Interview mit Enzo Traverso
aus telegraph 120 | 121
telegraph: Der jährlich erscheinende Verfassungsschutzbericht soll «Ausdruck der Entscheidung des Grundgesetzes für eine wehrhafte Demokratie [sein], die die richtige Konsequenz aus dem Scheitern der Weimarer Republik ist». Darin werden direkte Aktionen gegen Neofaschisten und Antifaschismus als solcher kriminalisiert, weil dieser das kapitalistische System“ bekämpft, um die «angeblich innewohnenden Wurzeln des Faschismus zu beseitigen»1 Ist es möglich Demokrat ohne zugleich Antifaschist zu sein?
Enzo Traverso: Die grundlegende Frage ist, was es heutzutage bedeutet, Antifaschist zu sein. In Deutschland gab nach der Wiedervereinigung eine Ablehnung des Antifaschismus, diese Zurückweisung ging einher mit dem Willen, die Vergangenheit der DDR bewusst wegwischen zu wollen.
Dadurch, dass der Antifaschismus ständig in Zusammenhang mit der DDR gebracht wurde, galt er als DDR-Ideologie und das wiedervereinigte Deutschland konnte und wollte dieses Erbe nicht tragen. Das wiedervereinigte Deutschland sollte einen Teil seines Territoriums und seiner Bevölkerung in ein schon bestehendes Ganzes eingliedern, aber es ging nicht um die Einbeziehung der Geschichte oder des kollektiven Gedächtnisses. Diese Operation konnte nur gelingen, weil der Antifaschismus nach dem Fall der Mauer in eine Staatsdoktrin umgedeutet wurde, die es erlaubte, den Antifaschismus als Tradition zu diskreditieren und nicht mehr als das zu sehen, was er eigentlich in den Augen der Zivilbevölkerung gewesen war: der Kampf eines Teils der deutschen Bevölkerung gegen den Faschismus. Nun galt er als Teil der Ideologie eines verhassten und anfechtbaren Systems, eines Systems das niemand mehr wollte. Die Ausradierung des Antifaschismus fand also statt, und – um Jürgen Habermas zu zitieren (denn manchmal formuliert Habermas gut) – die deutsche Wiedervereinigung geschah unter dem Zeichen des Anti-Antifaschismus. Ich glaube, so sollte man Habermas hier verstehen…
Die Ablehnung des Antifaschismus ist in Deutschland insofern schwierig, als dass sie die einzige Tradition ist, auf der aufbauend die Deutschen eine demokratische Gesellschaft errichten konnten, weil es der Antifaschismus war, der gegen Hitler etc. gekämpft hatte. Diese Tradition zu leugnen, zu verwerfen, auszulöschen oder zu verdrängen ist wirklich sehr problematisch. Und die Verdammung des Antifaschismus nimmt meiner Ansicht nach sehr unterschiedliche Formen an, zum Beispiel die Gedenkfeiern anlässlich des 20. Juli 1944. Es gibt also eine Tradition des Anti-Nazi-Seins, die geehrt und in den gesellschaftlichen Vordergrund gerückt wird: der Widerstand der Militärs, der preußischen Nationalisten, der konservativen Liberalen…
telegraph: Darf man denn hier überhaupt von Antifaschismus sprechen?
Enzo Traverso: Genau darum geht es. Den Antifaschismus ersetzt man heute in Deutschland durch das Attentat vom Juli 1944. Denn man muss den Antifaschismus ja durch irgendetwas ersetzen… und man muss sich auch auf ein anti-Hitlersches Deutschland beziehen können. Aber wenn man sich schon nicht auf antifaschistische Traditionen stützen möchte, was bleibt dann noch übrig? Na ja, der 20. Juli… Also diejenigen, die 1944 versucht haben, das Ganze noch irgendwie zu retten.
Ich glaube, dass die antifaschistische Tradition ins Abseits gerückt werden soll bzw. wird – auch in der Geschichtsschreibung. Wir finden das beispielsweise bei dem verstorbenen Historiker Martin Broszat. Er hatte das Konzept der Resistenz dem Konzept des Widerstandes entgegengesetzt. Unter Resistenz verstand er eine Art Unangepasstheit, Unangemessenheit. Die deutsche Gesellschaft konnte also aufgrund ihres non-konformen Verhaltens gegenüber den NORMEN des Naziregimes in gewisser Weise rehabilitiert werden. Gleichzeitig stellt er den Antifaschismus als Widerstand dar: ein offener, politischer Widerspruch gegenüber dem System mit allem drum und dran… Die Verdammung des Antifaschismus findet schlussendlich unter verschiedenen Formen statt und große Teile der deutschen Intelligenzija haben mittlerweile diese Option angenommen, auch wenn sie sich früher einmal als links bezeichneten.
telegraph: Insbesondere deutsche Historiker scheinen den Schwerpunkt auf die Beschäftigung mit dem Holocaust zu legen und nicht auf die Untersuchung der Ursprünge des Faschismus. Ist es einfacher den Holocaust zu historisieren und dadurch die Verantwortung für den Holocaust in den Zusammenhang einer kleinen Gruppe zu rücken… und so politisch die Symbolik nutzte zu können, wie z.B. die Grünen ein vermeintliches „zweites Auschwitz“ verhindern mussten in Jugoslawien? Auf der anderen Seite scheint es eine Haltung zu geben, die glaubt das Problem des Neofaschismus nur durch Parteiverbote aus der Welt schaffen zu können?
Enzo Traverso: In der heutigen deutschen Historiografie wird das Konzept des Faschismus aus zwei Gründen abgelehnt. Einerseits ist der Begriff des Faschismus sehr stark mit der marxistischen Tradition und dadurch mit der DDR verbunden. Die Ablehnung der DDR seit der Wiedervereinigung geht also einher mit der Ablehnung des Konzepts des Antifaschismus und gleichzeitig mit dem des Faschismus – beiden widerfährt in gewisser Weise das gleiche Schicksal. Andererseits sind viele Historiker zu dem Schluss gekommen, dass der Holocaust ein unwiderrufliches, singuläres Ereignis darstellt und die Definition des Faschismus die Spezifizität des Nationalsozialismus nicht vollständig widerspiegelt. Ich möchte hervorheben, dass nicht alle Geschichtswissenschaftler, die die Terminologie des Faschismus benutzen, den Holocaust in den Mittelpunkt ihrer Forschungen rücken. Allerdings ist es auch richtig, dass man zwar über die Definition des Faschismus herausgehen muss, um den Holocaust analysieren zu können, jedoch wäre die Verwerfung der Definition des Faschismus auch ein historiografischer Rückschritt, denn die Nazizeit – trotz all ihrer Spezifizität – gliederte sich in eine europäische Tendenz ein. Der Faschismus brachte sehr viele Varianten hervor: von Italien über Spanien, von Österreich über Ungarn, von Frankreich über Rumänien, etc. Indem die deutsche Geschichtsschreibung den Begriff des Faschismus verwarf, verkümmerte sie, denn sie schloss von nun an jedweden komparatistischen Ansatz aus. Wir können den Nazismus, seine Entstehung und seine Geschichte nicht verstehen, wenn wir ihn wie ein Phänomen in vitro behandeln, also unabhängig von seinem europäischen Kontext der damaligen Zeit. Es ist paradox, dass einige Historiker, die den Begriff des Faschismus für eine Definition des Nazismus, aufgrund der angeblichen Ungenauigkeit ablehnen, die Terminologie des Totalitarismus akzeptieren, obwohl dieses Konzept den Besonderheiten des Holocaust auch nicht genügend Beachtung schenkt.
