrufung des neuen Hauptfeindes Islamismus (auch wenn diese Entwicklung sich schon früher abzeichnete).
Dabei tritt eine Schwerpunktverschiebung innerhalb der antideutschen Positionierungen zu Tage. Immer lag das Hauptaugenmerk antideutscher Betrachtungen auf Deutschland, dem „Deutschen Sonderweg“, den aktuellen Schlussstrichtendenzen, dem noch immer virulenten Antisemitismus und der Wiederetablierung Deutschlands als kriegführende Macht. Dies ging einher mit der Halluzinierung einer deutschen Großmachtrolle und damit der Illusion einer vielleicht auch militärischen Konkurrenzsituation mit den USA, die der innerlinke Kritiker dieser antideutschen Strömung Robert Kurz so ironisierte:
Während sich die kapitalistische Macht unter dem Dach der Pax Americana und in der politisch-militärischen Organisation der NATO längst zu einem „ideellen Gesamtimperialismus“ formiert hat, der heute mitsamt seiner High-Tech-Militärmaschine die losgelassenen Dämonen seiner eigenen Weltkrise in der Gestalt von Gotteskriegern, Schurkenstaaten und Ethnobanditen nicht in die Flasche zurückprügeln kann, ließ eine verballhornte kritische Theorie in einem miserablen Fantasy-Spiel die BRD als Weltmachtkonkurrenten der USA überall dort aufmarschieren, wo die Bundeswehr real in Kompaniestärke und schwerpunktmäßig mit Sanitätsfahrzeugen agierte.15
Im Laufe der zweiten Intifada gewann das Thema Israel/Palästina immer mehr an Brisanz für die Linke. Es häuften sich die Diskussionen und auch die Beschimpfungen. Im Laufe des Jahres 2002 schossen linksradikale Solidaritätskomitees für Israel aus dem Boden. Linke Gruppen und Diskussionszusammenhänge brachen auseinander, u.a. an der Frage, ob bei der nächsten Demonstration die rote durch die israelische Fahne ersetzt werden sollte16. Entsprechend unwichtiger als privilegiertes Feindbild wurde Deutschland. Die „Bahamas“ mühte sich fortan in Strukturvergleichen zwischen Islamismus und Faschismus. Beim Krieg gegen Jugoslawien 1999 wurde noch klar ein deutscher Einsatz abgelehnt, besonders mit Joschka Fischers fadenscheiniger Begründung, gerade wegen Auschwitz müsse man wohl oder übel in den Krieg ziehen. Darin wurde berechtigterweise die Gefahr der Relativierung der deutschen Verbrechen durch Universalisierung gesehen. Nun übt man sich selbst darin, indem dem Islamismus implizit die Potenz zu einer zweiten Shoah attribuiert wird. Die ehedem heilige Kuh der Antideutschen, das Beharren auf absoluter Singularität des Holocaust, hat scheinbar ausgedient.
Zweifelsohne gibt es strukturelle Gemeinsamkeiten zwischen dem Islamismus und faschistischen Bewegungen. Doch gelingt den Antideutschen nur eine rein abstrakte Analyse des Phänomens Islamismus als ein regressives Umschlagen der kapitalistischen Vergesellschaftung in die Barbarei, gerade in der weltökonomischen Peripherie, wo diese ihr Glücksversprechen mehr als untererfüllt. Der konkrete Zusammenhang zwischen dem Vorgehen des israelischen Staates und dem Aufschwung des Islamismus in Palästina wird ignoriert. Stattdessen nehmen viele Linke sogar positiven Bezug auf ultrareaktionäre nationalkonservative Politiker sowie deren gewalttätige Politik in den besetzten Gebieten und damit auf politische Programme, mit denen sie – wären sie noch halbwegs zurechnungsfähig – auch nicht das geringste gemein haben sollten, wie dem euphe- mistisch „Transfer“ genannten Programm der israelischen Rechten, welches das Ziel hat, möglichst viele PalästinenserInnen aus der Westbank zu vertreiben, indem ihnen das Überleben so schwer wie nur irgend möglich gemacht wird.
