Ratloses warten auf die Chaos-Tage!
aus telegraph 4/1996
Daß die Chaos-Tage im August wieder einmal die Schlagzeilen beherrschen werden, ist nichts
Neues – wohl aber, daß 13 Wochen vorher schon das große Flattern einsetzt! Was wird
geschehen, wenn wieder einmal riesige Horden marodierender Punkrocker und -rockerinnen ins schöne Hannover einfallen? Was kann man tun, um den totalen Terror zu verhindern, mit dem sie in der gekannten Weise die niedersächsische Landeshauptstadt überziehen werden?
Anstatt endlich einmal Polizei, Justiz und Lagerleitung genügend Spielraum für die Lösung der Punkerfrage zu überlassen, gabs am vergangenen Mittwoch eine Podiumsdiskussion. Unter der Leitung von NDR-Schwätzerin Hanna Legaitis gaben sich Oberstadtdirektor Jobst Fiedler, Heiko Geiling von der Universität Hannover, der Leitende Polizeidirektor Peter Eggerling, Pastor Schwarzrock von der Luthergemeinde sowie einige andere armselige Sozialarbeiterwürste ein Stelldichein, um stirnfaltenwerfend das große Thema, das Hannover bewegt, zu diskutieren.
Was haben sich diese armen Schweine beklagt und bejammert: Ratlosigkeit auf allen Gesichtern und bittere Tränen ob der Tatsache, daß sich die Chaos-Tage von nichts und niemandem lenken und steuern lassen und zudem ausgerechnet IN HANNOVER stattfinden. Wieso nicht wie gehabt in Los Angeles oder wenigstens in Berlin? Da bleiben Schutt und Asche auf der Mattscheibe und landen nicht vor der eigenen Haustür! Warum muß das Image der Stadt darunter leiden, daß Hannover als „Austragungsort für die sozialen Probleme in den großen Städten“ herhalten muß?
„Heiliger St. Florian -verschon mein Haus, zünd andere an!“ – getreu diesem Motto sind sie sich alle einig, von links bis rechts, vom Stammtisch bis zum Lokalpolitiker. Die Welt mag Scheiße sein, aber vor den Folgen möchte man doch ganz gerne verschont bleiben. Erst recht im friedlichen Hannover.
Aber in der Auswahl der Mittel machen die Damen und Herren natürlich schon Unterschiede. Die Linken möchten ein irre duftes Happening mit feiernden Punkrockern – am besten VOR den Toren der Stadt -, wohingegen die Polizei jeden Tag mit Stoßgebeten die Verabschiedung des neuen Polizeigesetzes herbeisehnt. Wieder einmal ziehen irgendwelche Althippies die Phrase von den „sozialen Problemen“ aus dem Sack, die man endlich mal lösen müsse. Und solange das nicht geschieht, müsse man eben die „Toten Hosen“ einkaufen, um die Punks solange zuzulärmen, bis sie besoffen umfallen.
Sie übersehen in ihrer vollkommenen Ahnungslosigkeit, daß die „Toten Hosen“ auf den
Chaos-Tagen keine drei Akkorde unbeschadet überstehen würden, sobald sie die ganze Nummer als Riesen-Spektakel im Dienste der Stadt aufziehen würden. Aber glücklicherweise sind da die „Toten Hosen“ schlauer -die würden sich niemals aufs so ein lebensgefährliches Abenteuer einlassen!
Andere Träumer glauben, mit einer angemeldeten Demo „gegen Sozialabbau“ dem Punks einen legalen Aufenthaltsraum verschaffen zu müssen. Haben sie denn schon vergessen, wie sie bei den Chaos-Tagen 1984 mit ihrem verlorenen Häuflein, alle um den Lautsprecherwagen geschart, völlig hilflos mitansehen mußten, wie die zusammengepferchten Punks sich von der Polizei attackieren und verprügeln lassen mußten? Und: Wie wollen sie über ein ganzes Wochenende diese Demonstration aufrechterhalten? Sie haben wohl zusätzlich vergessen, daß Chaos-Tage nicht Stunden, sondern TAGE dauern!