Lange wurde die Geschichte des Nationalsozialismus in völliger Ignoranz des Holocausts geschrieben; heutzutage neigen wir eher dazu, eine Holocaust-zentrierte Wahrnehmung zu entwickeln. Wir sollten diese Phase überwinden, um zu einer globalen Geschichte des Nazismus mit all seinen Dimensionen übergehen zu können, u.a. auch unter Berücksichtigung einer seiner essentiellsten, der Ausrottung der Juden. Außerdem sollten wir eine globale Geschichte des Faschismus als ein europäisches Phänomen entwickeln, die den Nazismus einschließt.
telegraph: Welche Bedeutung hat diese Historiographie für die Gegenwart?
Enzo Traverso: Wenn man zum Beispiel in Berlin in eine große Buchhandlung geht, wird man wahrscheinlich nur ein Buch über den europäischen Faschismus finden, nämlich das Werk des polnischen Historikers Jerzy W. Borejsza2.
Es erscheint mir derzeit auch sehr interessant, die westliche und östliche Perspektive in der europäischen Geschichtsschreibung zu vergleichen. Seit dem die beiden politischen Blöcke eine Einheit bilden, beobachte ich in den Ländern des ehemaligen sowjetischen Einflussgebietes eine starke Tendenz hin zu einer Renationalisierung der Erinnerungsgeschichte. In Polen beispielsweise wurde das Institut der Nationalen Erinnerung (Instytut Pamięci Narodowej – Anm. K.M.) gegründet. Dann die ganze Polemik über die Anzahl der europäischen Abgeordneten pro Land: Polen beanspruchte für sich mehr Abgeordnete mit der Begründung, dass es ob seiner tragischen und schmerzhaften Geschichte viele Opfer zu beklagen hatte…
Und dann die Ukraine: dieses Land ist kein Mitglied der Europäischen Union, befindet sich aber in deren geopolitischen Einflussgebiet und stellt dadurch ein sehr sensibles Pflaster zwischen Ost und West dar. Die Ukraine ist innerlich zerrissen. Ihr westlicher Teil fühlt sich sehr stark zur Europäischen Union hingezogen, sein östlicher Teil eher mit Russland verbunden. In eben dieser Ukraine hat das Parlament ein Gesetz verabschiedet, dass die Zwangskollektivierung als Völkermord am ukrainischen Volk einstuft. Vor drei Jahren gab es auch in Estland eine Auseinandersetzung um die kollektive Erinnerung, ich erinnere mich noch gut an die Auseinandersetzungen um das Denkmal des Soldaten der Roten Armee in Tallinn. Für die russische Minderheit repräsentiert diese Statue die Erinnerung an den Großen Vaterländischen Krieg. Für die estnische Mehrheit verkörpert der Soldat die mehrere Jahrzehnte andauernde sowjetische Fremdherrschaft. Im Osten Europas gibt es meiner Ansicht nach also einen Hang zur Renationalisierung der Erinnerungskultur. In diesem Zusammenhang fällt mir auch das Haus des Terrors in Budapest ein, dieses Museum widmet sich fast ausschließlich den Opfern des kommunistischen Nachkriegsregimes.
telegraph: Welche Funktion hat diese Re-Nationalisierung der Erinnerung, wieso kam diese verstärkt nach 1989 insbesondere im Westen zur Geltung?
Enzo Traverso: Ich glaube, es gab nach 1989 ein großes Bedürfnis, sich seiner Geschichte zu bemächtigen, denn die Vergangenheit wurde jahrzehntelang entweder kaschiert oder zu ideologischen, einseitigen Zwecken interpretiert. Hinzu kommt, dass der Fall der Sowjetunion und ihres „Imperiums“ nicht so zu Stande kam, wie man es sich in der Vergangenheit erträumt bzw. erhofft hatte: der Sozialismus mit menschlichem Antlitz, für den 1968 in Prag und 1980 in Polen gekämpft wurde, schien als Perspektive überholt. Was bleibt also noch? Nach dem Ende der sowjetischen Vorherrschaft erstarkt in Osteuropa der Nationalismus. Mir scheint, dass man sich in Westeuropa eher der kollektiven Erinnerung oder der Umdeutung der Geschichte bedient als einem Instrument zur Stärkung der Institutionen. Man muss der Vergangenheit gedenken, um den liberalen Demokratien ein Fundament geben zu können, also letztendlich um der heutigen herrschenden Ordnung eine Basis zu geben.
telegraph: Wie war es möglich, dass der Liberalismus mit dem Ausbruch des Faschismus seinen Niedergang erlebte und dennoch 1989 als einzige Alternative zum real existierenden Sozialismus auferstehen konnte?
Enzo Traverso: Die Krise und der Niedergang des sogenannten real existierenden Sozialismus fiel letztendlich mit dem Ende eines gesamten Zyklus zusammen, dem Zyklus des Kommunismus – wenn wir den Kommunismus nach Eric Hobsbawm in seiner langlebigen Existenz betrachten wollen, darüber spricht er übrigens nicht nur in seinem Buch über das kurze 20. Jahrhundert. Allerdings spielt der Kommunismus nicht nur in seiner Funktion als politisches Regime eine Rolle, denn dieses Regime befand sich schon viel früher in einer Krise. Man kann sagen, dass die Krise 1956 begann: erst in Ungarn, dann in der Tschechoslowakei, schließlich in Polen, usw. Als es dann im Westen zu Protesten und zu großen Krisen, zu Bewegungen voller politischer Forderungen und zu Fieberschüben im Klassenkampf kam, war die UdSSR schon keine Referenz mehr.
1968 protestierte man sogar gegen den Einmarsch der sowjetischen Truppen in der Tschechoslowakei. Und 1968 in Frankreich, 1969 in Italien, zu Zeiten Francos und der demokratischen Umgestaltung in Spanien oder während der Revolution in Portugal bezog sich niemand auf den Mythos der Sowjetunion. Der Kommunismus existierte allerdings weiterhin als Utopie, als Hoffnung, als soziale und politische Alternative, als fortbestehende, globale und gesellschaftliche Alternative. Der Kommunismus als solcher hatte also seinen Zyklus noch nicht voll ausgeschöpft, er lebt weiter ohne sich länger ausschließlich mit dem sowjetischen System zu identifizieren. 1989 ist der Zyklus allerdings beendet. Als das sowjetische System und alle von ihm dominierten Länder 1989 zusammenbrechen, existiert plötzlich auch die Utopie des Sozialismus nicht mehr. Welche Antwort soll man künftig also geben? Die des Nationalismus, die einer Art Renationalisierung… Vom heutigen Standpunkt aus betrachtet, ist das die Erklärung, die ich geben kann.
Das Fehlen von Alternativen, die du in deiner Frage angesprochen hast, drückt sich ganz klar im Bereich der kollektiven Erinnerung aus, besonders bezogen auf die Erinnerung an das 20. Jahrhundert und den Platz, den diese Erinnerung im öffentlichen Raum einnimmt. Die Figur des Opfers wird stilisiert und die Erinnerung der Kämpfer oder gar der Besiegten, also derer die im Kampf gefallen sind, wird verdrängt. Fast so, also könnte man mit der Verdrängung des Antifaschismus aufhören, den Widerstandskämpfern, der Befreiung etc. zu gedenken… man gedenkt heute der Opfer der Völkermorde. Das begann auch schon in Westeuropa.
