von Thomas Klein
aus telegraph #118/119
Mit dem Begriff „Neue Linke“ wird in der Bundesrepublik allgemein die Studentenbewegung seit 1966/67 und die „Außerparlamentarische Opposition“ (APO) assoziiert. Jedoch ist in der Neuen Linken neben ihrer „antiautoritären“ Strömung der Beitrag ihrer linkssozialistischen Richtung (vor allem in Köln, Marburg und München) konstituierend. Denn die „Neue Linke“ hat selbst eine (Vor)geschichte: Antistalinistische und radikaldemokratische Sozialisten und Marxisten wie Wolfgang Abendroth und Leo Kofler prägten seit den 50er bis in die 60er Jahre hinein in Westdeutschland den kritischen Diskurs weit über die SPD-Linke hinaus und hatten erheblichen Einfluss auf die Ostermarsch-, Anti-Notstands- und schließlich die Studentenbewegung. Linke Gewerkschaftler wie Viktor Agartz und Heinz Brandt wirkten auf die politische Sozialisierung der nachfolgenden jungen Generation ein. Die generativen Wurzeln dieser Strömungen verweisen auch auf die Politik der dissidenten „Zwischengruppen“ (KPO, SAP, KAPD, Leninbund)1 noch aus der Weimarer Republik, welche den Kurs der beiden Massenparteien SPD und KPD ablehnten und auch nach dem Krieg teilweise den Diskurs mitbestimmten (Alfred Weiland, Alfred Schmidt, Oskar Hippe). Linkssozialisten agierten als innerparteiliche Opposition in der SPD, beeinflussten die Politik in einigen DGB-Gewerkschaften und versuchten, außerparlamentarische Bewegungen etwa gegen die Rüstungspolitik mit Traditionen der Arbeiterbewegung zu verbinden.2 Die Linkssozialisten hatten überdies eine wichtige kulturelle Brückenfunktion. In Westberlin fanden beispielsweise Anfang der 60er Jahre im Haus des Ringes Politischer Jugend nahe dem SDS-Zentrum am Kurfürstendamm und im Haus der Jugend in Dahlem und Reinickendorf Marxismus-Seminare mit dem belgischen Trotzkisten Ernest Mandel und Seminare mit Johannes Agnoli, Alfred Kantorowicz und Leo Kofler statt.3 Die gewerkschafts- und arbeiterbewegungsorientierten Teile dieser Strömung eröffneten Zugänge der Neuen Linken zur bis dahin verdrängten Kultur der revolutionären Arbeiterbewegung. Doch maßgeblichen politischen Einfluss in der BRD oder in der Westdeutschen Sozialdemokratie konnten die Linkssozialisten nicht zuletzt wegen des zur Staatsraison erhobenen repressiven Antikommunismus nie erlangen. Alle Organisationsansätze scheiterten, wozu auch beitrug, dass die erfolgreiche Gründung stark von der illegalen KPD (und damit von der SED) beeinflusster Parteien in der Bundesrepublik diese Anläufe konterkarierten.4
Es versteht sich, dass oppositionelle linkssozialistische Zusammenhänge insbesondere wegen ihrer SPD-kritischen Positionen einerseits überaus interessant für die Ostberliner SED-Strategen war, woraufhin auch immer wieder Anstrengungen unternommen wurden, Teile dieser Kreise entweder zur politischen Kooperation zu bewegen oder sie zu infiltrieren, um sie zu steuern.5 Andererseits waren sie wegen ihrer ebenso SED-kritischen Haltung und nicht zuletzt wegen ihrer Praxis des vorerst auf die SPD gerichteten Entrismus im SED-Feindbildkatalog besonders hoch veranschlagt, denn die befürchtete Beeinflussung auch der eigenen Klientel in Ost und West war durchaus gegeben. Hinzu kam, dass führende Köpfe der westdeutschen unabhängigen Linken aus der DDR kamen und mit der SED politisch gebrochen hatten (Kofler, Abendroth, Bloch, Brandt, Kantorowicz), was dann auch für die antiautoritäre Strömung namentlich in Westberlin (Dutschke, Rabehl) Gültigkeit behalten sollte. Dies stellte für die SED-W/SEW in Westberlin und für die DKP in der BRD ein zusätzliches Problem dar. Andererseits wurden solche Personen im Westen mit ebensolcher Folgerichtigkeit häufig der Komplizenschaft mit der DDR/SED verdächtigt, was auch heute noch gängig ist. Dass aber auch Linkssozialisten, die niemals in der SBZ/DDR gelebt hatten, solchen Anschuldigungen ausgesetzt waren, zeigt der Fall des Sozialdemokraten Viktor Agartz: Weil seine linkssozialistische Zeitschrift „Korrespondenz für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften“ sich auch durch Abonnements vom FDGB finanzierte, wurde er 1957 (letztlich vergeblich) des Hochverrats wegen verfassungsfeindlicher Beziehungen angeklagt. Im Folgejahr wurde er aus der SPD und dem DGB ausgeschlossen.