Wer sich auch nur etwas mit der Lage der Bantustans in den besetzten Gebieten auskennt, wird nicht in die antideutsche Verwunderung und Enttäuschung nach dem Ausbruch der ersten Intifada eingestimmt haben. Im Gegenteil, die Gewalt erklärt sich, wenn man sich die realen Lebensumstände der Protestierenden anschaut. Zwar sind die meisten der AttentäterInnen gut gebildet und selten die ärmsten, aber sie agieren in einer Gesellschaft, die sich gewandelt hat. Während noch bis in die Mitte der neunziger Jahre die meisten palästinensischen Bewohner der Westbank und des Gazastreifens prinzipiell einen Frieden mit Israel unterstützten, ist davon mittlerweile nichts mehr übrig geblieben. Seit dem Beginn des sogenannten Friedensprozesses hat sich für die PalästinenserInnen (abgesehen von der Arafat-Clique) alles verschlechtert: Arbeitsmöglichkeiten, Einkommen, Beweglichkeit, Wasserversorgung usw.usf. Doch die „konkret“ ist mit ihrem israelischen Vorzeige-Friedensbewegten – ganz so wie weite Teile des zusammengebrochenen israelischen Friedenslagers – der Ansicht, dass es unerhört von den PalästinenserInnen sei, dass diese sich nicht endlich mal zufrieden gäben. In Yoram Kaniuks Worten: „Ich weiß nicht […] was die Palästinenser wollen. Das heißt, ich weiß natürlich, was sie wollen, aber sie haben mich belogen, oder ich war so blöd zu glauben, was sie mir erzählten – sie wollen das ganze Land“17. Diese Haltung ist schlichtweg ignorant und chauvinistisch. Sie glorifiziert den sogenannten Friedensprozess und seine Verhandlungen, v.a. die israelische Strategie und ist geprägt von absoluter Blindheit gegenüber der auch bei Intifada-II-Ausbruch schon extrem miserablen Lage der meisten betroffenen PalästinenserInnen18. Zu schön war wahrscheinlich die Vision vom Frieden, der endlich – mit dem „Friedensprozess“ – wahr zu werden schien. Doch Kritiker wiesen von Anfang an darauf hin, dass der „Friedensprozess“ eher eine Legalisierung der Besatzung darstellte und ein Klima schuf, in welchem das Schaffen von ganz unfriedlichen Fakten nicht ganz so schlimm wirkte. So wurden unter jedem israelischen Regierungschef seit Beginn des Prozesses mehr Siedlungen und Straßen gebaut, die palästinensischen Siedlungsgebiete mehr voneinander isoliert, die Städte immer häufiger abgeriegelt.
Die soziale Basis der schrecklichen Attentate von Hamas- und Dschihad-Fundamentalisten ist diese materielle Situation. Während sich noch während der ersten Intifada starke Säkularisierungstendenzen und die Herausbildung einer palästinensischen Zivilgesellschaft abzeichneten, gewann die islamistische Bewegung fortan immer mehr an Zuwachs, und zwar in dem Maße, wie sich die materielle Lage in der Westbank und im Gazastreifen verschlechterte, die Aussicht auf Besserung dahinschwand. Bis dahin war die Unterstützung für die Muslimbruderschaften in Palästina immer verhältnismäßig gering. Besonders Hamas konnte sich aber etablieren, weil für immer mehr Menschen das parallele Netz sozialer Einrichtungen (Schulen, Krankenhäuser usw.) der Islamisten an die Stelle der mangelhaften Absicherung durch die Einrichtungen der Palästinensischen Autonomieverwaltung trat.