Die Erinnerung an Auschwitz verdrängte die Erinnerung an die Antifaschisten, obwohl während der Zeit des Algerienkrieges die Erinnerung an Auschwitz kaum eine Rolle spielte. Damals war diese Erinnerung noch nicht institutionalisiert oder museal. Es war fast eine unterirdische, verschleierte Erinnerung, die nicht im öffentlichen Raum stattfand, gleichwohl jedoch in einigen gesellschaftlichen Sphären und politischen Bewegungen unterschiedlicher Couleur zelebriert wurde. Diese Leute pflegten insbesondere intensiven Umgang mit der Arbeiterklasse. Während des vorhin bereits erwähnten Krieges in Algerien diente die Erinnerung an die Nazizeit und an Auschwitz vor allem dazu, den Kampf gegen den Kolonialismus zu stimulieren und die Kämpfer zu ermutigen, zu inspirieren und zu stärken. Heute existiert diese Verbindung nicht mehr. Die Erinnerung an Auschwitz, also an die Opfer der Nazizeit, steht der Erinnerung an den Antifaschismus in gewissem Sinne gegenüber.
telegraph: Im Zusammenhang mit deinem Hinweis auf die koloniale Erfahrung, wieso kam es zu einen Bruch in dem internationalen Klassenbewusstsein oder der Solidarität mit anti-kolonialen Kämpfen? Früher bemühte man sich die Kämpfe in den Metropolen als Ausdruck des gleichen Kampfes wie in Vietnam zu verstehen. Warum gibt es heute kein gemeinsames linkes Projekt der Emanzipation in Europa und der Peripherie?
Enzo Traverso: Früher, als ich jung war (lacht), sprachen wir von den drei Sektoren der Weltrevolution; d.h. es gab die antikapitalistische Revolution im Westen, die antibürokratische Revolution im Osten und die antiimperialistische Revolution im Süden. 1968 hatten wir beispielsweise den Eindruck, dass sich der nationale Befreiungskampf in Vietnam mit den Mai-Kämpfen in Frankreich und ihren Auswirkungen in Westeuropa kreuzen könnte, dann noch auf die Tschechoslowakei übergreifen würde… Wir dachten, auf dieser Welt könnte es eine Konvergenz zwischen all diesen Kämpfen und Bewegungen geben. Heutzutage befinden wir uns allerdings in einem ganz anderen Kontext.
telegraph: Warum…?
Enzo Traverso: Ich habe den Eindruck, dass wir in diesem Teil der Welt mit den verschiedenen Langzeitwirkungen des vorhin angesprochenen Prozesses umgehen müssen. Die arabische Welt befindet sich in einer ganz anderen Situation: der Widerstand gegen die hier herrschenden, verschiedenen Formen der Dominanz (Oligarchie und Königtum: lokale Diktaturen, ökonomische und militärische Fremdherrschaft seitens westlicher Großmächte,…) spiegelt sich weder im Nationalismus, beispielsweise in Form des Panarabismus, noch im laizistischen Sozialismus, sondern im Islamismus wider. Das stellt eine Art Regression dar, die mit dem Widererstarken des Nationalismus in Osteuropa zu vergleichen wäre, der ja durch das Verwerfen des Sozialismus und des Antifaschismus bedingt ist. Aber in beiden Fällen ist die Entwicklung auch die Summe einer Reihe von Niederlagen, begangener Fehler, falscher Beurteilungen, falscher Perspektiven und Projekte…
telegraph: Eine Regression ist insbesondere in der Gleichsetzung von Stalinismus und Faschismus sichtbar, der die „alternativlose“ Reinstallation der bürgerlichen Demokratien nach 1989 zu legitimieren versucht. Kann man sagen, dass die Debatte um den Stalinismus parallel mit der um Islamismus verläuft?
Enzo Traverso: Der Begriff des Totalitarismus wird eigentlich seit den 1930er Jahren, aber besonders seit der Unterzeichnung des Hitler-Stalin-Pakts, fast ausschließlich in einem ideologischen und auch apologetischen Zusammenhang benutzt. Diese Terminologie dient nicht nur zur Kritik an einem bestimmten Regime, sondern man bedient sich ihrer besonders dann, wenn man eine andere Gesellschaftsordnung, eine Politik, ein politisches System rechtfertigen möchte. Während des Kalten Krieges wurde der Begriff Totalitarismus von der sogenannten „Freien Welt“, also überwiegend von den USA und ihren Verbündeten, benutzt, um ihre eigene Politik der Dominanz und Vorherrschaft zu legitimieren. In diesem Zusammenhang diente der Totalitarismus-Begriff also genau dazu, Faschismus und Kommunismus auf eine Stufe zu stellen, um damit die liberale Demokratie legitimieren zu können. Heute passiert dasselbe mit dem Islamismus. Man präsentiert den politischen Islamismus als das neue Gesicht des Totalitarismus des 21. Jahrhunderts.
Wir haben es also wieder mit einer ideologischen und politischen Nutzung des Begriffes zu tun, um beispielsweise die Außenpolitik der USA in Afghanistan oder im Irak oder in der arabischen Welt zu legitimieren. Irgendwie gab es diese Ausnutzung des Begriffes schon immer, allerdings muss man auch unterstreichen, dass es eine alternative politische Nutzung des Totalitarismus-Konzeptes gibt. Es handelt sich nicht um eine nicht-apologetische Nutzung einer dominanten Weltordnung, sondern um eine kritische Nutzung: zum Beispiel die Nutzung des Konzepts durch die Dissidenten in Osteuropa zu Zeiten des Kalten Krieges, die Interpretation durch die Marxisten in der westlichen Welt – beispielsweise Marcuse in den USA.
Ich denke, wir sollten diese linke Tradition der Besetzung des Totalitarismus wieder aufnehmen und das Monopol des Konzepts nicht der konservativen Rechten und dem Neoliberalismus überlassen. Es gibt auch die Möglichkeit einer anti-totalitären Kritik, beispielsweise, im Namen des Sozialismus mit menschlichem Antlitz, im Namen des demokratischen Sozialismus… und nicht unbedingt im Namen des Neoliberalismus oder im Namen der politischen Vorherrschaft der USA.
telegraph: Was sind die Ursprünge des Faschismus? Welchen Zusammenhang hat dieser mit Liberalismus oder der bürgerlichen Gesellschaft?
Enzo Traverso: Oh, in dieser Frage stecken ziemlich viele unterschiedliche Aspekte, wir müssen sie vielleicht auseinandernehmen, um zu versuchen zu antworten. Also, der Faschismus hat, um an die Macht zu kommen, den Liberalismus zerstört. Natürlich hat der Faschismus zuerst die Arbeiterbewegung, die Linke, die Gewerkschaften, den Sozialismus und den Kommunismus zerschlagen, aber eben auch den Liberalismus. Geschichtlich war es so, dass der Faschismus in mehreren Ländern – von Italien nach Deutschland – an die Macht gekommen ist, weil er bestehende Doppeldeutigkeiten, Ängste und sogar die Komplizenschaft der liberalen Eliten ausnutzte. Einmal an der Macht, haben die Faschisten allerdings die Demokratie zerstört und auch den Liberalismus ausgelöscht.
Während der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert galt der Liberalismus allgemein als ein politisches System, eine Ideologie und eine Denkrichtung, die der Vergangenheit angehörte und keine Zukunft hätte. Man dachte damals, dass Faschismus, Kommunismus und die Krise des Kapitalismus das Ende einer Epoche eingeläutet hätten, das Ende einer historischen Erfahrung – der Parabel des Liberalismus. Man dachte, der Liberalismus wäre ein Phänomen des 19. Jahrhunderts ohne Zukunftschancen. Auf eine gewisse Art und Weise, da stimme ich Hobsbawm zu, hat der Kommunismus die Demokratie gerettet, denn dank des Kommunismus konnten der Faschismus und die Gefahren, die er darstellte, besiegt werden. Dem ungeachtet hat der Kommunismus den Kapitalismus dazu gezwungen, sich zu verändern. In der letzten Konsequenz kam es zu einer Renaissance des Kapitalismus.
Nach der Beseitigung der Krise des Kapitalismus erlebte der Liberalismus – wenn man so will – eine zweite Blütezeit. Auf jeden Fall hat er eine Vitalität, Energie und Dynamik unter Beweis gestellt, die ihm vor dem Zweiten Weltkrieg niemand zugestanden hätte. Dieser Moment der neuen Dynamik entwickelte sich zeitgleich mit dem Ende des Zyklus des Kommunismus, über den ich vorhin schon sprach.
