von Tomasz Konicz
aus telegraph #118/119
Die Antwort auf diese Frage kann nur eindeutig dialektisch ausfallen: Ja und nein. Einerseits haben wir es objektiv mit einer revolutionären Situation zu tun. Mehr noch, die Turbulenzen auf den Weltfinanzmärkten sind nur Vorboten und Symptom einer fundamentalen Krise des spätkapitalistischen Weltsystems, das gleich in mehrfacher Hinsicht an seine Systemgrenzen stößt.
Erstens stößt die Kapitalreproduktion auf unüberwindbare „innere“ Schranken, die sich aus ihrer ureigensten Logik ergeben und zur tendenziell fallenden Profitrate wie auch zur Krise der „Arbeitsgesellschaft“ führen. Die scheinbar „außer Kontrolle“ geratenen Finanzmärkte sind nur ein Symptom dieser Entwicklung. Die Eigenschaft des kapitalistischen Systems, die Kritiker wie Befürworter gleichermaßen fasziniert, ist die permanente, konkurrenzgetriebene Umwälzung der technischen Voraussetzungen der Produktion, der unaufhörliche Fortschritt der Produktionsmittel. Derjenige Kapitalist, der die neuste Technik in der Produktion anwenden kann, erwirtschaftet auch die höchsten Gewinne, indem er mit weniger Menschen in kürzerer Zeit viel mehr Produkte herstellen kann.
Diese permanent voranschreitende „Revolution der Produktivkräfte“ bringt den tendenziellen Abbau von Beschäftigung in einem gegebenen Industriezweig mit sich. Solange neue Industriezweige weitere Beschäftigung kreieren, bleibt das Gesamtsystem im Gleichgewicht. Doch spätestens seit den 80ern löst die technische Revolution in der Mikroelektronik und Informationstechnik einen derartigen Produktivitätsschub aus, dass die Rechnung nun nicht mehr aufgeht. Automatisierung und Rationalisierung in der gesamten Wirtschaft machen viel mehr Arbeitsplätze überflüssig, als in den neuen Industriezweigen entstehen. Das Heer der „überflüssigen“ Arbeitslosen schwillt somit von Konjunkturzyklus zu Konjunkturzyklus immer weiter an. Zudem steigen mit fortschreitender technischer Entwicklung die Investitionskosten beim Aufbau der Produktionskapazitäten. Schließlich fällt die Profitrate der Unternehmen mit zunehmender Automatisierung, da im Arbeitsprozess immer weniger abstrakte Arbeit – die Quelle jedweden gesellschaftlichen Reichtums und Substanz des Kapitals – aufgewendet wird. Die mit der Stagflation einhergehende Krise der 70er Jahre, deren sozioökonomische Verwerfungen dem Neoliberalismus zur Offensive verhalfen, hatte ihre Ursache in eben diesen Entwicklungen.
Somit entstehen Berge an unverkäuflichen Waren (Überproduktion), Unmengen an brachliegendem Kapital (Überakkumulation) und die ab den 70ern auftauchende Massenarbeitslosigkeit. Auf anscheinend magische Weise löste die ab den 80ern rasch expandierende Finanzbranche dieses Dilemma. Die wild wuchernden Finanzmärkte nehmen das überschüssige Kapital auf, die während der Boom-Phasen diverser Spekulationsblasen generierten Gewinne sorgen hingegen für kaufkräftige – aber auch fiktive, kreditfinanzierte – Nachfrage. Die Finanzmärkte haben somit die stagnierende, an ihrer eigenen Widersprüchlichkeit kränkelnde, reale Ökonomie am Leben erhalten. Die offizielle Propaganda von den „bösen raffenden“ und dem „guten schaffenden“ Kapital stellt die Realität ja geradezu auf den Kopf. Salopp gesagt: Das Kapital zieht in den Finanzsektor, weil sich die Produktion „nicht mehr lohnt“. Begleitet war dieser dekadenlange Prozess der „Finanzialisierung des Kapitalismus“ von immer häufiger auftretenden Spekulationsblasen und Finanzzusammenbrüchen, wie beispielsweise 1996/97 in Südostasien, 1998 in Russland, 2002 in Argentinien – oder eben die Spekulation mit Hightech-Aktien 2000 und schließlich die US-Immobilienkrise.