Identitäre Politik und Analyse
Es gelang der Linken nie, sich von einfachen Zuordnungsmustern (wer die Guten und wer die Bösen sind) zu befreien. Ein Knackpunkt ist die unterschiedliche Bewertung des Zionismus. Die Linken wollten sich meist entscheiden. Es war (und ist) ihnen scheinbar nicht möglich zu begreifen und zu akzeptieren, dass der Zionismus beides ist: ein kolonialistisches Projekt und die Schaffung einer Zufluchtsstätte für die verfolgten Juden Europas. Ähnlich ambivalent ist das nationale Projekt der PalästinenserInnen. Zu diesem gehört sowohl die kollektive Leidenserfahrung als Vertriebene, Flüchtlinge und Menschen unter Besatzung, als auch der barbarische islamistische Terror. Schon dies spricht gegen die Identifizierung mit einer der beteiligten Parteien. Vor allem aber verträgt sich Identifizierung nicht mit der Analyse der komplexen Interessenslagen der Region im Konflikt. Die eine Seite nahm schlichtweg nicht wahr, dass die Gründung des Staates Israel u.a. darauf basierte, dass hunderttausende Araber ihre Existenzgrundlage (Land und Häuser) verloren. Und dies geschah nicht zufällig, sondern wurde z.B. durch bewusst geplante grausame Massaker wie in Deir Jassin erreicht, die die Flucht der arabischen Bevölkerung zum Ziel hatten. Es gab ganz klar systematische Vertreibung von Nichtjuden. Heutzutage wäre man schnell mit dem Begriff ethnischer Säuberung zur Hand19. Es steht jedenfalls fest, dass das zionistische Projekt Israel als ein jüdisches gedacht war. In diesem Bild kommen (ganz im Sinne von europäischen Denkmustern des 19. Jahrhunderts, in deren geistigem Umfeld der Zionismus entstand) andere, besonders Nichteuropäer nicht vor. So war denn auch die Losung „Ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land“ nicht nur von Unkenntnis geprägt. Immer wieder zeigten aber auch jüdische Führer ein gewisses „Verständnis“ für die Sache der PalästinenserInnen, erklärten deren Widerstand als vorhersehbar und aus deren Sicht auch gerechtfertigt, meist jedoch mit dem Aber, dass es nun einmal gegensätzliche Interessen gebe. Es sollten so viel wie möglich Araber das Land verlassen. Die erbärmliche Lage der 4 Mio. palästinensischen Flüchtlinge, die schlechten Lebensbedingungen unter der Besatzung, die Toten der Kämpfe sind nicht vom Zionismus zu trennen, der als jüdisches Projekt von Beginn an eine ethnisch diskriminierende, also rassistische Komponente beinhaltete, wie alle anderen nationalen Projekte per se auch20.
Und doch ist und bleibt Israel auch eine Folge der Shoah. Die Zustimmung zur Staatsgründung in der UN wurde unter dem Eindruck der Shoah erteilt21. Israel bleibt für viele Juden, die bedroht waren und noch immer bedroht sind eine – im Eindruck der vielen Anschläge allerdings auch immer unsicherere – Zufluchtsstätte. Israel ist Heimat für viele Opfer der Shoah und deren Nachkommen geworden. Israel ist die Konsequenz der „jüdischen Frage“, also des Unvermögens und Unwillens der europäischen Staaten und Bevölkerungen, besonders Deutschlands, den Antisemitismus zu überwinden. Diese Tatsache rechtfertigt keinen palästinensischen Toten, ist aber immer zu bedenken, wenn v.a. fundamentale Kritik an Israel geübt wird. Auffällig ist nämlich, dass kaum ein anderer Staat in Deutschland so viel Feindschaft (aber auch: Verehrung) auf sich zieht, so oft seine Existenzberechtigung abgesprochen bekommt. Dass Linke gegen Staaten sind, sollte selbstverständlich sein; dass der Nationalstaat ein Produkt und eine Vorraussetzung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft ist, sollte mensch wissen. Dass Staaten in einem Wettkampf stehen, sich für ihre Ökonomien auch militärisch gegen einander, also auch gegen Menschen wenden, ist nicht neu. Dass aber dieses Wissen nur in Bezug auf Israel zu konkret geäußerten Forderungen wird (um andere „Schurkenstaaten“ wird sich viel weniger gekümmert), ist eine auch von der Linken betriebene Tradierung der jüdischen „Sonderstellung“, also eines Klischees, das Emanzipation klar im Wege steht. Interessanterweise zählt wohl kein Linker und keine Linke Kemalismus zu den Grundübeln der Welt, trotz dessen z.T. auch grausamer Implikationen für die kurdische Bevölkerung in der Türkei. Der Antizionismus hingegen war oft ideologischer Grundpfeiler. Die Antirassismuskonferenz von Durban im Jahre 2001 stand in dieser traurigen Tradition und auch die internationalen Treffen der Globalisierungskritik neigen zu der altbekannten antiimperialistischen Parteinahme für die PalästinenserInnen bei gleichzeitiger absoluter Dämonisierung Israels. Die antideutsche Gegenposition der bedingungslosen Israelsolidarität ist kaum besser. Man darf sich eben nicht auf die eine Seite stellen wollen, wenn die Lage komplizierter ist, denn man wird im Israel-Palästina-Konflikt (und wo schon?) keine Seite mit ganz weißer Weste finden.