Der Fall der Berliner Mauer 1989 kongruierte dementsprechend mit der Proliferation eines Mythos über das Ende der Geschichte: dem Liberalismus steht keine mögliche Alternative mehr gegenüber, der Liberalismus stellt sich als unüberwindlichen Horizont der Geschichte dar, etc. Innerhalb dieses ideologischen Diskurses tun sich Widersprüche auf, zeigen sich Doppeldeutigkeiten und es gilt zu versuchen, diesen Diskurs zu kritisieren und zu dekonstruieren. In diesem Zusammenhang möchte ich an etwas Grundlegendes erinnern: diejenige Demokratie eines Landes – sofern es den Faschismus erlebt hat, die ihre antifaschistische Erinnerung nicht hochhält, also nicht des Kampfes gegen den Faschismus erinnert, kann in meinen Augen nur eine schwache, fragile Demokratie sein, die nicht in der Lage ist, sich an ihr eigenes historisches Erleben der Zerstörung zu erinnern.
Ich glaube, dass man heutzutage Antifaschist sein muss und das antifaschistische Erbe hochhalten sollte, wenn man die Demokratie verteidigen möchte. Tut man das nicht, dann wird in den Ländern, die eine faschistische Vergangenheit besitzen, die Demokratie schwach und zerbrechlich sein. Gleichzeitig sollte man allerdings vermeiden, sich mit Geistern zu schlagen bzw. gegen Windmühlen zu kämpfen. Heutzutage gibt es weder in Europa noch in der westlichen Welt noch außerhalb Europas eine faschistische Gefahr. Wenn wir heute Faschismus als Ideologie, als politisches System, als ein Regime mit diktatorischen, totalitären Elementen und Konzentrationslagern definieren, so wie das in Europa in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts der Fall war, dann ist der Faschismus aktuell kein zentrales Problem unserer Gesellschaft.
Heutzutage bedienen sich alle Formen von Autoritarismus, Herrschaft und Diktatur eines demokratischen und liberalen Deckmantels. Einige Regimes putschen sich an die Macht, aber sie benötigen dennoch eine demokratische Fassade, die allerdings ein Schein bleibt, da der Inhalt überhaupt nicht demokratisch ist: man organisiert Wahlen, die jedoch die reinste Farce sind. Am Beispiel Honduras wird das sehr gut deutlich. Es gab einen Putsch, der amtierende und gewählte Präsident wird abgesetzt und die neuen Machthaber organisieren eine Wahl, um ihr demokratisches Anliegen zu verdeutlichen. In einer ganzen Reihe anderer Länder gibt es höchst undemokratische Regimes, aber durch Wahlfälschungen stellen sie sich als demokratisches System dar.
Meiner Ansicht nach haben wir es heutzutage weniger mit der Gefahr einer möglichen Restauration einer faschistischen Gewaltherrschaft zu tun, als vielmehr mit der drohenden Gefahr der Delegitimation der Demokratie. Immer mehr Staaten bezeichnen sich als demokratisch, obwohl in ihrem inneren Gewalt und Unterdrückungen herrschen. Überall bekennt man sich zur Demokratie, auch in undemokratischen Regimes.
telegraph: Ist der bürgerliche Staat zu einer inhaltlichen Auseinadersetzung mit dem Problem des Neofaschismus nicht in der Lage, im Sinne der Bekämpfung seiner strukturellen Ursachen?
Enzo Traverso: Es entspricht meiner Überzeugung, dass heutzutage jedwede autoritären Tendenzen – Einschränkungen der individuellen Freiheit, gewisse Einschränkungen der Demokratie und des Pluralismus an sich – unter dem Deckmantel der Demokratie und überall in der Europäischen Union stattfinden… Wenn die Türkei eine Chance haben möchte, in die EU einzutreten, dann braucht es natürlich einer Demokratisierung ihrer Institutionen, ihrer Verfassung und ihrer Politik. Außerdem bedarf es Konzessionen im Bereich der Menschenrechte, der Rechte von Minderheiten, der Anerkennung der Verbrechen des türkischen Nationalismus, etc. … Das ist unumgänglich.
Ansonsten sehe ich keine faschistische Gefahr über Europa schweben. Allerdings drückt sich der Faschismus unter anderen Formen aus… Es handelt sich meiner Ansicht nach um ein unterschwelliges Erbe, das unter Umständen beim Hervortreten nationalistischer Bewegungen in Osteuropa wieder auftauchen könnte. Dieses Erbe drückt sich in Frankreich in dieser Mischung aus Autorität, Bonapartismus, Populismus und Neorassismus aus. In Italien zeigt sich das faschistische Erbe im Berlusconi-Style, hin zu einer charismatischen Schwerpunktverschiebung der Politik, hin zu dieser Mischung aus Männlichkeitswahn, Nationalismus, Populismus und Missachtung der Demokratie. Aber auch Berlusconi möchte den Rechtsstaat im Namen der Demokratie zerstören. Darin liegt das faschistische Element… Berlusconi tritt ein für eine plebiszitäre Demokratie ein; gleichermaßen stellte der Faschismus historisch gesehen keine Rückkehr zum Ancien Régime dar, sondern verstand sich als eine die Massen mobilisierende Diktatur.
telegraph: …aber geht denn keine Gefahr z. B. von der NPD aus?
Enzo Traverso: Überall in Europa gibt es neofaschistische Bewegungen, allerdings sind sie nicht in der Lage, die Stabilität der jeweiligen politischen Systeme zu bedrohen.
telegraph: In Polen wurde der ehemalige Neonazi Roman Giertych, Vize-Premierminister und der Neofaschist Piotr Farfał ist bis heute Intendant des staatlichen Fernsehens TVP…
Enzo Traverso: Wenn wir Polen als Beispiel nehmen, dann kommen die faschistischen Tendenzen hier vor allem über die Gebrüder Kaczyński. Es gibt jedoch keine ernstzunehmende Bewegung, die in der Lage wäre, die Macht zu übernehmen, eine Diktatur zu errichten und Polens Austritt aus der EU zu erreichen. Und in Frankreich, zum Beispiel, laufen diese faschistischen Tendenzen bzw. das faschistische Erbe über eine Marginalisierung des Front National und werden derzeit am besten durch den Präsidenten Sarkozy verkörpert. Das autoritäre Abdriften Italiens ging einher mit der Wandlung einer ehemals neo- bzw. postfaschistischen Partei und schließlich mit ihrer Selbstauflösung in der Bewegung der nationalen Rechten. Gianfranco Fini, ehemaliger Parteivorsitzender einer postfaschistischen Partei ist heute einer der politischen Hauptgegner Berlusconis… man muss die Dinge also genau betrachten.
Wenn wir den Faschismus als das Regime definieren, das er in den 1930er Jahren war, dann gibt es mittelfristig in Europa keine Gefahr eines neuen Faschismus. Wenn allerdings zu einer Wirtschaftskrise kommt… na ja, langfristig kann man nichts vorhersehen.
telegraph: Wenn wir aber an Abu-Ghraib, Guantánamo denken … oder uns an die stay–behind Armee «Gladio» der NATO erinnern, die terroristische Anschläge gegen Zivilisten wie die in Bologna 1980 oder „Piazza Fontana“ im Winter 1969 durchgeführt hat?