Dieser finanzmarktgetriebene Kapitalismus war auf Sand errichtet, da im Finanzsektor selber ja keine neuen Werte erzeugt werden können – es handelt sich hierbei um ein Nullsummenspiel, bei dem Reichtum den Besitzer wechseln kann, aber kein neuer Reichtum entsteht. Die Finanzmärkte brauchen immer neuen „Brennstoff“ an frischem Kapital, um ihr Wachstum, um die besagte „Finanzielle Explosion“ aufrecht erhalten zu können. Letztendlich funktionierte diese Expansion der Finanzmärkte über eine exzessive Ausweitung der Dollarmenge seitens der US-Notenbank Fed und die astronomische Verschuldung insbesondere bei den Privathaushalten der USA – aber auch bei Staat, Wirtschaft und Finanzmarktakteuren. Der Boom der letzten Jahre war in seiner Essenz auf Pump finanziert, die Verschuldung der USA – des Zentrums der „Defizitkonjunktur“ – ist mit über 355 Prozent des Bruttosozialprodukts inzwischen nahezu doppelt so hoch, wie zu Zeiten der „Großen Depression“ ab 1929. Die Industrie, die produzierende Wirtschaft sind nun auf sich selbst zurückgeworfen, da die stimulierenden Effekte der Finanzialisierung ausbleiben, so dass eine Überproduktionskrise gigantischen Ausmaßes sich vollzieht, die mit allgemeiner sozialer Desintegration der Gesellschaft einhergeht und das Heer der „Überflüssigen“ in bislang nicht gekannte Dimensionen anschwellen lässt.
Wir werden in dieser Hinsicht wohl Zeugen einer geschichtlichen, dialektischen „Negation der Negation“ werden: Die von Marx im 24. Kapitel des „Kapital“ so eingehend beschriebene, „ursprüngliche Akkumulation“, die der Etablierung des Kapitalismus vorausging, brachte ebenfalls Pauperismus und den Terror gegen die „überschüssige“ Bevölkerung mit sich, die aus der feudalen Agrarverfassung im Zuge der kapitalistischen „Enclosures“ gedrängt wurde. Im Zuge der an Dynamik gewinnenden Industrialisierung wurde dieser Prozess der Marginalisierung „negiert“, indem die Mehrheit der Bevölkerung proletarisiert wurde, in der Masse der Industriearbeiterschaft aufging. „Wir werden immer mehr“, das war die optimistische Prognose einer jeden Arbeiterpartei des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Seit den 70ern wird diese expansive Entwicklung wiederum „negiert“, da nun die Massen des Proletariats mit jedem Innovationsschub immer weiter abschmelzen. Im Verlauf dieser „Krise der Arbeitsgesellschaft“ entstehen erneut Pauperismus und Marginalisierung, werden die „Überflüssigen“ erneut mit Arbeitshaus, Zwangsarbeit, Lebensmittelentzug und – vorerst nur – mit Meinungsterror der Massenmedien drangsaliert. In dieser Hinsicht ähneln sich Genese und Zerfall des kapitalistischen Weltsystems frappierend.
Die „äußere“ Schranke, an die der Kapitalismus stößt, bildet unser globales Ökosystem. Inzwischen beschleunigt sich der globale Ausstoß von Klimagasen viel stärker, als selbst in den pessimistischsten Prognosen des IPCC (International Panel for Climate Change) vorhergesehen. Zudem gehen viele bislang notwendige oder gar lebenswichtige Ressourcen aufgrund der dem Kapitalismus innewohnenden Tendenz zur „effektivsten Verschwendung“ zur Neige. Allen Sonntagsreden zum Trotz ist ein Umdenken nicht in Sicht: Einem Junkie gleich stürzen sich Staaten und Konzerne auf die verbliebenen Reserven an fossilen Energieträgern, wird fieberhaft in allen Ecken und Enden der Welt nach neuen Erdgas- und Ölvorkommen gefahndet. Das Abschmelzen des Eispanzers in der Arktis, das höchstwahrscheinlich katastrophale Auswirkungen auf das Klima der nördlichen Hemisphäre mit sich bringt, verleitet deren Anrainerstaaten nur zu einem Wettlauf um die unter dem rapide schmelzenden Eis verborgenen, fossilen Energieträger – um noch mehr CO2 in die Luft zu pusten.