Die antiautoritäre Strömung sollte dann seit Mitte der 60er Jahre der linkssozialistischen Strömung ihre Dominanz innerhalb der Neuen Linken erfolgreich streitig machen.6 Die ursprünglich sozialdemokratische Studentenorganisation SDS, im November 1961 von der SPD ausgestoßen und seither Protestpotential links von der SPD anziehend, wurde in den 60er Jahren zu einer Möglichkeit, wenigstens im Rahmen einer (legalen) Studentenorganisation Positionen sozialistischer Politik und gesellschaftlichen Protests zu artikulieren.7 Die gesellschaftlichen Verhältnisse wurden von diesem Protestpotential reflektiert als unbeweglich und konservativ, repressiv und reaktionär sowie vom unbewältigten Nazismus geprägt: Erhardts „formierte Gesellschaft“ und Schillers „konzertierte Aktion“ rochen nach „Volksgemeinschaft“, begünstigt durch die Willfährigkeit verbürokratisierter Gewerkschaften zu freiwilligem Lohnverzicht und bei der Verhinderung von Klassenauseinandersetzungen. Die Besetzung ministerieller Schaltstellen durch alte Nazis, die verknöcherten Strukturen der Ordinarienuniversität, der eingetretene Bildungsnotstand und der konservative Normalzustand gesellschaftlicher Kultur bekräftigten den Befund des Stillstands.
„1968“ signalisiert heute als Chiffre für eine ganze Generation die enge Verbindung von Kultur und Politik – hier der antiautoritären Subkultur und eines revolutionären Aufbruchs.
Im Vorfeld dieses Aufbruchs erfolgte gerade über den SDS und mit dem Entstehen einer autonomen Arbeitskreiskultur an fast allen Hochschulen seit Beginn der 60er Jahre für eine ganze Studentengeneration der Zugang zum Marxismus und zur Kritischen Theorie der Frankfurter Schule. Die Politisierung und Mobilisierung der Studentenschaft betrieb der SDS über seine Kongresspolitik, seine radikaldemokratische Bündnispolitik und ein alternatives Hochschulprogramm bis hin zum Gegenentwurf einer „Kritischen Universität“.8 Eingebettet waren diese Aktivitäten in Versuche, eine „Gegenöffentlichkeit“ und neue Formen des Protestes zu entwickeln, welche die tolerierten Formen ritualisierter Kritik überschritten.9 Hier entwickelten insbesondere die Westberliner Studenten neue Demonstrationsformen zur Umgehung polizeitaktischer Eindämmungspraktiken unter Anwendung demonstrativer Verletzungen der Konventionen staatlicher Regelwerke. Als gerade in Westberlin gewaltfreie Regelverletzungen und happeningförmige Provokationen vermehrt durch manifeste Polizeigewalt und flächendeckende Pressekampagnen beantwortet wurden, verschärften sich die Auseinandersetzungen zunehmend, wobei der Tod Benno Ohnesorgs infolge des polizeilichen Vorgehen gegen studentische Anti-Schah-Demonstranten am 2. Juni 1967 und der Mordanschlag auf Rudi Dutschke am 11. April 1968 zu Eskalationen führten.
Der zweite wichtige Aspekt in der Betrachtung der „Neuen Linken“ ist ihre internationale Dimension. In ganz (West-)Europa war Mitte der 60er Jahre die Nachkriegs-Rekonstruktionsperiode im Wesentlichen beendet. Sowohl in politischer, als auch kultureller Hinsicht kamen die entscheidenden Impulse für die nun folgende weltweite Revolte allerdings aus den USA, wo diese Rekonstruktion etwas früher abgeschlossen war. Die Ausstrahlung der amerikanischen Jugendkultur, der nahtlose Übergang der Beat- in die „Hippie“-Bewegung, „Underground“, „sexuelle Revolution“, „Black-Panther“ und die (schwarze) amerikanische Bürgerrechtsbewegung manifestierten von Anfang an die transnationale Dimension dieser Strömung und ihren internationalen Charakter. Die „Revolte von 1968“ hatte jeweils besondere nationalspezifische Ausprägungen, war aber ihrem Charakter nach und im Selbstverständnis der Akteure internationalistisch in einem sehr politischen Sinne.10 Zu betonen ist auch ihre Verknüpfung mit einer Radikalisierung und Politisierung von Kämpfen in der internationalen Arbeiterbewegung, welche auswiesen, dass die Studenten und jungen Intellektuellen keineswegs die einzigen Akteure dieser Revolte waren.11 Die weltweite Bedeutung US-amerikanischer Innen- und Außenpolitik signalisierten etwa die von der CIA unterstützte Invasion von Söldnern und Exilkubanern in der kubanischen „Schweinebucht“ 1961, die 1962 eskalierenden Rassenunruhen in den USA, die Raketenkrise um Kuba sowie der 1964 begonnene offene Krieg in Vietnam. Namentlich die internationale Solidarität mit dem vietnamesischen Unabhängigkeitskampf wurde zum verbindenden Element der nationalen Strömungen dieser „68er Bewegung“. Ihr in konservativen Deutungen hervorgehobener vermeintlicher „Antiamerikanismus“12 ignoriert die Verwurzelung der Revolte in den USA selbst, wo innerhalb der Gesellschaft die Ablehnung des von der Administration geführten Krieges in Vietnam und gegenüber dem Rassismus im Inneren des eigenen Landes immer mehr zunahm: Der kulturelle „Pro-Amerikanismus“ der internationalen Revolte existierte nur in Verbindung mit der politischen Gegnerschaft zum US-amerikanischen „Establishment“ auch in den USA selbst. Diese Gegnerschaft war zugleich Ausdruck des prononcierten Antikapitalismus der 68´er Bewegung, denn dieses Establishment war zugleich die Elite der kapitalistischen Führungsmacht.