Interessant ist derzeit zu sehen, dass die identitäre Bezugnahme auf eine Konfliktseite in den 70er Jahren und heute, wenn auch mit anderen Vorzeichen, sehr ähnliche Züge trägt. Dazu gehört ein Symbolfetisch. Was damals die palästinensische Fahne und die Kuffija war, ist heute der Davidstern. In der ansonsten nur mit trockenen und schwülstigen theoretischen Abhandlungen glänzenden Zeitschrift Cee Ieh finden sich neuerdings Reiseeindrücke aus Israel und seitenweise „jüdische Witze“. Während damals „die Katzen Laila hießen“22, geben sich linke antideutsche Zionisten heute Emailadressen wie jabotinski@web.de, grüßen nur noch mit „Shalom“, geben auf Flugblättern fingierte Verfassernamen wie „David Rothschild“ und Adressen wie „Stetl“ an23. Offensichtlich wird hier die identitäre Festlegung auf Codes. Mit Symbolen wird plakative Parteilichkeit untermauert. So kommt es dazu, dass ehemalige Atheisten und „kritische Kritiker“ jedweder Religiösität, jetzt die besonderen emanzipatorischen Seiten des Judentums entdecken. Ein Prozess der weiteren Zuspitzung zeichnet sich derzeit ab, ohne dass ein Aufeinanderzugehen der beiden Seiten möglich scheint. Dies betrifft insbesondere das um symbolische Abgrenzung stark bemühte antideutsche Weltbild. Um diese Abgrenzung aufrechtzuerhalten, muss nötigenfalls auch die Realität verbogen werden. Das bezieht sich auf den Nahostkonflikt, aber auch auf innerlinke Debatten. Eine Konferenz der Marx-Engels-Stiftung in Wuppertal machte den Streit um Israel und Palästina, der die Linke mehr und mehr spaltet, zum Thema. Und siehe da, der mit der Bereitschaft zum Dialog seitens der Veranstalter (eher Palästinenserfreunde) geladene Antideutsche Hermann L. Gremliza musste Zitate fälschen, um die Grenzziehung zwischen ihm und den eigentlich gesprächsbereiten Veranstaltern zu betonen und den dort sowieso schon erwarteten Antisemitismus auch wirklich bestätigt zu finden24.
Die Systemtheorie – bei all ihrer Fragwürdigkeit – beschreibt schön die Eigendynamik von solchen einmal ausdifferenzierten Kommunikationssphären. Die Ausdifferenzierung eines Systems oder Subsystems (also die Etablierung als Eigenes, Identisches) bedeutet eine Beschränkung des Wahrnehmbaren, des für das System Relevanten. Die Folgen solchen Denkens zeigten sich auch in den Auseinandersetzungen um die deutsche Friedensbewegung während des zweiten Irakkrieges. Die vorhandenen Schwächen, z.B. teilweise antiamerikanische Tendenzen, wurden zum Wesen erklärt und schon war diese lahme Friedensbewegung ein „antiamerikanisch-antisemitischer Mob“. Die Systemidentität folgt einem binären Code, im Fall der Antideutschen handelt es sich dabei um die Frage, ob etwas Antisemitisch ist, oder nicht. Und im Zweifel ist es antisemitisch. Noch einmal: hier haben die Antideutschen sich schlicht und einfach verrannt, ihre berechtigte Kritik ins Gegenteil verkehrt und einen eigenen Kosmos entwickelt, der sich als erstaunlich realitätsresistent erweist.