Das zivilisationsbedrohende Potential des Klimawandels wird ebenfalls erst bei einer dialektischen Herangehensweise an diese Problematik deutlich, wie am Beispiel des arktischen Eispanzers erläutert werden soll. Seit einiger Zeit schon diskutiert die Wissenschaft den Begriff des »Schnellen Rückkopplungseffekts« (fast-feedback-effect). Demnach schmilzt beispielsweise das Eis am Nordpol nicht langsam und graduell über die Jahrhunderte, sondern schlagartig, binnen (klimageschichtlich) kürzester Zeit. Das gesamte arktische Klimasystem würde entsprechend schlagartig »kollabieren«, d.h. von einem Zustand (geschlossene Eisdecke Polarmeer) in einen anderen (eisfrei im Sommer) umschlagen, wie beispielsweise der US-amerikanische Klimawissenschaftler James E. Hansen befürchtet. Was Hansen hier entdeckt hat, ist eine alte Gesetzmäßigkeit materialistischer Dialektik. Die geht seit Marxens Zeiten davon aus, dass beständige, quantitative Änderungen in einem komplexen System – wie in diesem Fall der Anstieg der CO2-Konzentration in der Atmosphäre – ab einem bestimmten Punkt zu einem plötzlichen, qualitativen Sprung führen, der das System in einen gänzlich anderen Zustand überführt. Wie dieses »Umschlagen von Quantität in Qualität« vonstatten geht, kann jeder seit 1878 im »Anti-Dühring« und seit 1883 in der »Dialektik der Natur« nachlesen. Im gewissen Sinne entdeckt die Naturwissenschaft gerade die Marxsche Dialektik neu – freilich, ohne dies zu bemerken.
Diese Unfähigkeit des Systems, auf die schwerwiegendsten zivilisatorischen Bedrohungen – die Ressourcenverknappung und den Klimawandel – adäquat zu reagieren und statt dessen mit einer Radikalisierung der bestehenden Energiepolitik die entgegengesetzte Richtung einzuschlagen, ist auf mehrere der Kapitallogik innewohnende Faktoren zurückzuführen. Zu den wichtigsten Faktoren gehören die Eigentums- und Produktionsverhältnisse in etlichen Schlüsselindustrien der „Ersten Welt“. Einer umfassenden, radikalen Energiewende, dem notwendigen schnellen Ausbau regenerativer Energien, stehen die Interessen derjenigen einflussreichen Konzerne und Wirtschaftszweige gegenüber, die am Status quo blendend verdienen. So konnte ExxonMobil, der weltweit größte Ölkonzern, im vergangenen Jahr mit 40,6 Milliarden US-Dollar (27,3 Milliarden Euro) den höchsten Gewinn eines US-Unternehmens in der gesamten Wirtschaftsgeschichte des Landes erzielen. Nicht anders sieht es bei den deutschen Energiekonzernen aus, die in den regenerativen Energien eine Bedrohung für ihre zentralisierte Stromversorgung mittels Kohle- und Atomkraftwerke erblicken. Auch die allmächtige deutsche Autoindustrie ist permanent bemüht, den Klimaschutz zu untergraben. Vor allem vor dem Hintergrund der nun um sich greifenden Wirtschaftskrise sollen die Klimaschutzziele der BRD aufgeweicht werden.