Unter Einbeziehung ihrer Vorgeschichte und mit Berücksichtigung der weiteren Entwicklung kann also gesagt werden, dass die „Neue Linke“ als „historische Formation“ eine „internationale Erscheinung in der Blütezeit des Nachkriegsfordismus (war), die sich je nach Situation in ihren Ursprungsländern von den KP’s in West und Ost, wie den sozialdemokratischen und sozialistischen Parteien abgrenzte; und zwar, weil dem blinden Glauben an Staat und Partei als Regulierungsinstanzen das Stichwort der Selbstorganisation entgegengesetzt wurde“13. Damit ist zugleich deutlich die politische Kluft benannt, welche die Repräsentanten dieser Strömung und ihre Organisationen etwa von der DKP und SED/SED-W/SEW trennte.
In Westdeutschland und Westberlin gehörten der Widerwille gegen den spießig-reaktionären Kanon bundesdeutscher Gesellschaftlichkeit14 und der Protest gegen die Beharrung alter Nazis an den Schalthebeln der Macht mit zu den politischen Merkmalen der neuen Opposition. Dabei führten die Erfahrung der Spiegel-Affäre 1962, das Ereignis der Frankfurter Auschwitz-Prozesse 1963-6615 im Schatten der ursprünglich für 1965 geplanten Verjährung von Nazi-Verbrechen, die Ostermarsch-Bewegung und die Mobilisierung gegen die heraufziehenden Notstandsgesetze mit der Studentenbewegung (deren Zentrum Westberlin wurde) zur Außerparlamentarischen
Opposition. Hier drückte sich demonstrativ das tiefe Misstrauen einer wachsenden Minderheit gegenüber den Mechanismen parlamentarischer Stellvertreterpolitik aus, die als Fassade einer Politik der autoritären Entmündigung und Manipulation der Bevölkerung im Dienste der herrschenden Oberschichten angesehen wurde. Springers Anti-APO-Kampagnen ausgesetzt, entwickelten sich in dieser Bewegung daher auch Konzepte einer Gegenöffentlichkeit. Die „deutsche Dimension“ der „68er“ stellte auch für die SED in der DDR und insbesondere für ihren parteiförmigen Ableger SED-W in Westberlin eine beträchtliche Herausforderung dar: Vor allem die kulminierende antiautoritäre Subkultur „infizierte“ in der Breite auch die sich emanzipierende alternative Jugendbewegung in der DDR. In Westberlin war (wie in Westdeutschland) jenseits der SED-W und abseits eigenen Agierens eine linke antikapitalistische Strömung entstanden, die mit ihrem antiautoritären Politikstil und antihierarchischen organisationskritischen Ansatz das parteidogmatische Politikverständnis und bürokratische Organisationskonzept der Einheitsparteiler in Ost und West nun nicht mehr nur theoretisch-verbal, sondern auch alltagspraktisch massiv herausforderte. Vor allem aber konkurrierte diese Bewegung mit der SED-W und der DKP um die anwachsende Zielgruppe systemkritischer Protagonisten, deren Anwachsen die Parteiideologen staunend konstatierten.
Die soziale Zusammensetzung dieser seit 1964/65 weltweit zu beobachtenden Bewegungen16 war in den verschiedenen Regionen sehr unterschiedlich. In Westdeutschland/Westberlin waren die heranwachsende Intelligenzschichten der Mittelklassen und des Bürgertums vielfach dominierend, aber nicht darauf reduzierbar. Das soziale Profil der „68er“ umfasste ebenso proletarische und subproletarische Jugendliche mit dem antiautoritären Habitus der Rock- und Gammler-Kultur. Die Spannweite des politisch-sozialen Wirkungsraumes dieses weltweiten Aufbegehrens reichte von den antikolonialen Befreiungsbewegungen über die Aufbruch-Bewegungen der Schwellenländer bis zu den Revolten in den kapitalistischen Metropolen. In den USA bedeutete letzteres „mehr Bürgerrechte“ vor allem für die Afroamerikaner; in Westeuropa hatte die Studentenbewegung eine radikal antikapitalistische Dimension und international waren die 60er Jahre das Jahrzehnt der nationalen antikolonialen Revolutionen und der Befreiungsbewegungen in Afrika und Lateinamerika.
