Gastkommentar aus den Kreisen des Bündnisses kritischer GewerkschaftlerInnen
von Bernd Gehrke, Berlin (Ost)
aus telegraph 5/1996
Die Auseinandersetzung um den Kurs der Gewerkschaften wird sich nach diesem Tag gewiß zuspitzen, weil die innergewerkschaftlichen Gegensätze, die sich vor allem im Zusammenhang mit dem sogenannten “Bündnis für Arbeit” aufgetan hatten, erstmals öffentlich wurden. Hinzu kommt, daß sich mit der HBV eine Einzelgewerkschaft nicht nur gegen den Kurs anderer Einzelgewerkschaften und des DGB öffentlich ausgesprochen, sondern sich auch in ein breites soziales Bündnis von unten eingebracht hat, welches das “Bündnis für Arbeit” ablehnt. Zu hoffen ist, daß die Kritiker/innen der gewerkschaftlichen Standortpolitik nicht nur durch die brutal-dreiste Politik des Unternehmer- und Regierungslagers Zulauf erhalten, sondern daß der 1. Mai auch Mut zum offenen Streit in den Gewerkschaften macht.
Die Auseinandersetzung wird sich auch in der HBV verschärfen, denn die Politik des Berliner Vorstandes stößt natürlich nicht nur auf Zustimmung. Allerdings hatte sich auch die Bundes-HBV inzwischen deutlich gegen das “Bündnis für Arbeit” ausgesprochen. Dabei passen die internen Konfrontationslinien durchaus nicht in Schablonen, und sie gehen längst nicht entlang der Parteigrenzen. Dies hatte sich bereits im Vorfeld des 1. Mai gezeigt, als der Vorstand der HBV Berlin mit der “Berliner Erklärung” offen gegen die Politik von Zwickel und Schulte mobilisierte, die von mehr als 300 Gewerkschaftsaktiven verschiedener Einzelgewerkschaften, besonders aus Betrieben, unterzeichnet wurde. Während langgediente sozialdemokratische Gewerkschafter/innen ein kämpferisches Vorgehen der Gewerkschaften gegen den Großangriff des Kapitals einforderten und sich dem Unterwerfungskurs der Schultes und Zwickels entgegentraten, haben große Teile der Kolleg/innen, die der PDS nahe stehen, immer wieder versucht, die offene Auseinandersetzung in der Gewerkschaft zu deckeln. Diese Haltung wurde auch an der Berichterstattung des “ND” über die Proteste am 1. Mai deutlich. Andererseits haben sich gerade einige Kolleg/innen aus diesem Spektrum wacker um die Organisierung von Widerstand bemüht. Bei den Grünen-nahen gibt es ähnliche Probleme. So bleibt zu hoffen, daß sich alle, die im Bündnis von unten mit den Mächtigen “Französisch reden” wollen, über Partei- und Gewerkschaftsgrenzen hinweg zusammenfinden und sich den Instrumentalisierungsversuchen der verschiedenen Apparate und Parteien zu entziehen vermögen.
Der Beginn einer breiteren oppositionellen Debatte in den Berliner Gewerkschaften könnte aus dem Kreis der Unterzeichner/innen der “Berliner Erklärung” hervorgehen. Bei einem ersten Treffen der Unterzeichner/innen am 25. April, wurde vereinbart, solche Treffen zu wiederholen, um gerade im Angesicht des vorliegenden Entwurfes für ein DGB-Grundsatzprogramm eine gemeinsame strategische Debatte über Gewerkschaftsgrenzen hinweg zu führen. Es wurde aber auch beschlossen, die Öffnung zu den sozialen Bewegungen außerhalb der Gewerkschaften aktiv zu fördern. Und dies ist vielleicht die wichtigste Chance, die sich gegenwärtig in Berlin aufzutun scheint: daß innergewerkschaftliche und außergewerkschaftliche soziale Bewegungen ein gleichberechtigtes Bündnis eingehen. Im “Bündnis gegen Sozialleistungkürzung und Ausgrenzung” sind jetzt bereits 120 Vereine, Projekte etc. pp. zusammengeschlossen, die bei der letzten Demo im April, der dritten seit Dezember, ca. 35 000 Menschen mobilisieren konnten.. HBV, IG Medien und GEW engagieren sich bereits mehr oder minder.
