DIE BARBAREN KOMMEN?

von Matthias Bernt
aus telegraph #106

Uwe Radas neues Buch schwankt zwischen Weitblick und Verwirrung.

Osteuropa kommt nach Berlin. Doch dort blickt man in Richtung Westen. Auf diese beiden Sätze lässt sich die Message des neu erschienen Buches des taz-Redakteurs Uwe Rada zusammenfassen. Und es ist tatsächlich so. In der deutschen Hauptstadt leben heute allein 200.000 russischsprachige Auswanderer, hinzukommen Polen, Jugoslawen, Ukrainer und Bulgaren. Die Zahl der sich illegal oder auch nur zeitweise in Berlin aufhaltenden Osteuropäer kennt kein Mensch. Auf jeden Fall gehören Polnisch und Russisch in der Berliner U-Bahn längst zum Alltagston. Auch auf den unzähligen Baustellen hört man vor allem russisch und polnisch, dasselbe gilt für Putzkräfte und für eine Vielzahl von Spätverkaufsläden. Die Osteuropäisierung der deutschen Hauptstadt ist also in vollem Gange. Gleichwohl blicken die Eliten Berlins immer noch nach Westen. Als Markenzeichen des „neuen Berlin“ gelten der Cappuccino in den „Hackeschen Höfen“, die Turnschuh-Generation der „New Economy“ und vielleicht auch noch Potsdamer Platz und Reichstag – auf keinen Fall aber polnische Putzkolonnen, russische Jugendliche und Plattenbauten. Im Gegenteil: der Alexanderplatz wird als „Vorposten der Mongolei“ beschimpft und an der Plattenkante beginnt für Kommentatoren die „russische Steppe“. Gegen diese Ignoranzen trägt Uwe Rada eine Vielzahl von Geschichten zusammen. In einem bunten Reigen erzählt er von russischen Bauarbeitern und polnischen Künstlern, Grenzmärkten und Zollkontrollen, von Marzahn reist er über Kostrzyn nach Przemysl und zurück. Das dabei entstehende Bild wird schließlich mit den Vorurteilen des (West)Berliner Bürgertums konfrontiert, für das Cappuccino immer noch für „Zivilisation“ und Soljanka für „Barbarei“ steht. Dadurch gelingt Uwe Rada eine Neuinterpretation von Berliner stadtpolitischen Debatten, die sich auf einmal allesamt als Versuch der Abwehr gegen die einfallenden osteuropäischen „Barbaren“ und als Angst vor der „Verostung“ entsc ??d ?Ahlüsseln. Gerade in dieser Verknüpfung liegt die Stärke des Buches und Uwe Rada bestätigt sich hier wieder einmal in seiner Rolle als Berliner Prophet, der dem Mainstream-Diskurs über die neue „Metropole“ ein paar unbequeme Tatsachen vorhält, die zwar jeder wissen könnte, aber sich kaum einer zu sagen traut. Angesichts der chronischen Piefigkeit – sowohl der alten Frontstadtberliner als auch ihres lifestylenden Mitte-Pendants – ist der Verdienst einer solchen Aufklärungsarbeit kaum zu unterschätzen. Willkommen in der Wirklichkeit also! Trotzdem leidet das Buch an einem ganzen Haufen Rada-typischer Schwächen, die das großartige Unterfangen stellenweise nur schwer genießbar machen. Das betrifft zunächst einmal den Haufen an Ungenauigkeiten, Übertreibungen und unredlichen Zuspitzungen, mit denen Uwe Rada versucht, die Wirklichkeit auf seine literarische Linie zu bringen. Ein Beispiel: Auf Seite 89 versucht er zu schildern, wie die polnischen Wirtschaftszentren in der letzten Dekade gewachsen sind und wie mickrig sich dagegen Berlin ausnimmt. Er findet dafür folgendes Bild: „… dass sich der Potsdamer Platz im Vergleich zur Skyline Warschau seltsam bescheiden ausnimmt. Wie Perlen an einer Kette reihen sich die Hochhäuser entlang der Aleja Solidarnoœci und der Aleja Jerozolimskie. Auf der Marzalkowska herrscht an manchen Tagen eine Geschäftigkeit wie Downtown New York.“ Nun stimmt es sicher, dass in Warschau wirtschaftlich mehr los ist, als in Berlin. Aber machen weniger als ein Dutzend Hochhäuser gleich „einen Kranz“ aus? Und muss es gleich New York als Vergleichsgröße sein? Hier wäre weniger sicher mehr gewesen und das gilt leider oft in diesem Buch. Eine weitere Unschärfe ergibt sich durch die Figur des „Barbaren“, die Uwe Rada aus den Abwehrdebatten des Westberliner Bürgertums übernimmt, – inspiriert von einem Aufsatz Walter Benjamins – dialektisch wendet und auf die neuen osteuropäischen Einwanderer projiziert. Der von den Bindungen seiner Herkunftsgesellschaft befreite „Barbar“ wird dabei zum Träger der Veränderung, der mit Wenigem auskommend, die Regeln seines Ziellandes missachtend, „reinen Tisch“ macht, von Vorne beginnt und dadurch das Neue anfängt. Die Ankunft der russischen, polnischen, kasachischen und kalmückischen Zuwanderer kriegt dadurch – zumindest in Uwe Radas Schreibe – eine ganze Portion an utopischem Gehalt. Sie werden zum Ferment einer Dekomposition des arrivierten „Westens“, der Uwe Rada hoffnungsvoll entgegenblickt. Gerade an diesem prophetischen Punkt wird das Buch leider mehr als undeutlich. Wie ist es denn nun mit der „barbarischen“ Freiheit der Zuwanderer? Ist sie, wie der Hippie sagt, „just another word for ??d ?A nothing left to loose“? Oder worin besteht sie? Ist sie eher eine Mentalitätsfrage oder lässt sie sich ganz konkret im Handeln der in Berlin wohnenden Osteuropäer beobachten? Man erfährt es leider nicht. Im Gegensatz zur detailreichen Schilderung osteuropäischer Grenzverhältnisse und westlicher Abwehrmechanismen wird die Beschreibung hier außerordentlich dünn und die Antwort bleibt dem Geschmack des Lesers überlassen. Der Schuss geht also in die richtige Richtung – aber er entwickelt zu wenig Schubkraft und bleibt weit vor dem Ziel im Boden stecken. Aus diesem Grund hat das Buch in der Zeit, seit seinem Erscheinen, (auch bei den von ihm Angegriffenen) bis jetzt fast nur Zustimmung, aber kaum Kontroversen und Diskussionen ausgelöst. Und das ist schade. Denn die „Barbaren“ verweisen auf neue Realitäten und sie stellen Fragen, denen sich noch kaum jemand gestellt hat.

Uwe Rada: Berliner Barbaren. Wie der Osten in den Westen kommt, BasisDruck Verlag, (Euro 19,40)

Matthias Bernt ist Politologe und freier Mitarbeiter der Zeitschrift telegraph. Er lebt in Leipzig und Berlin.

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