So unterschiedlich weltweit die initialen Dominanten solcher Revolten auch waren – es gab trotzdem bedeutsame Gemeinsamkeiten. In den Metropolen beispielsweise verband die in den USA gegen den Vietnamkrieg protestierenden Schichten mit den gegen das Beschweigen der Nazi-Vergangenheit revoltierenden Studenten und Jungakademikern Westdeutschlands die Angriffslust auf die systemischen Ursachen dieser Erscheinungen. Gemeinsam war ihnen die radikale überwiegend linke Systemkritik. Verworfen wurden die staatlichen Machtstrukturen, Hierarchien und die Funktionslogik in den Betrieben, Schulen und Hochschulen, die gesellschaftlichen Konventionen in der Familie, der Sexualität und den Geschlechterbeziehungen. Hinsichtlich der Geschlechterbeziehungen waren allerdings die Frauen im SDS gezwungen, das Nachdenken ihrer männlichen Kampfgenossen über die alltägliche Unterdrückung der Frauen auch im SDS durch Protestaktionen wie den Tomatenwürfen auf die „sozialistischen Eminenzen“ während der 23. Delegiertenkonferenz in Frankfurt im September 1968 und mit der Gründung des „Weiberrates“ anzufeuern.
In den staatssozialistischen Diktaturen Osteuropas war vor allem der subkulturelle Impact auf die jugendkulturellen Strömungen überwältigend und überwog den direkt politischen Einfluss linken westlichen Ideen- und Theorienaufschwungs. Impulse der „Neuen Linken“ wurden ebenso wie Einflüsse alternativer Subkultur von den im Osten Herrschenden als subversiv bewertet und entsprechend behandelt. Der herrschaftskritische Aufbruch erhielt in der ČSSR, der DDR, Polen, Ungarn und Jugoslawien durch dissidente Parteiströmungen und oppositionelle Demokratisierungsbestrebungen eine eigene Note.17
Die Brutalität, mit der die Herrschenden weltweit gegen diese „politische Subversion“ agierten, gehört mit zur Entwicklungs- und Mentalitätsgeschichte dieser Strömungen: Der Militärputsch in Indonesien 1965, die FBI- und Geheimdienst-Operationen nicht allein gegen militante afro-amerikanische Organisationen (Black-Panther), sondern auch gegen gemäßigte Bürgerrechtsorganisationen und die New
Left
der USA seit 1967, der Militärputsch in Griechenland 196718, der Massenmord an den protestierenden Studenten in Mexiko 1968, die Okkupation der ČSSR durch die UdSSR 1968, die Eskalation des portugiesischen Kolonialkriegs 1968/69 und der Militärputsch in Chile 1973 prägten die politischen Weltbilder der 68er-Generation – vor allem aber natürlich der von 1965 bis 1975 währende überaus blutige Interventionskrieg der USA in Vietnam, gegen den die in der Bundesrepublik Regierenden keinerlei Kritik zu äußern wagten. Die oftmals extreme Härte dieser Gegenrevolutionen hat auch in Westeuropa bei Teilen der revoltierenden linken Strömungen die Ablehnung des staatlichen Gewaltmonopols verstärkt und eine relativ breite Akzeptanz von politischer Gegengewalt begünstigt. Die undifferenzierte Präferierung bewaffneter Gewalt durch militante Minderheiten hat dann in Westdeutschland deren Ablösung von den sozialen und politischen Kontexten der Gewaltfrage zusammen mit der Entfremdung entstehender doktrinärer K-Sekten von der Wirklichkeit gesellschaftlicher Konfliktlagen bewirkt.
Wesentliches Element der „68er-Bewegung“ war die Ideenproduktion der internationalen „Neuen Linken“. In den Zeiten des Aufschwungs linker Theorierezeption und Aktionsformen seit Mitte der 60er Jahre auch in Westberlin war jedoch zunächst nicht der traditionelle Marxismus, sondern vielmehr die „Kritische Theorie“ maßgeblich, welche der nun aufkommenden „Außerparlamentarischen Opposition“ (APO) ein Orientierungsfeld bot. In den Zeiten rigiden Antikommunismus als Staatsräson der Bonner Republik war der theoretische Ansatz vom „autoritären Staat“ aus der linken sozialwissenschaftlichen „Frankfurter Schule“ der 20er Jahre ein Weg, der revoltierenden akademischen Jugend in Zeiten arbeiterschaftlicher Passivität ein gesellschaftliches Selbstbewusstsein zu geben und außerhalb des verfemten „Marxismus-Leninismus“ die Debatte um die Möglichkeit des Sozialismus zu eröffnen. Der antiautoritäre Flügel grenzte sich von Theorie und Praxis der traditionellen, insbesondere der kommunistischen Linken deutlich ab. Eines der Schlüsselbegriffe der „kritischen Theorie“ war der Begriff des „autoritären Staates“. Eine ganze Studentengeneration entwickelte entlang solcher Begriffe wie „repressive Toleranz“ oder „falsches Bewusstsein“ eine nachhaltig kritische Perspektive auf die gesellschaftliche Wirklichkeit der Bundesrepublik. Bedeutsam war ein am 10. Juli 1967 eröffnetes und vom Westberliner SDS veranstaltetes viertägiges Seminar an der Freien Universität, in dem Herbert Marcuse mit seinem Vortrag Das
Ende
der