Könnten diese Blockaden noch rein theoretisch von der Politik überwunden werden, so birgt der Prozess der Kapitalreproduktion auch objektive Schranken, die einem ökologischen Umbau unserer Gesellschaft im Wege stehen. Wie bereits am Fall der Finanzmärkte erläutert, können Reichtum und Werte nur mittels Produktion erarbeitet werden, durch den Einsatz von Rohstoffen, Arbeit und Energie. Tatsächlich ist das reale Wirtschaftswachstum, das nur der volkswirtschaftlich sichtbare Ausdruck der Akkumulation von Kapital ist, an seine „stoffliche Grundlage“ gebunden. Der Unternehmer investiert sein als Kapital fungierendes Geld in Rohstoffe, Arbeitskräfte und Energie, um in Fabriken hieraus neue Waren zu schaffen, die mit Gewinn verkauft werden. Das hiernach vergrößerte Kapital wird in diesem endlosen Verwertungsprozess des Kapitals in noch mehr Energie, Rohstoffe etc. investiert, um wiederum noch mehr Waren herzustellen. Dieser uferlose Kernprozess kapitalistischer Produktion hat permanentes Wachstum des Kapitals zum Ziel – niemand investiert sein Geld, um danach weniger oder genauso viel zu erhalten. Hiermit müssen auch die Aufwendungen – Rohstoffe und Energie – für diesen Verwertungsprozess permanent erhöht werden. Aufgrund des drohenden, katastrophalen Klimawandels und der Erschöpfung von Energieträgern und Rohstoffen käme dieser Reproduktionsprozess des Kapitals sozusagen an seine „physikalische Grenze“.
Das kapitalistische Weltsystem ist unfähig, diese inneren und äußeren Schranken seiner Reproduktion zu überwinden – „die da Oben“ wissen tatsächlich nicht mehr, wie es noch weitergehen könnte. Die bisherigen „Lösungsvorschläge“ der Politik offenbaren den ganzen Irrsinn unseres Wirtschaftssystems: Diese reichen von Investitionsprogrammen in den Straßenbau bis zu Steuererleichterungen beim Fahrzeugkauf und „Abwrackprämie“; sie zielen also darauf ab, die blinde Kapitalreproduktion aufrecht zu erhalten und letztendlich den Ausstoß von Treibhausgasen zu erhöhen, sowie das Eintreten der Klimakatastrophe noch zu beschleunigen. Wir befinden uns somit nicht nur in einer revolutionären Situation, sondern auch an einem historischen Wendepunkt, an dem sich entscheiden wird, ob die menschliche Zivilisation in eine demokratische, humane, egalitäre, postkapitalistische Gesellschaft weiterentwickelt werden kann, oder ob die Menschheit in einem Zeitalter bislang noch namenloser Barbarei versinkt, in der sich die Zusammenbruchs-Regionen in Afrika, Lateinamerika oder Asien schon befinden.
Die Linke muss diese beiden, die Zivilisation bedrohenden Selbstzerstörungstendenzen des Kapitalismus – die „innere“ und „äußere“ Schranke der Kapitalreproduktion – auf ihre gemeinsame Ursache im innersten Kern der Kapitalreproduktion beziehen und eine eindeutige Antwort auf das drohende Verhängnis formulieren: Das kapitalistische Weltsystem muss um unseres nackten Überlebens willen überwunden werden. Die Klimakrise und die Weltwirtschaftskrise müssen als Folgen der an ihre – inneren, logischen und auch äußeren, ökologischen – Grenzen stoßenden Kapitalakkumulation verstanden werden. Dieses über uns herrschende Weltsystem wird eh zugrunde gehen. Die Frage stellt sich nur noch, was kommt danach? Wenn die Linken und Progressiven Kräfte den Übergang in eine humane, postkapitalistische Gesellschaft nicht thematisieren und organisieren können, werden sie von dem kommenden Chaos verschlungen werden. Die drohende gesamtgesellschaftliche Desintegration könnte faschistische oder gar feudale Verfallsformen annehmen, an deren Ende uns eine realisierte Dystopie droht, die irgendwo zwischen den von Clankämpfen zerrütteten Somalia oder Orwells „1984“ ihre Entsprechung fände.