Enzo Traverso: Sicher, das steht alles miteinander im Zusammenhang. Die Infiltrierung des Staatsapparates durch neofaschistische Strömungen, die wiederum mit US-amerikanischen Geheimdiensten in Kontakt stehen, und die sich daraus ergebende Komplizenschaft. Das Ganze muss man natürlich auch im Kontext des Kalten Krieges betrachten, ein Kontext, der heutzutage nicht mehr existent ist. Damals gab es von Seiten der US-Amerikaner Überlegungen, in einigen westeuropäischen Staaten einen Putsch zu verüben, um unter Umständen und in Absprache mit der bürgerlichen Rechten eine rechtsextreme Regierung einzusetzen zu können. Das war beispielsweise in Italien zeitweise eine durchaus denkbare Option, denn in Italien konnten die Kommunisten bei Wahlen 30% der Stimmen auf sich vereinigen… Die Idee des rechtsextremen Putsches wurde nie konkret geplant, es handelte sich aber durchaus um eine nicht auszuschließende Möglichkeit, der Lage Herr zu werden. Na ja, aber der Kontext war wie gesagt damals ein anderer.
telegraph: Was sind die Faktoren die Faschismus begünstigen?
Enzo Traverso: Historisch gesehen handelt es sich beim Faschismus um das Produkt einer einzigartigen Konstellation, bei der verschiedene Elemente ineinander greifen: der Zusammenbruch der politischen, liberalen Ordnung vor 1914, eine globale Wirtschaftskrise, der Aufstieg des radikalen Nationalismus und die Militarisierung der Politik in den vom Ersten Weltkrieg traumatisierten europäischen Gesellschaftsordnungen. Hinzukommt die Oktoberrevolution von 1917, die den Kommunismus als eine mögliche Alternative erscheinen ließ und die gleichzeitig die alten herrschenden Klassen in einem sehr reaktionären Sinn radikalisierte. Heutzutage gibt es eine vergleichbare Konstellation nicht, deshalb erscheint eine Wiederholung des Faschismus in seiner historischen Form auch fast unmöglich. Gleichzeitig können wir derzeit andere Entwicklungen beobachten, in denen sich autoritäre Tendenzen – Giorgio Agamben bezeichnet das als permanenten Ausnahmezustand – und neue Formen des Neoliberalismus bzw. einer Art Liberaldarwinismus zeigen. Das koloniale Erbe war eine der Prämissen des Faschismus und bildet nun den Hintergrund für fremdenfeindliche Tendenzen in Europa. All das setzt indes keine Abschaffung demokratischer Formen voraus.
telegraph: Welche Rolle spielen dabei die Intellektuellen?
Enzo Traverso: Wenn wir versuchen würden, den Antifaschismus zu historisieren, dann könnte man sagen, dass der Antifaschismus 1945 so etwas wie ein Regenschirm oder Dach war, unter dem sich alle Gegner des Nazismus und des Faschismus vereinigten. Eine Bewegung, in der sich alle seine Gegner verbünden, aber die die verschiedenste Geister enthält. Im italienischen oder deutschen Antifaschismus haben wir es selbstverständlich mit Kommunisten zu tun, wir finden aber auch Christen, Linksliberale, Anarchisten, Sozialisten… Kurzum, es finden sich in dieser antifaschistischen Bewegung sehr unterschiedliche Strömungen wieder und auch viele Intellektuelle, von denen einige sogar anti-kommunistische Ansichten vertreten bzw. der Kommunistischen Partei sehr kritisch gegenüberstehen. Dennoch ist der Antifaschismus das Bindeglied, denn der Kampf gegen den Faschismus ist eine von allen anerkannten Priorität. Dieser Antifaschismus gerät 1939 in eine Krise, allerdings kann sich das Bündnis nach 1941 wieder stabilisieren.
Nach 1945 fiel das verbindende Element des Kampfes gegen den Faschismus weg und das antifaschistische Bündnis, diese bunt zusammengewürfelte Koalition verschiedener Kräfte, löst sich auf und der Antifaschismus verliert seine Vormachtstellung innerhalb der europäischen Kultur.
Der Antifaschismus teilt sich. Folgende seiner ehemaligen Bestandteile lassen die antifaschistische Tradition fallen: Liberale, Antikommunisten, sogar Sozialisten, Sozialliberale, Sozialdemokraten. Sie alle geben sogar das Konzept des Antifaschismus auf, verleugnen es, lehnen es ab und nehmen das Konzept des Totalitarismus an. Sie nennen sich nicht mehr antifaschistisch, sondern anti-totalitär – was so viel heißt wie antikommunistisch. Der Antifaschismus besteht nur noch als Ideologie, als Erinnerung und als Erbe fort, und in diesem Sinne bekennen sich die kommunistischen Linken und einige Linksextreme (u.a. häretische Kommunisten, die es während des Kalten Krieges ablehnen, sich zur sogenannten „freien Welt“, also zu den US-Amerikanern, zuordnen zu lassen) zu ihm und bezeichnen sich weiterhin als Antifaschisten.
In Deutschland gibt es zum Beispiel im Osten und im Westen Antifaschisten und es gibt die Anti-Totalitären, die Anti-Kommunisten sind, aber sich nicht mehr als Antifaschisten bezeichnen. Es gibt auch Ausnahmen: nach mehr als 20 Jahren Faschismus kommt es in Italien 1946 zur Gründung einer Republik und der Antifaschismus bleibt für alle demokratischen Kräfte, die sich zur Verfassung bekennen, ein kollektives Element – auch während des Kalten Krieges. In Italien bezeichnen sich Christdemokraten, Linke und bürgerliche Rechte als Antifaschisten. Die Krise des italienischen Antifaschismus kommt viel später, aber Italien stellt diesbezüglich sowieso eine Ausnahme dar.
Dann gibt es noch ein anderes Problem, nämlich die Frage, wie der Antifaschismus über Europa hinaus fortbestehen bzw. sich sogar ausweiten kann. Natürlich kann man nach dem Zweiten Weltkrieg in Lateinamerika Antifaschist sein, aber es steckt etwas anderes dahinter: man kämpft dort gegen herrschende Militärdiktaturen. Der lateinamerikanische Antifaschismus findet schließlich eine Verbindung zu den sogenannten lateinamerikanischen Revolutionen, die nach der in Kuba 1958-1959 stattfinden…
Aber das ist wieder ein anderes Feld und man sollte immer den jeweiligen Kontext im Kopf haben. Zur damaligen Zeit widerfährt dem Totalitarismus-Begriff auch in Osteuropa eine Metamorphose, obgleich im sowjetischen Block der Antifaschismus eine zentrale, ideologisierte Rolle spielt und auch durch die herrschenden Regimes verteidigt wird. Die Notion des Totalitarismus wird von den Dissidenten benutzt und zwar von den Dissidenten, die nicht von Washington oder London manipuliert wurden, Dissidenten für die das Lesen von Orwell ein sehr antikonformistischer und das Regime herausfordernder Akt war. Also wenn man heutzutage in Polen Orwell liest… (lacht)
telegraph: Das erinnert mich auch an das wiedervereinigte Deutschland. Der telgraph-Autor und Pfarrer Hans-Jochen Vogel setzte sich in der DDR für einen Studenten ein, bei dem das Buch „1984“ gefunden wurde und damals verboten war… Bezeichnenderweise wurden seine Solidaritätsbriefe von Steffen Heitmann, dem damaligen Kirchen-Justiziar und späteren Wunschkandidat Kohls für das Amt des Bundespräsidenten abgefangen. Nach 1989 wurde dieser zum selbsternannten Enttabuisierer und Vorkämpfer gegen den Totalitarismus … Wie war es möglich dass der Liberalismus mit dem Ausbruch des Faschismus seinen Niedergang erlebte und dennoch 1989 als einzige Alternative zum real existierenden Sozialismus auferstehen konnte?