Utopie prägende Orientierungen für die Studentenbewegung formulierte.19 Von den Impulsen der „Frankfurter Schule“ inspiriert, verbanden sich in der APO diese Orientierungen jedoch auch mit einer Neuentdeckung von verfemten linken Theoretikern namentlich der 20er Jahre, die seitens der stalinistischen Parteien unterdrückt wurden. Diese Wiederentdeckungen und die kollektiven „Leseerfahrungen“ korrespondierten mit einer Produktionskultur der Raubdrucke: Die von den Nazis vernichteten, im Nachkriegs-Westdeutschland ignorierten und in Ostdeutschland verfemten Texte von Autoren wie Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Herbert Marcuse, Wilhelm Reich, Walter Benjamin oder Karl Korsch wurden (schon seit den frühen 60er Jahren) auf diese Weise wieder zugänglich gemacht.20 Das von Rudi Dutschke im Oktober 1966 entwickelte Studienprogramm für den SDS orientierte sich unter anderem an Karl Korsch. Dutschkes Empfehlung, die Siege und Niederlagen der klassischen Arbeiterbewegung sowie der Geschichte ihrer Organisationen kritisch aufzuarbeiten, formulierte eine Gegenposition zum klassischen seminarmarxistischen Entwurf der Marburger Strömung (Frank Deppe), deren Vertreter sich daraufhin als Schulungsreferenten zurückzogen.21 Unabhängige Linke, Sozialrevolutionäre, undogmatische Marxisten, Operaisten und Anarchisten formulierten neue Konzepte gesellschaftlicher Emanzipation (Frauenbewegung, antiautoritäre Erziehung) und der Überwindung des Kapitalismus. Sie attackierten das angemaßte Deutungsmonopol parteibürokratischer Provenienz sowie die Theoriedeformation durch den dogmatischen „Marxismus-Leninismus“ und „infizierten“ traditionelle westliche kommunistische Parteien und Intellektuelle im Umkreis östlicher stalinistischer Parteien mit Ideen einer Neuorientierung. Der daraus resultierende kritische „Blick von links“ auch auf die diktatorischen und dogmatisch erstarrten Strukturen des osteuropäischen Staatssozialismus und westlicher kommunistischer Parteien feuerte das Misstrauen und die Feindschaft deren Ideologen zusätzlich an.
Obwohl innerhalb der APO mehrheitlich der Einmarsch von Truppen des Warschauer Pakts in die ČSSR scharf verurteilt wurde, gilt trotzdem, dass die radikale Linke des Jahres 1968 im Westen nicht imstande war, die Bedeutung des tschechoslowakischen Sprungs weg vom autoritär-bürokratischen Regime sowjetischen Typs hin zu einem „demokratischen Sozialismus“ zu erkennen. Dieser Konflikt galt als sekundär und gelangte mit der Okkupation der ČSSR durch sowjetische Truppen nur kurzzeitig ins Zentrum der Aufmerksamkeit der antiautoritären Linken des Westens. Rudi Dutschke, der im Frühjahr mit Studenten der Prager Karls-Universität diskutiert hatte, erklärte 1978 anlässlich eines Interviews der BBC zum 10. Jahrestag des Pariser Mai 1968 rückblickend, „das entscheidende Ereignis des Jahres 1968 in Europa (war) nicht Paris, sondern Prag. Damals waren wir unfähig, dies zu sehen.“ Im Interview führte er aus:
„Ich erinnere mich, wie nach meiner Rückkehr aus Prag niemand im SDS wirklich begreifen konnte, was ich bezüglich der dortigen Ereignisse zu beschreiben versuchte … es gab keinerlei Verständnis für die Situation und das, worum es im Lande wirklich ging. Das ist der Hauptgrund dafür, dass die Linke in Westeuropa die Dynamik der sozialen und politischen Emanzipation in Osteuropa nicht zu begreifen vermochte. Das hat sowohl die Kommunikation als auch die Kooperation unmöglich gemacht … Die Tschechoslowakei bedeutete im Hinblick auf eine politische Veränderung in Osteuropa einen grundlegenden Schritt nach vorne. … Die Niederlage in Paris und auch in Westdeutschland hat es den kommunistischen Parteien ermöglicht, auf die politische Bühne zurückzukehren. Moskau hatte ihnen bedeutet, abzuwarten und (sich) auf keinen Fall am Kampf zu beteiligen, denn das hätte für die Kontrolle Osteuropas Schwierigkeiten nach sich ziehen können.“22
Die Verlaufsform des Zusammenbruchs der APO förderte die schon zuvor sichtbaren Momente ihres Charakters zutage: Als „Massenbewegung“ war die „antiautoritäre Revolte“ trotz ihrer revolutionären Phraseologie und ihres durchaus intoleranten Habitus gegenüber vermeintlichen und tatsächlichen Repräsentanten und Institutionen des „Systems“23 eine radikaldemokratische intellektuelle Minderheitenströmung. Insofern ist die erfolgreiche nachhaltige „kulturrevolutionäre Fernwirkung“ dieser Revolte auf die Bundesrepublik eher erstaunlich zu nennen. Dies ist weniger eine Erfolgsgeschichte der APO, als der Nachweis modernisierungsorientierter Flexibilität jenes Systems, das die Aktivisten der APO aber nicht modernisieren, sondern revolutionieren wollten. Jenseits aller ideologischen Projektionen waren jedoch die materiellen Interessen der Träger des studentischen Aufbegehrens ihrer Natur nach keineswegs den Interessen der Träger der herrschenden Ordnung fundamental entgegengesetzt. Alle künstlichen Versuche einer „Minderheit in der Minderheit“, diesen Widerspruch aufzuheben, weil sie es ernst meinten mit ihrer Fundamentalopposition, führten nur zu eher komischen Versuchen, aus dem Studentendasein in die Arbeiterklasse zu „emigrieren“ (sich dort „einzuordnen“), oder die Funktion einer Avantgarde zu simulieren (diese Klasse „zu führen“). Andere „Revolutionäre“, die verzweifeltsten Angehörigen dieser Minderheit, entschlossen sich, auf der Stelle zum bewaffneten Angriff auf das „System“ samt ihrer Führungsmacht, den USA, überzugehen, wobei sich die Verbündeten eines solchen Schritts nur im kämpfenden palästinensischen Widerstand finden ließen und als Transit-, Rückzugs- oder Fluchtraum lediglich die DDR übrigbleiben sollte.