Soviel zu den objektiven Voraussetzungen der (überlebens-) notwendigen Revolution. Wie sieht es mit den subjektiven Voraussetzungen aus, mit dem Bewusstsein der im Spätkapitalismus vegetierenden (von einem „Leben“ wollen wir doch lieber hier nicht sprechen) Menschen aus? Wollen „die da Unten“ nicht mehr? Diese Frage kann mensch leider nur verneinen, die subjektiven Bedingungen einer Revolution, ein weit in der Bevölkerung verbreitetes bewusstsein seiner tatsächlichen Lage und der daraus resultierenden Möglichkeiten, sind in keinster Weise gegeben. Es ist sogar noch viel schlimmer. Je offener die gesellschaftlichen Verhältnisse die Notwendigkeit ihrer baldestmöglichen Überwindung herausschreien, desto verblendeter die Massen, desto illusorischer, ja utopischer sind anscheinend alle Versuche, Alternativen zur bestehenden Selbstzerstörungsunordnung zu denken. Jedwedes Untergangsszenario, eine jede Apokalypse, die immer wieder durch die Massenmedien geistert, wird von den Menschen anstandslos als möglich, wahrscheinlich, ja unabänderlich hingenommen. Doch auch nur einen Gedanken an die Befreiung zu äußern, ernsthaft vorzuschlagen, dieses irrsinnige Gesellschaftssystem zu überwinden, wird unverzüglich als obszön, pervers, ja irre gebrandmarkt.
De facto sind die gesellschaftlichen Zustände zur stummen Voraussetzung, zum Fundament jedweder verkümmerten Denkbewegung geworden. Die grundlegenden Formen kapitalistischer Vergesellschaftung erlangen eigentlich den Charakter von Naturgesetzen, so dass der herrschenden Ideologie ein Gedanke an eine Alternative zum Kapitalismus ähnlich abstrus erscheint, wie die Idee einer alternativen Physik. Herrschaft und Unterdrückung im Kapitalismus findet vermittelt/mittelbar über den Markt statt, und dieser nahm im Laufe der Jahrhunderte den Charakter einer Naturgesetzmäßigkeit an. Rezession und Aufschwung oder Börsenkrach scheinen den verblendeten Menschen als ein ewiger Naturkreislauf, ähnlich Naturphänomenen wie Ebbe und Flut, Sonnenschein oder Gewitter. Kapital ist überdies ein Abstraktum, ein gesellschaftliches Verhältnis (die Kapitalakkumulation), was dem auf Verdinglichung dressierten Bewusstsein der Menschen schwer verständlich gemacht werden kann. Wir können niemand das Kapital „zeigen“. Der Faschismus setzt gerade hier an – er bietet konkrete, das abstrakte (Finanz-) Kapital symbolisierende Sündenböcke an – die Juden.
Diese Tendenzen der „Entrückung“ der kapitalistischen Gesellschaftsstruktur aus dem öffentlichen Bewusstsein, das nun implizit diese bestehenden Produktionsverhältnisse zur Grundlage jeglicher gesellschaftlichen Diskussion hat, wurden mit dem Aufkommen der Massenmedien – der „Kulturindustrie“ – zementiert. Hier hat die Kritische Theorie Entscheidendes zum Verständnis der gegenwärtigen Situation beigetragen. Nach dem Zweiten Weltkrieg bauten Rundfunk, Fernsehen, Zeitschriften und Unterhaltungsindustrie ein alle Gesellschaftsschichten umfassendes und nahezu alle Gesellschaftsmitglieder erreichendes System auf. Diese „Bewusstseinsindustrie“ bringt eine Gleichschaltung der Bevölkerung mit sich, die vermittels der – durch blinde Marktdynamik getriebenen – ewigen „Wiederkehr des Immer gleichen“ jedweden Gedanken an Alternativen abtötet. Dies geschieht durch die endlose Verdopplung der „Oberfläche der Realität“, wie Max Horkheimer ausführte:
„All diese ingeniösen Apparate der Vergnügungsindustrie reproduzieren stets aufs neue banale Szenen des Alltags, die gleichwohl trügerisch sind, weil die technische Exaktheit der Reproduktion die Falschheit des ideologischen Inhalts oder die Willkür, mit der ein solcher Inhalt vorgeführt wird, verschleiert. … Die moderne Massenkultur glorifiziert die Welt wie sie ist, obgleich sie sich an abgestandenen Kulturwerten orientiert. Die Filme, das Radio, die populären Biographien und Romane haben denselben Refrain: dies ist unser gewohntes Gleis, dies ist die Spur des Großen und dessen, was gern groß wäre – dies ist die Wirklichkeit, wie sie ist und sein sollte und sein wird.“ (Horkheimer, Kritik der instrumentellen Vernunft, S. 160)
„Es ist, wie es ist“ – das ist letztendlich der in unsere Massenmedien eingewobene Subtext. So, wie die herrschende Ideologie die Gesellschaft imaginiert, so spiegelt dieses sich in einer jeden Manifestation der Kulturindustrie wieder: Von der Bild-Zeitung über Batman, die Tagesschau, World of Warcraft bis zu – ja, bis zu „Second Life“, wo dieses Prinzip der immer gleich wiederkehrenden Verdopplung der „Oberfläche der Realität“ bis zum logischen Endpunkt getrieben wurde. Diese Tendenz der Kulturindustrie tötet jedwede Gedanken an Alternativen ab.