Chaos-Tage zeichnen sich dadurch aus, daß sie sich eben NICHT als Massenspektakel begreifen, ob nun als Demonstration oder Festival, sondern als völlig unkoordiniertes Treffen derjenigen, die das große Abenteuer erleben wollen. Und genau deshalb werden Stadt, Polizei und linke Träumer sich auch dieses Jahr wieder volles Brett auf die Schnauze legen.
Denn der entscheidende Fehler bleibt immer der gleiche: Wie gebannt starren sie ausschließlich auf die vergangenen Ereignisse, und sie sind völlig unfähig, auch nur zu ahnen, was dieses Mal auf sie zukommt. Der Preis, den sie dafür zahlen müssen, wird so jedes Jahr ein gewaltiges Stück weiter in die Höhe geschraubt.
1994 noch glaubten die Linken, aus den angekündigte Chaos-Tagen würde eh nichts – Punk ist tot, und früher waren sie ja mal echt dufte – und auch die Polizei leistete sich eine derartige Arroganz.
Die angereisten Punks sollten wie ein paar lästige Fliegen beiseite gewischt werden, und als die sich wehrten, gabs in die Fresse.
Die für ihren Brutalo-Einsatz notdürftig zusammengezimmerte Lüge vom „Schutt- und Asche“-Flugblatt geriet dabei zum Rohrkrepierer: Die Medien stürzten sich wie die Hyänen auf dieses saftige Stück Fleisch und sorgten mit ihren atemberaubenden Blutstories für die Geburt einer Legende. Dabei wäre die Lösung so einfach gewesen: Ein bißchen mehr Gelassenheit, und die Chaos-Tage wären tatsächlich eine ganz normale „Punk-Fete“ geblieben.
1995 dann war der Preis schon höher: Im In- und Ausland hatte der Medienrummel des vergangenen Jahres für eine enorme Mobilisierung gesorgt, aber den wirklich Militanten schien die ganze Sache immer noch zu „unpolitisch“ und zu sehr eine einzige langweilige Saufnummer. Mit ein paar Tausend Litern Freibier und ein paar Bands auf einer großen Wiese hätte die Stadt die Chaos-Tage leicht in ein riesiges Festival umfunktionieren können. Das hätte schon ein paar Mark gekostet, aber im Vergleich zu der Kombination aus Sachschäden und Imageverlust, den die Chaos-Tage dann schließlich der Stadt bescherten, wäre diese Summe eher lächerlich geraten.
Leider hatten die Punks aber einen ganz guten Tag erwischt, und als die Polizei mal eben deeskalierenderweise Polizei und Nordstadt von der Punk-Seuche befreien wollte, waren diesmal die Punks am Drücker. Die Polizei kassierte Niederlage auf Niederlage, die Barrikaden brannten.
Mit ihrem völlig konzeptionslosen Verhalten aber sorgte die Polizei in Tateinheit mit den bundesweit amoklaufenden Medien so schließlich dafür, daß jeden Tag mehr Leute – und das waren KEINE Punks!!! – anreisten, die den Bullen immer schon mal ganz gerne was auf die Schnauze geben wollten. So war der Zoff zum Schluß fest in der Hand von Autonomen, Hooligans und Immigranten-Kids. Eine Tatsache, die gern verschwiegen wird.
Und dieses Jahr? Weiß die St-Florians-Front überhaupt, was da auf Hannover zurollt? Natürlich weiß sie es nicht, weil sie wie gebannt auf die Fehler vom letzten Jahr starrt und nun in ihrer grenzenlosen Phantasielosigkeit einfach nur alles Menschenmögliche tun will, damit sich die Ereignisse vom letzten Jahr nicht wiederholen.