Was tun?
Die Linke sollte sich immer dieser Mechanismen der Identitätsbildung bewusst sein. Die Betrachtung ihrer Geschichte, in diesem Fall an vergangenen und aktuellen Debatten um Israel und Palästina exemplifiziert, zeigt deutlich die Gefahren von einseitiger, nicht stets aufs neue hinterfragter Parteinahme. Noch so elaborierte theoretische Konstrukte, wie sie auch die Antideutschen entwickelt haben, sind nicht frei von Interessen und Problemen derer, die sie schufen.
Linke Perspektiven im Nahen Osten liegen deshalb besonders auch in der Kritik der nationalen Ideologie und im Lernen aus der steten Neukonstruktion des nationalen Kollektivs im kriegerischen Konflikt. Unterdrückung entlang ethnischer Grenzlinien ist für die Überwindung des Nationalen eine schlechte Voraussetzung, weshalb man sich mit kritischer Solidarität auf palästinensische Emanzipationsversuche beziehen kann, insofern diese nicht nur eine Verlagerung der Unterdrückung und Ausbeutung in die eigene Ethnie beinhalten25. Aufgabe der Analyse müsste u.a. auch sein, sich der Klassenstruktur in Israel und innerhalb der besetzten Gebiete mit ihrer Fatah-Bourgeoisie zu widmen. Dabei wird man feststellen welche Bedeutung der Konflikt hat, diese fragilen Gesellschaften überhaupt zusammenzuhalten, was also auch seine Funktion ist.
Schlecht für diese Bestrebungen ist dabei der faktische Zusammenbruch des israelischen Friedenslagers, welches sich nur zögerlich neu formiert, und die absolute Schwäche der palästinensischen Linken, für die im übrigen auch die Besatzung den Hauptwiderspruch bildet, was sie zur Zusammenarbeit mit Hamas und Dschihad verleitete26. Die „natürlichen“ Partner der Linken sind also rar. Deswegen möchte ich der deutschen Linken mit Moshe Zuckermann empfehlen, sich aus diesem Konflikt doch im Zweifelsfall lieber herauszuhalten. Bisher hat sie noch nicht viel Sinnvolles beigetragen.
Peter Ullrich, M.A., Soziologe und Kulturwissenschaftler, verschiedene Veröffentlichungen zu sozialen Bewegungen und zum Nahostkonflikt, politisch aktiv im „Bündnis gegen Krieg“ Leipzig und der „Gesellschaft für eine lustigere Gegenwart“ zu antimilitaristischen und Überwachungsthemen.
1 Wenn in diesem Text von „der Linken“ die Rede ist, steht das jeweils nicht für die gesamte. Vielmehr will ich dominante
Positionierungen und extreme Wandlungen besonders der außerparlamentarischen radikalen Linken charakterisieren, ohne damit auszuschließen, dass es noch jeweils andere, zum Beispiel zwischen den Extremen liegende Ansichten gab und gibt, was ja auch immer der Fall war. Auch nicht eingeschlossen ist in diese Betrachtungen die Entwicklung in der DDR (und damit stark verbunden in der westdeutschen DKP) im Spannungsverhältnis von „Antizionismus, proletarischem Internationalismus, Blockkonfrontation und Honeckers Wunsch nach Washington zu kommen“. Vgl. dazu Polkehn (1999).
2 Die m.W. einzige Monographie die dieses Thema im historischen Gesamt-Überblick behandelt ist die von Martin W. Kloke (1994).
3 Zur Geschichte der palästinensischen Nationalbewegung vgl. Baumgarten (1991) und Hoekmann (1999) und Später (1994).
4 „Als die Katzen Laila hießen, Überlegungen zur ‚Nahostpolitik’ des KB“, ak 397, 12.12.1996
5 H./ Freiburg (2000): Antisemitismus und die Grenzen des Klassenbegriffs, in Wildcat-Zirkular 56/57, S. 17
6 Auch wenn er sich hier noch explizit vom Antisemitismus distanziert, schimmert dieser doch schon durch, indem den Jüdinnen und Juden ein Sonderstatus, quasi eine Ausnahme von seiner Regel, zugedacht wird.