Wie weit fortgeschritten dieser Prozess ist, wird am politischen Koordinatensystem, beispielsweise an der Politik der Linkspartei – auch angesichts der Krise – ersichtlich, die von einer breiten Diskussion gesellschaftlicher Alternativen weit entfernt ist. Der linke Flügel der „Linken“ argumentiert wie gemäßigte Sozialdemokraten der 70er, während die Rechten in der Linkspartei knallharte neoliberale Politik – beispielsweise in Berlin – betrieben. Das politische Koordinatensystem erfuhr also in den vergangenen Dekaden eine fundamentale Verschiebung nach rechts. Die heute als „koalitionsunfähig“ oder gar „extremistisch“ verschrieenen Linken möchten de facto die Regierungspolitik Willy Brandts fortführen. So sieht der angebliche „Linksschwenk“ in der deutschen Gesellschaft tatsächlich aus: Nur vor dem Hintergrund der extremistischen Realität können kreuzbrave Sozialdemokraten, deren Forderungen nach Konjunkturprogrammen bereits von der Großen Koalition selbst umgesetzt werden, von der veröffentlichten Meinung als „linksradikal“ abgestempelt werden.
Die Ursachen für das totale Fehlen jeglicher subjektiven Voraussetzungen der Revolution gehen noch tiefer, wie Untersuchungen der Kritischen Theorie zeigen. Die Deformierung des Denkens in der spätkapitalistischen Gesellschaft lässt die elementarsten Begriffe verkümmern und so den Kampf um Befreiung zu einer wahren Sisyphusarbeit ausarten. Verhängnisvoll ist vor allem die Transformation des Vernunftsbegriffs – die Vernunft ist nur noch als bloßes Zweck-Mittel-Denken legitim, als reine Rationalität, die von dem Zweck eines rationalen Vorgehens absieht und es als geradezu „unvernünftig“ ansieht, „objektive“, absolute und gar ethisch motivierte Ideen als Grundlage des vernünftigen Denkens zu setzen. Hier nochmals Horkheimer zu dieser fundamentalen geistesgeschichtlichen Umwälzung, die im 20. Jahrhundert stattfand:
„Ewige Ideen, die dem Menschen als Ziele gelten sollen, zu vernehmen, in sich aufzunehmen, hieß seit langer Zeit Vernunft. Für jeweils vorgegebene Ziele die Mittel zu finden, gilt dagegen heute nicht allein als ihr Geschäft, sondern als ihr eigentliches Wesen. Ziele, die einmal erreicht, nicht selbst zu Mitteln werden, erscheinen als Aberglaube.“ (Kritik der instrumentellen Vernunft, S. 9)
Die instrumentelle Vernunft kennt nur Mittel und frei wählbare Zwecke, von deren konkreten Gehalt abgesehen wird – wobei jeder erreichte Zweck wieder nur zu einem Mittel eines neuen Zwecks wird. Hier, in dieser Ratio, spiegelt sich die unendliche, uferlose, als Selbstzweck fungierende Kapitalakkumulation wieder, die unser gesamtes Leben beherrscht. Jahrhunderte, in der zuerst die Religion und dann die Werte der Aufklärung als objektiv, „Gott-“ oder „naturgegeben“ galten, wurden durch eine „Überbelichtung“ der Vernunft im 20sten Jahrhundert zu besagter instrumentaler Rationalität in Geschichte überführt. Vernunft – der „Mut, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen“ – galt in der Aufklärung gerade als das Medium, welches die allseitige menschliche Emanzipation verwirklichen wird. Heute hingegen zu behaupten, eine Welt ohne Unterdrückung und Ausbeutung sei erstrebenswert, wird als persönliche, subjektive Marotte, als