Enzo Traverso: Ich erinnere mich noch sehr gut an diese Zeit und ich verfolgte die Ereignisse 1989 mit sehr viel Interesse und Hoffnung. Als in Berlin die Mauer fiel, traten alle ostdeutschen Kulturschaffenden, Schriftsteller, Intellektuelle und Dissidenten in Erscheinung. Aber nicht etwa, um in Westberlin Bananen zu kaufen, sondern um eine sozialistische und demokratische Gesellschaft aufzubauen. Eine auf dem antifaschistischen Erbe aufbauende Gesellschaft, die weder stalinistisch noch kapitalistisch sein sollte. Es gab diese Hoffnung und sie wurde sogar von einigen Westdeutschen unterstützt. Günther Grass schrieb 1989 zum Beispiel einen Artikel gegen die Wiedervereinigung. Ja, es gab einen Moment lang diese Hoffnung…
Die DDR, die auf ihren eigenen Füßen steht und nicht mehr durch die UdSSR gelenkt wird, ein Land, das seine Zukunft im Austausch mit Westdeutschland gestalten möchte – denn niemand wollte mehr diese Mauer. Alle wollen reisen, sich frei bewegen, aber gleichzeitig die Erfahrung einer anderen Gesellschaft leben, einer Gesellschaft, die weder stalinistische sein sollte noch eine Kopie des BRD-Kapitalismus. Leider hat die Hoffnung nur 6 Monate angedauert. Danach setzte sich die Dampfwalze in Bewegung, die Tendenz war zu stark. Rückblickend kann man sagen, dass es sich um ein schönes Projekt gehandelt hat, allerdings fehlte es ihm an Zugkraft und an einer soliden Basis.
Es gab Massenbewegungen und –Demonstrationen, um die Freiheit einzufordern, aber die Situation in Deutschland 1989 ist nicht mit der Lage Polens 1980 zu vergleichen. Es handelt sich mitnichten um eine soziale, strukturierte Protestbewegung mit einer klaren Identität und erstreitbaren Forderungen. In der ehemaligen DDR mobilisierte sich die öffentliche Meinung, die sehr leicht zu manipulieren ist und was ja dann auch der Fall war.
telegraph: Das war wohl auch das Problem in der DDR während der Wahlen an 18. März 1990 als ostdeutsche Politiker wie Ministerpräsident Lothar de Maizière, die bereits auf Gehaltslisten der westdeutschen CDU standen mit westdeutschen Ressourcen Wahlkampf in einem noch-souveränen Staat machten…
Enzo Traverso: Ja, allerdings gab es auch innerhalb der osteuropäischen Bewegungen 1989 enorme Unterschiede. Komisch, man sagt immer „Osteuropa“ und benutzt damit weiterhin die Kategorisierungen des Kalten Krieges, dabei könnte man doch auch Mitteleuropa sagen… Also gut, wenn wir an Ostdeutschland 1953 denken oder an Budapest 1956 oder an die Tschechoslowakei 1968 oder an 1980-1981 in Polen, dann ging es immer um die sich selbst organisierende Zivilgesellschaft; in Polen hat sich sogar eine Art Parallelgesellschaft errichtet. Es bedurfte einer militärischen Niederschlagung, um die sich selbstverwaltende Gesellschaft wieder unter Kontrolle zu bringen. Darüber wurde 1968-1969 in Westeuropa viel diskutiert und es gab ein Strohfeuer…
telegraph: Einer der maßgeblichen Autoren des Arbeiter-Selbstverwaltungsprojektes des linken Flügels der Solidarnosc Zbyszek Kowalewski würde zu 1989 wohl sagen, dass das der Anfang vom Ende war…
Enzo Traverso: Dennoch ist Polen Anfang der 1980er Jahre eine sehr gutes Beispiel für die Selbstverwaltung von Gesellschaften, nirgendwo sonst kann man es historisch so gut untersuchen. 1989 gab es diese Versuche in keinem einzigen osteuropäischen Land.
Ich glaube, wir sollten trotzdem nachdenken… Ich glaube, dass die Geschichte des gesamten 20. Jahrhunderts von einer Utopie bestimmt war: die Utopie des Kommunismus als einer anderen Gesellschaftsordnung. Ich rede nicht von Stalin, sondern vom Kommunismus als Utopie der Freiheit und der sozialen Gerechtigkeit. Diese Utopie durchzog das 20. Jahrhundert, aber 1989 war sie aufgebraucht, hatte sie keine Antriebskraft mehr und hatte nichts mehr vorzuschlagen. Andererseits haben uns die Ereignisse von 1989 gezeigt, welche unglaubliche Kapazität im Kapitalismus steckt, um die Leute zum Träumen zu bringen. Wie soll man das sagen? Der Kapitalismus verfügt über ein Potential an Durchschlagskraft und über eine unvorstellbare Hegemonie über die kollektive Vorstellungswelt, derer man bis dato nicht in diesem Ausmaß gewahr geworden war. Man war sich dessen einfach nicht bewusst gewesen… Übrigens ging man immer während des gesamten 20. Jahrhunderts davon aus, dass die Restauration des Kapitalismus in der Sowjetunion mit einem Bürgerkrieg einhergehen müsse. Denn man hatte ja die Epoche von 1914 bis 1945 im Bewusstsein.
Osteuropa war ursprünglich ebenfalls nicht kapitalistisch und auch hier ging man falsch in der Annahme, dass die Wiedereinführung und Restauration des Kapitalismus zwangsläufig durch einen Bürgerkrieg durchzuführen sei… Vielleicht kann ein Verwaltungssektor zum Kapitalismus konvertiert werden, denn das ist ja letztendlich überall auch so von statten gegangen – unter mehr oder weniger kriminellen und mafiaähnlichen Umständen. Dennoch gab es post-kapitalistische soziale Errungenschaften, die erst zerstört werden mussten, um den Kapitalismus wieder einzuführen. Und es ist dem Kapitalismus doch tatsächlich gelungen, den Menschen glauben zu machen, er wäre ein Allheilmittel, wäre Garantie für Wohlergehen, Reichtum, Aufschwung und Prosperität für jeden einzelnen, etc. Der Kapitalismus hat es wirklich geschafft. Von dieser Sachlage müssen wir ausgehen. Der Kapitalismus verfügt über eine extraordinäre Stärke… Wenn wir die Revolution des 21. Jahrhunderts als soziale Umgestaltung denken, dann erweist sich das als schwieriger als ursprünglich angenommen. Außerdem müssen die Gedanken an eine Transformation vom Infrage stellen der zu Zeiten des Europäischen Bürgerkrieges geltenden politisch-militärischen Paradigmen bestimmt sein.
Zwischen 1917 und 1980 glaubten wir, dass das Denken der Revolution den Aufstand vorbereitete (lacht), so nach bolschewistischen Schemata… Der marxistische Gedanke des 20. Jahrhunderts ist ein Gedanke der Revolution als ein Kraftakt, als eine Militarisierung der Politik, als Bewaffnung… Natürlich sollten wir heutzutage in anderen Kategorien denken.
telegraph: In ihrem Buch „Im Bann der Gewalt“ bezeichnen Sie die Periode zwischen 1914-1945 als „Europäischen Bürgerkrieg“. Was meinen Sie mit diesem Begriff? Was bedeutet dieser Begriff für die Gegenwart?
Enzo Traverso: Ich habe das Konzept des Europäischen Bürgerkriegs unter einer historischen Perspektive entwickelt und ich benutze diesen Begriff in einem historiografischen Kontext. Für mich steht der Europäische Bürgerkrieg für die Krise in Europa zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg, also für die Epoche zwischen 1914 und 1945. Ich weiß natürlich, dass der konservative, reaktionäre Historiker Ernst Nolte ein Buch mit dem Titel „Der europäische Bürgerkrieg“ geschrieben hat, jedoch haben wir sehr unterschiedliche Auffassungen, was das Konzept des Bürgerkrieges angeht. Laut Nolte hat die Oktoberrevolution diesen Europäischen Bürgerkrieg verursacht; der Kommunismus hat also die Wurzeln des Totalitarismus gelegt. Der Krieg ist für ihn eine logische Konsequenz dieser Entwicklung und letztendlich stellen die Verbrechen des Naziregimes nur eine Antwort auf die ursprünglichen Verbrechen des Kommunismus dar.