7 Vgl. dazu Initiative Sozialistisches Forum (1990): Ulrike Meinhof, Stalin und die Juden: Die (Neue) Linke als Trauerspiel, in: Das Ende des Sozialismus, die Zukunft der Revolution. Analysen und Polemiken, Freiburg: Ça ira
8 Diese Begriffe sind verwirrend und gehören nicht unbedingt zusammen. Meine Kritik bezieht sich im wesentlichen auf die nur antideutsche Ausrichtung einiger Teile der Antifa-Szene, des linksradikalen Spektrums und der Zeitschriften konkret, jungle world, bahamas, 17°. Dass „antideutsch“ „antinationalistisch“ nicht einschließt, zeigt die antideutsche Orientierung der so genannten „Antinationalen Gruppen“, aber auch Äußerungen, wie die von Eminenz Jürgen Elsässer, der in Bezug auf die palästinensischen Flüchtlinge meint, dass sich schließlich „ihre arabischen Brüder und Schwestern“ um sie kümmern könnten und dies nicht Israels Aufgabe sei (So panarabisch dachte Elsässer in seinem Vortrag „Der Mörder ist immer der Jude“ in der Universität Leipzig im Januar 2001).
9 Herausgeber der zumindest bis dahin wahrscheinlich wichtigsten linken Zeitschrift Deutschlands.
10 Ingrid Strobl in konkret 4/91 S. 22
11 Antinationale Gruppe Leipzig (1999): Was taugt die antideutsche Position noch?, Cee Ieh #60, November 1999, S. 56.
12 Ebd.
13 Ebd.
14 Ebd. S.54
15 Kurz, Robert (2001): Mudschahidins des Werts. Bomben für den Warenfetisch: Die aufklärerische Linke im letzten Stadium der bürgerlichen Vernunft, http://www.giga.or.at/others/krisis/r-kurz_mudschahidins-des-werts.html, [10.10.2001]
16 Das Internetprojekt http://www.antisemitismusstreit.tk
[07.082002] unternimmt den Versuch die Debatte umfassend zu dokumentieren.
17 „Wir haben uns selbst betrogen“, Interview mit Yoram Kaniuk in konkret 5, Mai 2001, S.26
18 Heute, mehr als anderthalb Jahre nach Ausbruch ist die Situation noch dramatischer. Die palästinensische Verwaltung und Zivilgesellschaft ist komplett zerstört. Die „Gebiete“ sind größtenteils wiederbesetzt. 70% der Bevölkerung lebt von weniger als 2 Euro am Tag, 20% der Kinder sind schwer unterernährt.
19 Vgl. Prof. Dr. Salah Abd el Dschawad: Ein Fall von „ethnischer Säuberung“. Warum haben die Palästinenser 1948 ihre Heimstätten verlassen?, in: FAZ Nr. 7, 9.1.2001, S. 14-15. In diesem Punkt besteht auch große Uneinigkeit zwischen den sogenannten „Neuen Historikern“, einer Generation von Geschichtswissenschaftlern, die viele Gründungsmythen Israels widerlegt haben, und der typischen arabischen Sicht. Beide sind sich einig, dass es bewusst geplante Vertreibungen gab, die PalästinenserInnen gehen aber von einem „Masterplan“ aus, den die Neuen Historiker bestreiten.
20 Die gilt natürlich auch für das Palästinensische, nur unter ganz anderen, nämlich zur Zeit sehr schlechten Vorraussetzungen.
21 Vgl. aber auch: Dan Michman (2000): Araber, Zionisten, Bishara und der Holocaust, in: Rainer Zimmer-Winkel (Hg.): Die Araber und die Shoah – Über die Schwierigkeiten dieser Konjunktion, Aphorisma, Kleine Schriftenreihe, Trier
22 „Als die Katzen Laila hießen. Überlegungen zur ‚Nahostpolitik’ des KB“, ak 397, 12.12.1996
23 So geschehen auf einem antideutschen Flugblatt, verteilt anlässlich einer Anti-Bush-Demonstration. Darin bedankt sich der Unterzeichner beim US-Präsidenten für seine Politik und unterstellt den Veranstaltern (u.a. ATTAC) antisemitische Ressentiments.