Einerseits beeinflussten die Impulse undogmatischer Diskurse zur Erneuerung der sozialistischen Theorie aus den 60er Jahren auch die Debatten der Folgejahre: Sowohl in der DKP und SEW als auch in der SPD gab es in den 70er Jahren beispielsweise eurokommunistische Einflüsse. Andererseits degenerierte das belebende Paradigma des Antiautoritären und Undogmatischen in der APO und der Neuen Linken mit dem Niedergang dieser Bewegung in den 70er Jahren teilweise zu ihrem Gegenteil in Gestalt der Entstehung zum Teil superautoritärer, traditionell hierarchischer und hyperdogmatischer K-Sekten in Westdeutschland/Westberlin – als machtlose Kunstprodukte und Ableger ihrer chinesischen, albanischen oder sonstiger Vorbilder allesamt eine makabre Parodie auf ihre real-existierenden machtabsolutistischen Originale. Sie näherten sich damit an die Verfasstheit ihres „Hauptfeindes“, der „revisionistischen“ moskauorientierten Parteien DKP und SEW, an, welche sie noch inbrünstiger bekämpften, als den real-existierenden Kapitalismus in Rufnähe. Die Dissoziation der 68er-Bewegung mündete neben der Entstehung einiger militant-terroristischer Gruppen ebenfalls in den Rückzug vieler Akteure in die SPD und andere Formationen des „Establishment“, aber auch in Richtung DKP/SEW und deren verbündeter Organisationen, etwa des MSB (Marxistischer Studentenbund). An der Formierung der Neuen Sozialen Bewegungen (Ökologiebewegung, Anti-AKW-Bewegung) der 70er Jahre nahmen schließlich nicht nur originäre „68er“, sondern gleichfalls viele „Versprengte“ und Enttäuschte aus den ebenfalls bald niedergehenden K-Gruppen teil. Aus diesen Neuen Sozialen Bewegungen entstanden dann Ende der 80er Jahre die grünen oder alternativen Listen und schließlich bundesweit die Grüne Partei. Obwohl nominell am Versuch der Konstituierung einer ökologischen Partei Interessierte aus allen politischen Spektren teilnahmen, kann es nicht überraschen, dass die „Grünen“ in den 80er Jahren vorwiegend links dominiert wurden.
1 Die KPD (Opposition), auch KPO, wurde im Dezember 1928 als Organisation der „Rechts-Opposition“ gebildet und von den KPD-Gründungsmitgliedern August Thalheimer sowie Heinrich Brandler geführt. Nachdem 1932 unter der Führung von Paul Frölich und Jakob Walcher ein Teil von ihr zur Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAPD) übertrat, verblieben in der KPO ca. 3 000 Mitglieder. Die SAPD, eine Linksabspaltung der SPD von 1931, hatte vor 1933 ca. 17 000 Mitglieder. Der Leninbund vereinigte ab 1928 Reste der in den Vorjahren aus der KPD gedrängten Linksopposition um die ehemalige Parteivorsitzende Ruth Fischer. Nach dem Ausscheiden von Fischer vertrat der Leninbund zunächst stark an Trotzki angelehnte Positionen. Teile des Leninbunds näherten sich 1929/30 an die KPD(O) an. Die Kommunistische Arbeiterpartei Deutschlands (KAPD) ist das Resultat der KPD-Spaltung im Oktober 1919. Viele Linksradikale verließen damals die KPD und gründeten im April 1920 die rätekommunistische KAPD.
2 Neben den vereinzelten (gescheiterten) Organisationsversuchen wie dem Anlauf zur Gründung der UAPD 1951 artikulierte sich diese Strömung vor allem über ihre Publikationen – so die Zeitschriften „Neues Beginnen“ 1947-1954, „Befreiung“ 1948-1978, „Die freie Gesellschaft“ 1949-1953, „pro und contra“ 1949-1954, „funken“ 1950-1959, die trotzkistisch beeinflusste Zeitschrift „Sozialistische Politik“/SoPo 1954-1966 und „links“ 1951-1956. Gottfried Oy, Spurensuche Neue Linke (rls Papers), Berlin 2007, S. 8 unter Hinweis auf Peter von Oertzen, Behelfsbrücken. Linkssozialistische Zeitschriften in der Ära der ‚Restauration’ 1950 – 1962, in: Michael Buckmiller, Joachim Perels (Hg.), Opposition als Triebkraft der Demokratie. Bilanz und Perspektiven der zweiten Republik, Hannover 1998, S. 87-100, hier: S. 88; Hans Manfred Bock, Geschichte des „linken Radikalismus“ in Deutschland. Ein Versuch. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1976. Hinzu kommen „Das Argument“ (seit 1959) und die seit 1969 erscheinende Zeitschrift „links“ des „Sozialistischen Büros“.