Das entspricht natürlich überhaupt nicht meiner Vision der Dinge. Ich denke, dass der Europäische Bürgerkrieg aus dem Zusammenbruch der europäischen Ordnung im Jahr 1914 entspringt. Diese Krise verschärfte sich bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges zusehends und konnte letztendlich erst nach 1945 überwunden werden. Ich bin ja nicht der erste, der die Terminologie des europäischen Bürgerkrieges benutzt – und Nolte war es übrigens auch nicht. Ursprünglich kam dieses Konzept zwischen den Weltkriegen auf und wurde sowohl im linken als auch im rechten politischen Spektrum benutzt. Und es gibt immer noch mehrere Gründe für die Anwendung des Begriffs…
Der Erste Weltkrieg löst europaweit einige Bürgerkriege aus und führt in der Konsequenz zum Ausbruch des spanischen Bürgerkriegs in den 1930er Jahren. Letzterer verfügt allerdings auch über eine europäische Dimension: einerseits die Intervention der Faschisten, der Nazis und der Salazaristen an der Seite Francos, andererseits die Unterstützung der Republikaner durch die internationalen Brigaden. Der Zweite Weltkrieg wird schlussendlich zu einer Art apokalyptischer Konfrontation zwischen dem Faschismus auf der einen Seite und einem Bündnis aus Kommunismus und liberaler Demokratie auf der anderen Seite; und nach dem Ende dieses Krieges finden europaweit Kriege zwischen Kollaborateuren und Widerstandskämpfern statt. Hier haben wir es also mit Bürgerkriegen zu tun.
Ich glaube wirklich, dass wir von einem Europäischen Bürgerkrieg sprechen können, denn die Krise zwischen den Weltkriegen mischt Klassenkampf, ideologischen Krieg, politischen Krieg und einige sprechen sogar von einem Konflikt der Weltanschauungen. Zu dieser Zeit wurden zwischenstaatliche Kriege von länderübergreifenden ideologischen Konflikten transzendiert. Außerdem haben wir es mit Kriegen zu tun, die – wie alle totalen Kriege des 20. Jahrhunderts – keinen Unterschied mehr machen zwischen Kämpfern und Zivilisten. Die Zivilgesellschaften in ihrer Gesamtheit sind stark vom Krieg betroffen. Unter diesem Gesichtspunkt können wir also durchaus von einem Bürgerkrieg sprechen, zumal diese bewaffneten Konflikte nicht nur zwischen zwei Staaten stattfinden, sondern Ländergrenzen, Revolutionen, Konterrevolutionen und Völkermorde überschreiten. Alles ist miteinander verstrickt.
Es ist ja so, dass diese Terminologie die europäische Krise als Ganzes betrachtet. Allerdings gibt es ein Land, das dieser Notion von Bürgerkrieg ein bisschen widerspricht, selbst wenn es sich im Kern des Konflikts befand. Die Rede ist selbstverständlich von Polen. Einerseits haben die Nazis nicht versucht – oder wollten es nicht versuchen, hier einen polnischen Kollaborationsstaat zu installieren und so war Polen in seiner Gesamtheit gegen die Nazis. Doch auch in Polen gab es große Auseinandersetzungen zwischen nationalistischen Widerstandskämpfern und dem kommunistischen Widerstand; alle Bedingungen für einen Bürgerkrieg waren vorhanden, allerdings kam es nie zu einem offenen Konflikt. In diesem, historischen Sinn spreche ich vom Europäischen Bürgerkrieg. Diese Notion basiert jedoch auch auf anderen, erweiternden Kategorien wie Klassenkampf, Revolutionen, doppelte Exekutive… andere Traditionen. Allerdings wäre es wirklich lächerlich (lacht), heutzutage zu behaupten, dass Bürgerkriege auf der einseitigen Ausrufung eines solchen basieren könnten… so als ob Al-Qaida als einzige in einen Bürgerkrieg verwickelt wäre, weil sie ihn ausgerufen hat und ihn kämpft.
Éric Hazan spricht in seinem bei La Fabrique erschienenen Buch ebenfalls vom Bürgerkrieg und er benutzt diesen Begriff als Metapher für eine ganze Reihe von in den europäischen Gesellschaftsordnungen bestehenden Konflikten. Auf Frankreich bezogen verwendet er den Begriff des Bürgerkrieges, um die Revolten in den Banlieus (Vorstädten) 2005 zu beschreiben. Für ihn sind sie Quellen für Aufstände und Revolten, die weitergehende Bewegungen auslösen könnten und die man dann als Bürgerkrieg bezeichnen könnte. Bei diesen Revolten handelt es sich also in gewisser Weise um einen Aufruf zur Rebellion, zum allgemeinen Protest. Leider blieb dieser bisher ungehört. In Frankreich gab es zwar 2005, wie schon gesagt, die Aufstände in den Vororten und 2006 einen Massenprotest gegen den Ersteinstellungsvertrag CPE, sowie weitere soziale Proteste. Doch leider gab es noch keine Konvergenz zwischen den einzelnen Bewegungen. Dieser Blick auf den Begriff des Bürgerkrieges bleibt also bislang nur Perspektive und schlägt sich nicht in der Realität nieder.
telegraph: Du bist selbst Mitarbeiter des Verlagshauses „La Fabrique“ gewesen, welches ein Buch unter dem Titel „L’insurrection qui vient“ vom Comité invisible herausgebracht hat. Die Gruppe Tiqqun hat dort in der Reihe „Politique, guerre civil“ mehrere Bücher herausgebracht u.a. „Contributions à la guerre en cours“…
Enzo Traverso: Tiqqun ist keine Massenbewegung. Es handelt sich um eine kleine Gruppe junger, sympathischer, kultivierter Intellektueller, die einen brillanten Schreibstil haben: insbesondere ihr Theoretiker. Sie geben ihre Schriften und Bücher unter dem Pseudonym „Das Komitee“ (Le Comité) oder „Die unsichtbare Partei“ (Le Parti invisible) heraus. Dennoch gibt es unter ihnen jemand, der sehr gut schreiben kann. Allerdings ist diese Bewegung in Frankreich sehr marginal, sagen wir, wie es ist…
Der Erfolg dieser Bücher ist schnell erklärt, denn die Mitglieder dieses Komitees wurden und werden in Frankreich politisch verfolgt. Das französische Innenministerium hat sich in den Kopf gesetzt, dass es in Frankreich eine linksextreme Bewegung gibt, die mit politischen, islamistischen Gruppen zusammenarbeitet… noch so eine Abwandlung der Terrorismustheorie… Jedenfalls wurde eine Gruppe junger Leute – das „Unsichtbare Komitee“, die zusammen auf einem Bauernhof auf dem Land leben, verhaftet.
Das wurde natürlich alles medial ausgeschlachtet. Das Buch wurde sogar in die englische Sprache übersetzt und Fox News – oder irgendein anderer amerikanischer Nachrichtensender – hat eine Rezension gebracht, in dem das Buch als „Bibel des neuen Aufstands“ bezeichnet wurde. Das war für das „Unsichtbare Komitee“ und den Verlag La Fabrique natürlich ein großartiges Geschenk. Ich bin darüber wirklich sehr froh, denn nun kann der Verlag dank des Erfolgs von „Der Aufstand, der kommt“ (L’Insurrection qui vient) zwei Jahre lang alle Bücher veröffentlichen, die er möchte. Wenn es etwas gibt, dass sich auf der politischen und sozialen Ebene in Frankreich bewegt kann man die Gründung der Parti de Gauche (Linkspartei) – einer Absplitterung der französischen Sozialisten, die Schaffung der Nouveau Parti Anticapitaliste NPA – Neue Antikapitalistische Partei nennen … Allerdings möchte ich das auch nicht zu sehr idealisieren und ich denke, es gibt viele Beschränkungen. Außerdem bin ich enttäuscht von der Politik, die diese beiden neuen Parteien machen. Sie schaffen es nicht einmal, eine gemeinsame Liste links vom sozialistischen PS (Parti Socialiste) aufzustellen, dabei besteht daran doch ein gewisses Interesse.
telegraph: Erst kürzlich fand auch in Deutschland eine massive Kriminalisierungswelle statt… und betraf u.a. auch Mitarbeiter des telegraphs..