24 Siehe die Dokumentation der Tagung: Marx-Engels-Stiftung (Hg.): Israel, die Palästinenser und die deutsche Linke. Beiträge einer Tagung der Marx-Engels-Stiftung Wuppertal, Essen: Neue Impulse Verlag, besonders die Seiten 53-60.
25 Vgl. Ullrich, Peter (2000): Anmerkungen zur Jahrestagung der Deutsch-Palästinensischen Gesellschaft in Hofgeismar.
Nationale Identität?, Palästina Journal 43, sowie Lehmig, Hannah (1999): Auf dem Weg zum Staat Palästina, in Palästina Journal 40/41. Die faktische Unmöglichkeit der ethnischen Trennung durch die Siedlungen, die israelischen PalästinenserInnen, die wirtschaftliche und soziale Verflechtung u.a. kann u.U. die Vorraussetzung dafür sein, dass über postethnische Konzepte nicht nur nachgedacht wird, sondern, dass die normative Kraft des Faktischen dazu zwingt z.B. auf das alte binationale Konzept der israelisch-palästinensischen Kommunisten zurückzugreifen (vgl. Gerrit Hoekmann 1999)
26 Vgl. Interview mit Jamil Majdalawi, www.sooderso.de/online/2001/februar/pflpinterview.html [Mai 2001].
Auswahlbibliographie
Baumgarten, Helga (1991): Palästina: Befreiung in den Staat, Frankfurt.
Hoekmann, Gerrit (1999): Zwischen Ölzweig und Kalaschnikow. Geschichte und Politik der palästinensischen Linken, Münster.
Jaeger, Kinan (1997): Quadratur des Dreiecks: die deutsch-israelischen Beziehungen und die Palästinenser. Mit einem Vorwort von Hans-Jürgen Wischnewski, Schwalbach/Ts.: Wochenschau-Verlag.
Kloke, Martin W. (1994): Israel und die Deutsche Linke. zur Geschichte eines schwierigen Verhältnisses, 2. erweiterte und aktualisierte Auflage, Frankfurt.
Neidhardt, Irit; Willi Bischof /Hg. (2000): Wir sind die Guten: Antisemitismus in der radikalen Linken, Münster: Unrast.
Polkehn, Klaus (1999): Die DDR und Palästina, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 38/99, S. 32-39.
Renger, Reinhard /Hg. (1994): Die deutsche „Linke“ und der Staat Israel, Leipzig: Forum-Verlag.
Schleker, Manfred; Ulrich Wacker /Hg. (1990): Einmischungen. Israel, der Nahe Osten und die Deutschen, Stuttgart.
Schneider, Karlheinz; Nikolaus Simon /Hg. (1984): Solidarität und deutsche Geschichte: die Linke zwischen Antisemitismus und Israelkritik; Dokumentation einer Arbeitstagung in der Evangelischen Akademie Arnoldshain, August 1984, Deutsch-Israelischer Arbeitskreis für Frieden im Nahen Osten e.V., Berlin.
Später, Jörg (1994): „…alles ändert sich die ganze Zeit. Einleitende Bemerkungen zu Internationalismus und sozialen Bewegungen“, in: ders.: „…alles ändert sich die ganze Zeit. Soziale Bewegung(en) im Nahen Osten“, Freiburg: iz3w.
Treichel, Anja (1999): Endlich Frieden in Palästina … oder merkwürdige Verwandlungen durch Verhandlungen, telegraph 2/1999.
Ullrich, Peter (2002) Spiegelfechtereien der deutschen Linken. Analyse oder Antideutschtum?, in: Marx-Engels-Stiftung (Hg.): Israel, die Palästinenser und die deutsche Linke. Beiträge einer Tagung der Marx-Engels-Stiftung Wuppertal, Essen: Neue Impulse Verlag, S. 67-71
ders. (2002a): Projektionsfläche Naher Osten. PalästinenserInnen, Israelis und die deutsche Linke bei der Selbstzerfleischung, Kultursoziologie. Aspekte, Analysen, Argumente 2-02, S. 109-125.
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