eine Frage privater Pseudo-Religiosität ohne objektive Notwendigkeit abgetan, der man mit gutem Recht auch andere subjektive Vorstellungen entgegensetzen könne – wie die, einer entlang neoliberaler Prinzipien organisierten Welt. All diese Vorstellungen werden ja von der instrumentellen Vernunft als rein „subjektive“, private Meinungen angesehen, die nicht vernünftig in sich selbst sind. So können neoliberale Reformen laut herrschender Zweckrationalität durchaus „vernünftig“ umgesetzt werden, wenn dies in besonders effizienter Art und Weise geschieht. Für die instrumentelle Vernunft gilt nur das eigene Überleben als die einzig objektive, der Zweck-Mittel-Ratio zugrunde liegende „oberste Maxime“. Dies ist der letzte ideologische Widerschein des Kampfes „Aller gegen Alle“, der zwischen den ohnmächtigen Marktsubjekten tobt.
Genau hier gilt es anzusetzen, mensch muss die Überwindung des kapitalistischen Systems zu einer Vorbedingung des „eigenen Überlebens“ erklären – und dieses ist wiederum nur mittels der Realisierung einer Gesellschaftsformation möglich, die entlang emanzipativer Werte wie Freiheit und Gleichheit errichtet wird. Die einstmals als „metaphysisch“ von der instrumentellen Vernunft verpönten „ewigen Ideen“ erhalten so tatsächlichen, „objektiven Charakter“, sie werden zum unabdingbaren Mittel zur Erreichung der einzigen obersten Maxime (des Überlebens), den der reine Zweckrationalismus zulässt. Eine „Andere Welt“ ohne Unterdrückung und Ausbeutung ist überlebensnotwendig, so müsste angesichts der sich zuspitzenden Krisenerscheinungen im Kern linke und progressive Argumentation verlaufen. Dies ist keine Frage der eigenen, subjektiven Wertvorstellungen, es ist eine Frage der Einsicht in die Notwendigkeit. Es bleibt uns letztendlich tatsächlich nichts anderes, als an den Überlebenswillen der Menschen zu appellieren, um sie zum nun anstehenden (Überlebens-) Kampf zu motivieren.
Wir haben es somit tatsächlich mit einer bis zum äußersten zugespitzten Situation zu tun; mit einer Epoche, in der – dialektisch formuliert – ein „qualitativer Sprung“ der Menschheitsentwicklung stattfinden wird. Der ökologische wie gesellschaftliche Kollaps zeichnet sich deutlich am Horizont ab, die Notwendigkeit der Revolution kontrastiert mit der nahezu totalen Verblendung der Massen. Immerhin muss konstatiert werden, dass die Kulturindustrie ihre volle Wirkung in den sozialdemokratisch geprägten Gesellschaften des „Wirtschaftswunderlandes“ der Nachkriegszeit entfaltet hat, in der „Sozialpartnerschaft“, und ein umfassendes Sozialsystem dem Konformismus der Lohnabhängigen eine gewisse materielle Grundlage gaben. Wird die nun einsetzende Verelendung breitester Bevölkerungsschichten die im komatösen Schlaf der Kulturindustrie verfangenen Menschen aufwecken? Nicht zwangsläufig. Die Anpassungsfähigkeit des Menschen kennt leider kaum Grenzen und könnte uns noch zum Verhängnis werden. Wenn auf den Philippinen Menschen auf – und von – Müllkippen leben können, wenn in einer jeden Wellblechhütte der brasilianischen „Favelas“ sich ein Fernseher findet, mit dem die Kulturindustrie den Marginalisierten ihr süßes Gift injiziert: Wieso sollte dies nicht auch in Deutschland möglich sein?