Ihr armen Hirne. Es wird keine Wiederholung der Chaos-Tage vom letzten Jahr geben, genauso wenig wie es 1995 eine Wiederholung der 94er Ereignisse gab. Und wieder einmal ist der Preis höher, ja, eigentlich unbezahlbar geworden. Und diesmal wird es auch NICHT helfen, medieneinheitlich die Schnauze zu halten.
Wißt Ihr überhaupt, welche Bombe Ihr letztes Jahr gelegt habt?
Die Chaos-Tage 96 werden definitiv NICHT mehr von Punks dominiert werden, sie sind weder durch Polizeigewalt noch durch grüne Konzepte zu befrieden oder gar zu verhindern. Und das weiß JEDER, der wirklich nahe am Geschehen ist. Lest einfach mal die einschlägigen autonomen Zeitschriften, hört Euch bei den Hools im Stadion um (..auch bei der EM 96 in England!), fragt die ganz normalen abenteuerhungrigen Jugendlichen, was sie von Chaos-Tagen halten. Und habt Ihr die Massen von türkischen und kurdischen Kids vergessen, die sich im letzten Jahr in der Hannoveraner Nordstadt einen regelrechten Guerillakrieg mit der Polizei lieferten?
Der Zusammenhalt vom letzten Jahr und die totale Niederlage der Polizei ist den meisten noch sehr gut im Gedächtnis geblieben, und während am ersten Augustwochenende an den Kontrollstellen die trinkfreudigen Punks in Lager abgeführt werden, sind ganz andere Leute in der City unterwegs, um das totale Abenteuer zu suchen.
Ihr werdet sie nicht bremsen können, und das geschieht Euch recht! Denn nicht die Punks oder irgendwelche obskuren bösen Menschen haben die Chaos-Tage angezettelt, sondern IHR wart es! Das Triumvirat aus sensationsgeiler Presse, hilflos-forscher Polizei und blubbernden Politikern hat in jahrelanger Kleinarbeit eine ultra-explosive Mischung zusammengerührt, und die Stadt Hannover wird reiche Ernte halten.
Dieser Sommer wird Geschichte machen. Es wird der Sommer des ungezügelten Aufstands einer Generation werden, die das erwähnte totale Abenteuer lauthals und gewalttätig einfordert. Weder durch politische Politprofis noch Geschäftemacher kanalisiert oder kontrollierbar. Und Ihr Feiglinge werdet jammernd danebenstehen und die Sinnlosigkeit beklagen, wie da Geschäfte geplündert und Polizisten verprügelt werden, und das alles wegen NICHTS.
Aber genau darum geht es. Es geht um das NICHTS, das Ihr in die Köpfe hineingepflanzt habt. Ein NICHTS voll Werbefernsehen und Internet, das nun nach Erfüllung schreit. Eure Spielzeugkiste voller Erfindungen, Geldgier und Informationsterror macht sich nun selbständig und wird zum Monster, das Eure schöne Welt in Stücke haut. Zumindest an diesem Wochenende, zumindest in Hannover. Eine Stadt als Symbol für den amoklaufenden Widerstand, der jeglicher Visionen beraubt ist.
Das habt Ihr nicht gewollt, das hat niemand gewollt. Auch nicht die ganzen Kaputten – seien es nun desolate Altpunks, Junkies und Penner, die ebenfalls die Gelegenheit nutzen werden, ihr Stück vom Kuchen abzukriegen. Aber es findet halt statt, weil zugemüllte Seelen eben eines Tages explodieren. Und sei es bei den Chaos-Tagen in Hannover.
Und wenn es vorbei ist, habt Ihr wieder ein Jahr Zeit, die ganze Welt zu ändern, damit sie sich nicht wie ein Unwetter ausgerechnet über Hannover entlädt. Aber natürlich könnt Ihr sie auch alle erschießen, die ganzen verdammten Chaos-Tag-Besucher.
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