Zahlreiche Protest- und Widerstandsaktionen finden gegenwärtig im Bildungs- und Ausbildungs-, im Kultur- und Sozialbereich statt. Die Aktivität von Jugendlichen ist sehr hoch, aber es sind bei weitem nicht nur Jugendliche aktiv. Diesen vielseitigen Widerstandsimpuls gilt es jetzt in die Betriebe zu tragen oder, wo er bereits vorhanden ist, zu einer breiten sozialen Aktion zu kombinieren. Diese Situation macht es in Berlin besonders notwendig, über gemeinsame Interessen und Konflikte nachzudenken, die den außerbetrieblichen mit dem gewerkschaftlichen Widerstand verbinden können. Neben den Themen, die durch den brutalen Regierungs- und Unternehmerangriff heute unmittelbar gegeben sind, wie Lohnfortzahlung, Arbeitslosen- und Sozialhilfe oder Ladenschluß, bieten sich in Berlin vor allem jene Themen an, deren Klammer die Haushaltsabhängigkeit bilden. Außer zahlreichen betrieblichen Konflikten um Standortverlagerung oder um Mindestlöhne auf dem Bau sind Sparmaßnahmen und Privatisierungsvorhaben im Öffentlichen Dienst das Problem, welches den abhängig Beschäftigten in Berlin am meisten auf den Nägeln brennt. Letztere sind deshalb wohl jene strategische Achse, entlang der die Verknüpfung des betrieblichen und außerbetrieblichen Widerstands in den nächsten Jahren am ehesten gelingen könnte. Die BVG-Leute haben ihre Kampfbereitschaft in den letzten Jahren jedenfalls mehrfach demonstriert.
Gemessen am außergewerkschaftlichen Widerstand gegen Sozialabbau in Berlin war die Protestaktion am 1. Mai bescheiden. Nur relativ wenige Gruppen des “Sozialbündnisses” konnten sich zur Teilnahme an dem gemeinsamen Protestblock entschließen – zu lahm, zu regierungsnah und deshalb zu unwichtig für die Mobilisierung von Widerstand sind dem größeren Teil in diesem Bündnis die Gewerkschaften. Insofern hat diese Protestaktion sicherlich nicht nur dazu beigetragen, die Glaubwürdigkeit der innergewerkschaftlichen Opposition zu erhöhen. Es wurde auch demonstriert, daß sich in den Gewerkschaften wieder Bewegung zu regen beginnt und damit wohl auch das Interesse für gewerkschaftliche Belange erhöht. Der nächste gemeinsame Aktionstag gegen den Sozialabbau in Berlin findet bereits am 9. Mai unter dem Motto “ Legen wir diese Stadt lahm” statt.
Für die innergewerkschaftlichen Kritiker/innen des “Bündnis für Arbeit” und der Standortpolitik sollte es jetzt darum gehen, den öffentlichen Eklat für die Gewerkschaftsführung in einen Schub zur bundesweiten Formierung einer breiten gewerkschaftlichen Opposition gegen Arbeitsplatz- und Sozialabbau und wider die gewerkschaftliche “Standortpolitik” zu verwandeln. Insbesondere die basisdemokratische Strömung sollte sich hierfür zum Anwalt und Motor machen. Der Aufruf des “Aktionsbündnis für eine neue soziale Politik” zu einem bundesweiten Aktionstag am 21. September in Frankfurt/ Main könnte dabei ein nächster Schritt sein, dessen Unterstützung ernsthaft geprüft werden sollte.
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