Gibt es Hoffnung? Können wir etwas tun? Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht; die folgenden Ausführungen können folglich nur den Charakter von Diskussionsvorschlägen haben. Immerhin – im Osten, im gesamten postsowjetischen Raum, gibt es noch das Bewusstsein darüber, das ein Gesellschaftssystem nichts „Natürliches“, Unabänderliches ist. Hier brach vor wenigen Dekaden ein ganzes Weltsystem über den Menschen zusammen. Es wäre doch eine schöne Ironie der Geschichte, wenn ausgerechnet der Zusammenbruch des autoritären, real existierenden Sozialismus die massenpsychologischen Voraussetzungen zur Überwindung des autoritären, real existierenden Kapitalismus gelegt hätte. Schließlich könnten die Kommunikations- und Organisationsmöglichkeiten, die das Internet uns bietet, einen Raum für freie Diskussion, Aufklärung, Orientierung schaffen. Hier hat die US-amerikanische Linke Erstaunliches vollbracht und nahezu so etwas wie eine „Gegenöffentlichkeit“ erschaffen, die Millionen Menschen erreichen kann.
Die „virtuelle“ Organisierung über das Internet reicht nicht aus. Die herrschende Ideologie, tausendfach gespiegelt durch die Apparate der Massenmedien, sagt: In der Krise ist sich jeder der Nächste. Sie fördert die allseitige Konkurrenz aller gegen alle, gegenseitiges Ausbooten, Bescheißen und Verarschen – tendenziell auch gegenseitiges Abschlachten. Wir sollen in der Krise über uns herfallen, damit es auch zukünftig Herrscher und Beherrschte geben kann.
Ich glaube, wir müssten am kommenden Elend, an den konkreten Verwerfungen vor Ort ansetzen, das Netz der solidarischen Zusammenarbeit zwischen den Menschen knüpfen, das die Macht zu zerschlagen suchen wird. Wir müssten uns von Unten her organisieren, an konkreten Kämpfen ansetzen – mit den Menschen streiten, die in dieser Krise unterzugehen drohen, diese konkreten Bewegungen zusammenführen an ihrem gemeinsamen, objektiven, um des Überlebens der menschlichen Zivilisation willen absolut notwendigen, scheinbar so „abstrakten“ Punkt: Der Überwindung dieses über uns zusammenbrechenden, uns in die Barbarei hinunterreißenden, kapitalistischen Systems.
1945, am Ende des letzten großen Krieges, der in Folge der letzten großen Weltwirtschaftskrise von 1929 ausbrach, untersuchte der kritische Theoretiker Leo Löwenthal in seinem Text „Individuum und Terror“ die „Ursachen und Wurzeln“ des Massenterrors in der modernen Zivilisation, der in Auschwitz seinen abscheulichen Kulminationspunkt fand: „Die Menschheit hat sich in Folge der von ihr entwickelten Technologie selbst weitgehend überflüssig gemacht. Moderne Maschinen und Organisationsmethoden ermöglichen es einer relativ kleinen Gruppe von Managern, Technikern und Experten verschiedenster Art, den gesamten Industrieapparat in Gang zu halten. Unsere Gesellschaft hat das Stadium potentieller Massenarbeitslosigkeit erreicht; und Massenbeschäftigung ist im zunehmenden Maße das manipulative Produkt eines Staatsapparates, der überzählige Menschenmengen in öffentliche Arbeiten abschiebt, zu denen Armeen und öffentliche und halb-öffentliche politische Organisationen gehören, um die Menschen einerseits am Leben und andererseits unter Kontrolle zu halten.“ (Löwenthal, Falsche Propheten, Studien zum Autoritarismus. S. 172)
Das klingt doch vertraut, oder?
Tomasz Konicz ist Journalist und lebt in Polen.
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