3 Hans Gellhardt, Wofür haben wir gekämpft, Potsdam 2006, S. 68.
4 Die 1961 gebildete „Deutsche Friedensunion“ (DFU), welcher auch neutralistische konservative Kreise anhingen, war ein Stolperstein für die Verstetigung der 1960 gegründete, „Vereinigung unabhängiger Sozialisten“. Ebenso behinderte die Gründung der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) 1968 unter anderem auch von Wolfgang Abendroth betriebene Versuche der Gründung einer neuen linkssozialistischen Organisation.
5 Wie im Berliner Nachkriegs-Geheimdienstsumpf die Agenturen aller Besatzungsmächte und der SED bzw. der SPD miteinander um ihren jeweiligen interessegeleiteten Zugriff auf Organisationen und Publikationen konkurrierten, die der SED und/oder der SPD ablehnend gegenüberstanden, ist nachzulesen bei Michael Kubina, Von Utopie, Widerstand und Kaltem Krieg, Hamburg 2001 (hier insbesondere S. 336ff im Fall „pro und contra“) und bei Thomas Klein, „Für die Einheit und Reinheit der Partei“. Die innerparteilichen Kontrollorgane der SED in der Ära Ulbricht, Köln 2002 (hier insbesondere S. 64 zur Gefahr einer „dritten Kraft“).
6 Vgl. dazu: Richard Heigl, Oppositionspolitik. Wolfgang Abendroth und die Entstehung der Neuen Linken (1950-1968), Dissertation, Regensburg 2006 (aktualisierte Fassung April 2007), S. 8ff.
7 Der SDS-Landesverband Berlin vereinte Ende der 50er Jahre mit seinen rund 200 Mitgliedern etwa ein Viertel der Gesamtmitgliedschaft. Knabe 1999a, S. 184 unter Berufung auf Michael Herms, Heinz Lippmann. Portrait eines Stellvertreters, Berlin 1996, S. 235.
8 „Die Forderung nach Demokratisierung der wissenschaftlichen Produktion in der Hochschule ist kein Vorschlag zur größeren Effizienz oder zur besseren Planung von Leistungssteigerung. Die Entfesselung von Produktivkräften, auf die diese Forderung nach Demokratisierung der Hochschule hinaus will, steht mit dem zur systemstabilisierenden Leistungsmoral verkommenen Begriff von Produktivitätssteigerung in Widerspruch. Denn die intendierte Entfesselung der Produktivkräfte besteht nicht in weiterer Steigerung inhaltsleerer Leistungsfähigkeit, sondern in der Emanzipation der lebendigen Produktivkraft Mensch zur Bestimmung und Aneignung des gesamten Produktionsprozesses seines Lebens.“ Aus der Hochschulresolution der 22. Delegiertenkonferenz des SDS 1967, zit. nach: Wolfgang Lefèvre, Reichtum und Knappheit. Studienreform als Zerstörung gesellschaftlichen Reichtums, in: Uwe Bergmann/Rudi Dutschke/Wolfgang Lefèvre/Bernd Rabehl, Rebellion der Studenten, Reinbek 1968, S. 94.
9 Bewusste Versuche, die Konventionen und Riten tolerablen Protests aufzubrechen, welche als Element etablierter Öffentlichkeit in der Phase der Stabilisierung des fordistischen Klassenkompromisses verallgemeinert wurden, um solche Kritik zu absorbieren, sind bereits in der Geschichte der Ostermarschbewegung nachweisbar. Vgl. Oy 2007, S. 14f.
10 Die substantielle Verzeichnung und neu-rechte Uminterpretation der „68er Bewegung“ in der BRD und Westberlin als „nationalrevolutionär“ namentlich durch damalige Aktivisten (so durch Bernd Rabehl) macht es natürlich erforderlich, den internationalen und ideengeschichtlichen Kontext dieser Bewegung in Unkenntlichkeit aufzulösen.
11 Zu den Arbeitskämpfen in Ost- und Westeuropa 1968 und danach siehe Bernd Gehrke/Gerd-Rainer Horn (Hg), 1968 und die Arbeiter. Studien zum „proletarischen Mai“ in Europa, Hamburg 2007.
12 „Paradoxa des Protestes: sich antiamerikanisch zu gebärden, gleichzeitig aber die amerikanische Protestkultur nachzuahmen …“ Ingo Arend, Triumph. Alles Kultur. Wolfgang Kraushaars intelligente Studie zum „Mythos 68“, in: „Freitag“ vom 2.2.2001.
13 Oy 2007, S. 5.
14 So etwa der Homosexuellen-Paragraph 175, die Strafverfolgung der „Kuppelei“ und das inhumane rigide Erziehungsheim-Regime (1970 erstmals Gegenstand eines Films von Ulrike Meinhof und Eberhard Itzenplitz).