Enzo Traverso: Man darf nicht denken, dass das „Unsichtbare Komitee“ ein Symptom für eine sich bildende neue Massenbewegung in Frankreich ist, die es übernimmt, die sozialen Gehorsamsverweigerungen zu koordinieren. Keineswegs! Dennoch war es sehr schlimm, dass es diese repressive Kampagne überhaupt gab.
Ich habe natürlich einen Aufruf für die Freilassung Julien Coupats3 und seiner Genossen unterschrieben, es gab eine breite Mobilisierung. Alle linken Intellektuellen Frankreichs haben sich engagiert, eine Kampagne für die Freilassung der Gefangenen gestartet… das war das mindeste. Dennoch sollte man sich keine Illusionen über die Tragweite dieser kriminalisierten Bewegung machen.
Um das noch einmal klar zu stellen: die Affäre Coupat, die Affäre des „Unsichtbaren Komitees“ und des Buches „Der Aufstand, der kommt“ sind Symptome für die repressiven Tendenzen der derzeitigen Regierung, und weniger ein Synonym für einen gestiegenen sozialen Ungehorsam.
telegraph: Warum wurde jedoch die Reizschwelle des Systems gerade jetzt überschritten?
Enzo Traverso: Die Geschichte des 20. Jahrhunderts hat uns zur Genüge gezeigt, dass man den Staat nicht als alles planenden Moloch ansehen kann. Es gibt einen offensichtlichen Hang zur Errichtung autoritärer Machtstrukturen. Die Zeichen dafür vermehren sich in ganz Europa: die Verschärfung der Gesetze gegen Immigranten, besonders in Bezug auf die sans papiers (Papierlose- Anm. K.M.); einige Formen der Repression gegenüber sozialen Bewegungen, die aufgrund ihrer Schwäche teilweise auch mit bestimmen Übertretungen arbeiten.
Denn für mich ist es ein Zeichen der Schwäche, dass soziale Bewegungen derzeit nicht dazu in der Lage sind, ein derartiges Kräfteverhältnis herzustellen, das Arbeitgeber und Regierungen zu Verhandlungen zwingt… Es gibt schwache Bewegungen, die unter der Krise leiden und wegen ihrer Schwäche – nicht etwa aufgrund ihrer Stärke – zu sehr radikalen und gewalttätigen Aktionsformen greifen. Und dann gibt es als Reaktion auf drakonische Repressionen die Anwendung transgressiver Formen. Es gibt Regierungen ohne strategische Visionen, die von Kommunikationsassen geleitet werden und die dann Mythen erschaffen.
telegraph: Vielleicht noch zu anderen Mythen. Bekanntlich wurde die Ford-Fabrik in Köln-Deutz während des II. Weltkrieges nicht bombardiert. Bei der Landung in der Normandie mussten die US-amerikanischen Soldaten überrascht feststellen, dass die LKWs der Wehrmacht unter der Haube US-Motoren haben. Während der Nachfolgeverfahren der Nürnberger Prozesse (gegen Industrielle) gab es nur milde Strafen. Viele der Strafen wurden 1951 durch den US-Hochkommissar John J. McCloy herabgesetzt. Welche Rolle spielte der Kalte Krieg für den Antifaschismus?
Enzo Traverso: Ich denke, dass die Rolle des Industrie- und Finanzkapitals in den faschistischen Systemen Europas – also in Italien, Deutschland, Spanien und einigen mitteleuropäischen Staaten – ganz entscheidend war. Gleichzeitig zeigt diese wichtige Rolle, die eingenommen wurde, dass die liberale Totalitarismus-Theorie nicht kohärent ist. Diese Theorie beschreibt nämlich nur oberflächlich die Affinität zwischen kommunistischen und faschistischen Regimen, ohne diese beiden Gesellschaftssysteme grundlegend zu analysieren. Im Gegensatz zum Faschismus wurden nämlich im Kommunismus die ökonomischen, kapitalistischen Eliten eliminiert.
Im Gegensatz dazu wurden diese Eliten im Faschismus in die bestehende, herrschende Machtordnung integriert. Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dass der Faschismus gezwungen ist, mit der ökonomischen Elite einen Kompromiss einzugehen, um an die Macht zu kommen. Wenn es keinen Kompromiss gibt, ist eine der Grundvoraussetzungen für die Machtergreifung nicht gegeben. Dieses Beispiel verdeutlicht noch einmal die Problematik und Oberflächlichkeit der liberalen Totalitarismus-Theorie.
Die Nürnberger Prozesse werden eröffnet, als man gerade die siegreiche Koalition zwischen der Sowjetunion und den liberalen Alliierten feiert; die Nürnberger Prozesse gehen allerdings genauso schnell zu Ende, als man sich darüber bewusst wird, dass man schnurstracks auf den Kalten Krieg zusteuert. Im Kontext des Kalten Krieges war es für die westliche Politik von größter Bedeutung, die ökonomischen Eliten – die eigentlich nie die Macht niedergelegt hatten und in ihren Stellungen verharrten – in das neue politische System zu integrieren. Das erklärt offensichtlich auch fehlende ökonomische Säuberungen nach Ende des Zweiten Weltkrieges in fast allen westeuropäischen Staaten.
In den osteuropäischen Ländern fanden diese ökonomischen Säuberungen nach dem Ende der Nürnberger Prozesse jedoch statt.
telegraph: Danke für das Interview!
Die Fragen stellte Kamil Majchrzak
Übersetzung aus dem Französischen: Franziska Albrecht
1 Siehe: Bundesministerium des Innern, Verfassunkschutzbericht 2008, S. 190. Abrufbar unter: http://www.verfassungsschutz.de/de/publikationen/verfassungsschutzbericht/vsbericht_2008/
2 Jerzy W. Borejsza, Szkoły nienawisci. Historia faszyzmów europejskich. In deutscher Fassung unter dem Titel Schulen des Hasses. Faschistische Systeme in Europa, Frankfurt a.M. 1999 erschienen.
3 Julien Coupat wurde Ende 2008 in einer Landkommune in Tarnac festgenommen und musste sieben Monate in einem Pariser Gefängnis in Untersuchungshaft verbringen. Durch extrem konstruierte Zusammenhänge wollte die französische Justiz eine Beteiligung an vermeintlichen terroristischen »Sabotageaktionen« beweisen. Die Festnahme stand im Zusammenhang mit dem Buch „L’insurrection qui vient“ (Der Aufstand, der kommt). Dieses Büchlein wurde 2007 von einem kollektiven Verfasser, unter dem Namen »Unsichtbares Kollektiv« in dem linken Verlag La Fabrique veröffentlicht. Auch dessen Verleger, Eric Hazan, wurde im April 2008 im Zusammenhang mit den Untersuchungen unter Terrorismusverdacht vor den Ermittlungsrichter geladen und mehrere Stunden lang verhört.
Enzo Traverso 1957 in Gavi, Italien geboren, lebt und arbeitet als Historiker und Journalist seit den 1980ern in Paris. Er unterrichtet als Politologieprofessor an der Universität der Picardie in Amiens und an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris. Er ist Autor von Büchern über Auschwitz und die Shoa.
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