von Norbert Kröcher
aus telegraph #118/119
Als im Mai 2009 aus den Trümmern eines im April 1945 abgeschossenen Flugzeugs südwestlich von Berlin die Tagebücher des Karl-Heinz Kurras geborgen wurden, hieß es sofort: Jetzt muss die Geschichte der Westberliner Linken neu geschrieben werden.
Gemach.
Es ergeben sich zwei Fragen, aus denen weitere abzuleiten sind:
Wer war Karl-Heinz Kurras, und warum tauchen die Akten ausgerechnet jetzt auf?
Fakt ist, dass sich in den „bewaffneten Organen“ aller Länder dieser Welt auffällig viele potentielle Amokläufer tummeln. Die allermeisten von ihnen unterschreiben ihren Arbeitsvertrag mit der Polizei oder Armee, bevor sie ein Massaker anrichten (das kann man dann im Dienst nachholen).
Kurras war und ist ein waffengeiles Arschloch, ein Mörder mit offensichtlich schwer gestörter Psyche. In den insgesamt drei Prozessen gegen ihn – wegen „fahrlässiger Tötung“ (sic!) verschwanden immer mehr Beweismittel und Zeugenaussagen, wurde das Recht gebeugt, bis es knackte. Zuerst war von „Notwehr“ die Rede, und als die sich nicht mehr halten ließ – ein ausgebildeter Scharfschütze schießt einem unbewaffnet flüchtenden Studenten in Jesuslatschen aus nächster Nähe in den Hinterkopf – wurde er schließlich aus „Mangel an Beweisen“ freigesprochen. Diese Form gibt es im Strafrecht heute nicht mehr; sie wurde mit den sogenannten Schwurgerichten als „Freispruch 2. Klasse“ abgeschafft.
Natürlich bin ich dafür, dass der Prozess neu aufgerollt wird. Mord verjährt nicht. Das Ergebnis darf man getrost antizipieren: Kein Richter oder Staatsanwalt wird wegen Rechtsbeugung angeklagt (das war nach 1945 nicht anders), kein Polizeibeamter wegen Falschaussage behelligt. Kurras erhält eine eher symbolische Strafe. Oder das Verfahren wird eingestellt, weil man sich auf „Totschlag“ einigt. Und der wäre verjährt.
Kommen wir zur zweiten Frage: Warum jetzt?
Die BStU ist eine durch und durch korrupte Institution, in der es von Ex-Stasisten und West-Geheimdienstlern nur so wimmelt. Das ist nicht nur meine eigene Erfahrung. Die BStU macht Politik. Sie unterdrückt Akten und zaubert andere plötzlich aus dem Hut. Ein Wissenschaftler der BStU, der ausgerechnet über die RAF promoviert hat, kolportiert z.B. in einem der Kraushaar-Machwerke Dinge über mich, die aus einem dreißig Jahre alten Buch eins zu eins übernommen wurden, dessen Autorin vor vielen Jahren als CIA-Residentin enttarnt wurde, weshalb sie aus der Washington Post rausflog. Immerhin stimmte mein Geschlecht in ihrer Biographie über mich. Mein Prozess gegen Dame & Buch war übrigens erfolgreich. Meine Stasi-Akte, allerdings, ist und bleibt ein Flickenteppich, dessen Löcher regelmäßig durch befreundete Journalisten oder andere Betroffene ausgefüllt werden. Die BStU rückt außer mehr oder weniger Banalem nichts weiter raus.
2009 ist ein gnadenloses Jubeljahr: Die DDR wird post mortem als reiner „Unrechtsstaat“ klariert, die Mauer fiel vor zwanzig Jahren, das in den letzten Jahrzehnten arg verbeulte Grundgesetz wird Sechzig, Köhler (ja richtig, der mit dem Blut unzähliger IWF-Opfer an den Händen) bleibt Bundespräservativ und ab Herbst wird das Land von der CDU/CSU nebst Rechtsaußen FDP regiert. Prima.
Hätten wir uns auch Bewegung 2. Juni genannt, wenn wir gewusst hätten, dass Kurras ein Diener mehrerer Herren ist? Na klar, ein kaltblütig liquidierter Demonstrant bleibt ein kaltblütig liquidierter Demonstrant, und ein Killer im Staatsdienst bleibt ein Killer im Staatsdienst.
Über eine mögliche Verwicklung der Stasi in die Ermordung Benno Ohnesorgs braucht man nicht zu spekulieren. Die Stasi wäre mit dem Klammerbeutel gepudert gewesen, wenn sie so etwas in Auftrag gegeben hätte. Natürlich ist es symptomatisch, dass Gestörte wie Kurras bei der Stasi willkommen waren (die wußten ja von seinen Obsessionen), aber die Machthaber jeder Couleur lieben eben nicht den Verräter, sondern den Verrat.
Und: Ich möchte nicht wissen, wie viele der Westberliner Polizisten, die mir damals auf den Kopf gehauen haben und denen ich hin und wieder auch auf den Kopf hauen durfte, doppelt kassiert haben, auch bei der Stasi in Lohn und Brot waren. Gerade in der „Freiwilligen Polizeireserve“ (vor vielen Jahren aufgelöst), einer Art Bürgerkriegsarmee, die mit polizeiuntypischen Infanteriewaffen (Maschinengewehre, Granatwerfer und Handgranaten) ausgerüstet war, tummelten sich nicht nur unglaublich viele Nazis, sondern auch viele IMs. Und die gab es auch in der Bäckerinnung, bei der Post, bei den Freunden des deutschen Schäferhundes, bei der RAF und leider auch in der Bewegung 2. Juni. Aber das ist eine Geschichte, die ein andermal erzählt werden soll.
Norbert Knofo Kröcher war Mitbegründer der Bewegung 2. Juni und lebt als Autor in Berlin.
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