15 Dieses eigentlich hoffnungsvolle Signal der 60er Jahre einer wenigstens juristischen Aufarbeitung von Nazi-Verbrechen in der Bundesrepublik brachte allerdings auch solche Urteile mit sich, wie den Freispruch des ehemaligen Richters am Nazi-Volksgerichtshof Hans-Joachim Rehse durch das Schwurgericht am Kriminalgericht Moabit. Rehse hatte an 231 Todesurteilen mitgewirkt. Freigesprochen wurde er mit der Begründung, seine Mitwirkung an Todesurteilen hätte nicht der Gesetzeslage und der Freislerschen Rechtssprechungsnorm widersprochen. In Krisenzeiten (zur Sicherung des gefährdeten Bestands des Reiches) seien Maßnahmen auch zu Abschreckungszwecken berechtigt gewesen. All dem vorausgegangen war der 1958 gescheiterte Versuch der Regierung Adenauer, eine generelle Verjährung aller NS-Verbrechen zu erlangen.
16 Der Aufruhr der studentischen Jugend fand 1967/68 unter anderem in Deutschland, den USA, Italien, der Tschechoslowakei, Polen, Japan und besonders heftig in Frankreich und Mexiko statt.
17 Vgl. dazu: Thomas Klein, „Frieden und Gerechtigkeit“. Die Politisierung der Unabhängigen Friedensbewegung in Ost-Berlin während der 80er Jahre, Köln 2007, S. 56ff.
18 Mit dem im demokratischen Europa überwiegend isolierten und von den USA wohlwollend akzeptierten brutalen griechischen Militärregime arrangierte sich auch die UdSSR. Die DDR nahm 1973 diplomatische Beziehungen mit der griechischen Junta (ebenso zu Franco-Spanien und Indonesien) auf, während sie die Beziehungen zu Chile nach dem von den USA unterstützten Militärputsch vom September 1973 abbrach.
19 „Alle materiellen und intellektuellen Kräfte, die für die Realisierung einer freien Gesellschaft eingesetzt werden können, sind da. Dass sie nicht für sie eingesetzt werden, ist der totalen Mobilisierung der bestehenden Gesellschaft gegen ihre eigene Möglichkeit der Befreiung zuzuschreiben. … Möglich … ist die Abschaffung der Armut und des Elends, … der entfremdeten Arbeit, möglich ist die Abschaffung dessen, was ich ´surplus repression´ genannt habe. Ich glaube, darin sind wir relativ einig, schlimmer noch, darin sind wir, glaube ich, auch mit unseren Gegnern einig. … Aber trotzdem wir in diesem einig sind, sind wir uns noch nicht genügend klar darüber, … dass diese geschichtlichen Möglichkeiten in Formen gedacht werden müssen, die in der Tat den Bruch eher als die Kontinuität mit der bisherigen Geschichte … anzeigen, nämlich die Aktivierung, die Befreiung … einer Dimension der menschlichen Existenz diesseits der materiellen Basis.“ Herbert Marcuse, Das Ende der Utopie, in: Horst Kurnitzky/Hansmartin Kuhn (Hrsg.), Das Ende der Utopie – Herbert Marcuse diskutiert mit Studenten und Professoren Westberlins an der Freien Universität Berlin über die Möglichkeiten und Chancen einer politischen Opposition in den Metropolen in Zusammenhang mit den Befreiungsbewegungen in den Ländern der Dritten Welt, Berlin 1967, S. 14f.
20 Zwischen 1969 und 1973 waren ca. 1.000 derartige Titel im Raubdruckverfahren hergestellt worden. Walter Hanser, Alte Texte, Neue Linke – Eure Bücher, unsere Waffen. Teil 1: Sagenumwoben – Der Raubdruck, Junge Welt vom 9.8.2008, S. 13. Kleine linke Verlage schossen wie Pilze aus dem Boden. Die Akteure dieser Publikationskultur entwickelten dabei das Selbstbewusstsein einer Gegenöffentlichkeit zur manipulierenden „Bewusstseinsindustrie“ der inszenierten und kommerzialisierten Öffentlichkeit. Dies führte dazu, dass wegen der großen Nachfrage schließlich auch die „seriösen“ großen Wissenschaftsverlage marxistische Texte in ihr Verlagsprogramm aufnahmen. In der „Hitliste“ verbotener Literatur rangierte in der DDR plötzlich solcher aus dem Westen eingeführter Lesestoff ganz oben.
21 Tilman Fichter/Siegward Lönnendonker, Kleine Geschichte des SDS, Berlin 1977, S. 114f.
22 Vorveröffentlichung des Artikels „Das Missverständnis von 1968“; das Interview mit Rudi Dutschke von 1978, in der Zeitschrift Transit Nr. 35/2008, http://www.eurozine.com/articles/2008-05-16-dutschke-de.html.
23 Mit der Sprengung von Universitätsvorlesungen „reaktionärer“ oder „reformistischer“ Professoren (Go-in) und/oder ihrer Umfunktionierung zu alternativen Lehrveranstaltungen bzw. Demonstrationsforen (Teach-in) sah sich 1969 in Frankfurt sogar Theodor W. Adorno als „Reaktionär“ etikettiert.
Thomas Klein ist Zeithistoriker und Mitglied der Initiative Vereinigte Linke und lebt in Berlin.
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