DGB -Vorsitzender von Bund und Berlin ausgepfiffen
von N. N., Berlin
aus telegraph 5/1996
Auf der diesjährigen zentralen Maikundgebung des DGB in Berlin schlugen die Vorsitzenden des DGB, Dieter Schulte und des DGB Berlin, Christiane Bretz ungewohnt kämpferische Töne an. Sie hatten sich offensichtlich darüber geärgert, daß ihre Unterwerfungsangebote an Kapital und Regierung nun von deren Seite mit Fußtritten beantwortet wird.
Was war los?
Trotz Lautsprecheranlage konnten allerdings nur relativ wenige der knapp 20 000 anwesenden Kolleginnen und Kollegen die Verbalattacken auf die “Arbeitgeber” verstehen, denn ein ohrenbetäubendes Pfeifkonzert erfüllte die Luft vor dem Roten Rathaus für die Dauer der 45-minütigen Veranstaltung. Unterbrochen immer wieder von Sprechchören. “Bündnis von unten” oder “Bündnis von unten statt Bündnis für Arbeit”, aber auch “Heuchler” und “Aufruhr! Widerstand! Schulte hat kein Hinterland!” hallten über den Platz. Einige wenige Eier und Tomaten flogen zur Tribüne, einige landeten in den ersten Reihen der Protestierenden. Einen Clou landeten einige Angehörige der ehemaligen Bürgerbewegungen der DDR mit ihrem Transparent “DGB-Führung weg!”. Es war so unglaublich groß, daß es alle anderen Losungen und Transparente weit überragte. Erst zeigte die Losung des Transparentes, daß sich etwa 30 Meter vor der Tribüne befand, in Richtung der Tausende nach hinten. Im Verlauf der Kundgebung wurde es umgedreht, so daß der arme Kollege Schulte nicht nur gegen eine Wand aus Pfiffen, sondern auch gegen dieses Transparent anreden mußte.
Pfiffe und Sprechchöre “aufhören” hatten bereits begonnen, als Christiane Bretz, die erste der beiden einzigen Redenden, angesagt wurde. Bretz hatte sich nicht nur wegen ihres Eintretens für eine Große Koalition, sondern auch wegen ihres einseitigen Vorpreschens in Sachen Länderfusion Berlin-Brandenburg zahlreiche innergewerkschaftliche Kritik zugezogen. So war das Mißtrauen in beide Redende, trotz deren kämpferischer Pose, auch bei vielen Anwesenden sehr groß, die nicht zu den Protestierenden gehörten. Zustimmender Beifall blieb deshalb insgesamt recht spärlich.
Die Berichterstattung der meisten Medien hat das Ausmaß der Proteste vertuscht. Während die “FAZ” sie auf “einige Angehörige linker Gruppen” reduzierte, schrieb die “FR” vom Pfeifkonzert der Mitglieder des “Bündnis Kritischer GewerkschafterInnen Ost/ West”.
Doch die Wahrheit ist brisanter. Die Protestaktion wurde nämlich von einem Protestblock innerhalb der offiziellen Maidemonstration durchgeführt, der vom Landesverband der Gewerkschaft HBV gemeinsam mit dem “Bündnis gegen Sozialleistungskürzung und Ausgrenzung” organisiert wurde. Dieser Protestblock, für dessen Zustandekommen sich das Bündnis Kritischer GewerkschafterInnen Ost/ West allerdings engagiert hatte, marschierte unter der Losung “Bündnis von unten statt Bündnis für Armut und Profit!” als eigenständige Formation innerhalb des Zuges von ÖTV, HBV und GEW bei dem in Berlin üblichen Sternmarsch der Einzelgewerkschaften zum Kundgebungsort. Es gab einen eigenen Aufruf zu diesem Block und eine gemeinsame Pressekonferenz von HBV Berlin und “Sozialbündnis”, die allerdings von den meisten Medien ignoriert wurde.
Etwa 3.500 Menschen hatten sich diesem Protestzug gegen die Politik der Gewerkschaftsführungen angeschlossen und dann versucht, zur Tribüne vorzudringen. Vier- bis fünfhundert Leuten ist es auch gelungen, in die ersten Reihen vorzustoßen. Auf dem Kundgebungsplatz sind allerdings noch zahlreiche Kolleg/innen anderer Gewerkschaften, wie IG Metall oder IG Medien zum Protestblock gestoßen, die zuvor mit ihren Gewerkschaften in anderen Zügen des Sternmarsches mitgelaufen waren. Das Transparent “DGB-Führung weg!” war übrigens nicht im “Bündnis Kritischer GewerkschafterInnen Ost/ West entstanden, wie Zeitungen behauptet hatten. Die Leute vom BKG hatten selbst erst am Vorabend des 1.Mai von seiner Existenz erfahren und waren dann über seine Größe völlig verblüfft.
Nüchtern betrachtet, hat sich wahrscheinlich etwa ein Viertel der knapp 20 000 Kundgebungsteilnehmer/innen an den Protestaktionen aktiv beteiligt. Insofern hat die “taz” übertrieben, als sie von mehr als der Hälfte der Versammelten schrieb. Was allerdings die Protestaktion zu einem wirklichen Erfolg machte, war das große Ausmaß der Sympathien bei den Anwesenden und die unerwartet geringe Abwehr bei Umstehenden. So traf ausgerechnet die “Berliner Morgenpost” in ihrer Berichterstattung die Stimmung recht genau, als sie einen Bauarbeiter zitierte: ”Die Gewerkschaftsbosse im Nadelstreifenanzug brauchen das mal” – damit sie mitkriegen, was wirklich los ist. Und wie im Nachgang zu hören war, gibt es die Schadenfreude, daß “denen oben” endlich mal eine ausgewischt wurde, bis weit in den hauptamtlichen Apparat hinein.
Der Erfolg der Protestaktion hat sich nicht nur darin ausgerückt, daß Schulte und Bretz die Tribüne zum Hinterausgang verließen, sondern auch darin, daß eine wenig später geplante Podiumsdiskussion zwischen Gewerkschafter/innen und dem Regierenden Bürgermeister Diepgen (CDU) über die geplante Länderfusion kurzfristig abgesagt wurde. Aus Angst vor massiven Protesten seitens der Gewerkschaftsbasis. Bereits im Vorfeld hatten ÖTV und HBV an Bretz signalisiert, daß viele Gewerkschafter/innen Diepgen am Reden auf der Maikundgebung hindern wollten. Die Proteste gegen Schulte und Bretz kurz davor hatten offenbar vom Realitätsgehalt dieser Ankündigung überzeugt.
“ So wurde der Tag, an dem die Gewerkschaften eigentlich die Kampfkraft ihrer Mitglieder gegen den ‘Sozialraub’ testen wollten, zu einer Demonstration gegen die Sozialpartnerschaft”, schrieb die “taz” zurecht.
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