von Wolfgang Rüddenklau
aus telegraph #105
Wie fühlt man sich eigentlich als früheres Mitglied einer Opposition gegen einen Staat, der nicht mehr existiert in der neuen Weltordnung? Das fragen mich Bekannte und das frage ich mich mangels anderer und neuer Identitäten ständig und komme zwangsläufig nur zu einer Antwort: deplaziert. Kaum überraschend geht es nicht nur mir so, sondern einer ganzen Reihe von früheren Mitkämpfern. Nur, dass ich persönlich die Konsequenzen gezogen habe und meiner Rolle als überlebender Dinosaurier auch insofern gerecht werde, als ich auf allerhand modische Anpassung verzichte und mich inmitten des süddeutschen Geburtenüberschusses, der mittlerweile im Prenzlauer Berg die arbeitslosen Einkünfte der Väter verjubelt, immer noch kleide – und auch noch so rieche – wie vor 10 Jahren.
Das stößt auf Unverständnis.
Aber im Ernst: Mir war mit zunehmender Literatur- und Geschichtskenntnis schon seinerzeit in den Siebzigern klar geworden, dass es keine ganz einfache Sache ist, sich, nach all den millionenfachen Kolateralschäden des sowjetischen Sozialismus-Experiments und nach dem fast restlosen Untergang der deutschen Demokratiebewegung spätestens in den Konzentrationslagern Hitlers, als Linker und als Demokrat zu platzieren. Immerhin war ich so naiv, anzunehmen, es käme halt darauf an, diese ganzen teuflischen Geschichten im Hinterkopf zu haben und zu versuchen, etwas daraus zu lernen, vergangene Fehler schonungslos zu denunzieren und neue Entwürfe unter Vermeidung alter Irrtümer zu wagen, „ein Staat als Kunstwerk nach dem Modell der Freiheit“, wie es der alte 1848er Johann Jacoby ausdrückte.
Dazu ist es bekanntlich nicht gekommen. Unter anderem, weil weder die Regierung Krenz, noch die des Herrn Modrow jemals ernsthaft darüber nachgedacht hat, irgendwelche Verhandlungen mit der Opposition zu führen, sondern zunächst die Rettung der möglichst ungeteilten eigenen Macht versuchte und sich, als dies nicht gelang, stattdessen mit der westdeutschen Obrigkeit einließ, um wenigstens die Alimentierung eines Großteils des Personals der Diktatur zu ermöglichen – was ja auch gelang. Ich habe es – im Unterschied zu vielen – bis zuletzt immer noch für nötig und möglich gehalten, dass sich die SED erneuert. Dieses Versagen im Herbst 1989, nämlich in der einzigen Situation, in der das Bekennen von Farbe möglich war, werfe ich den vielberufenen „Erneuerern“ vor und hege von daher begründeten Zweifel, ob es in der PDS irgendeinen Neuanfang gegeben haben kann oder geben wird.
So steht man also als der beschriebene Dinosaurier in der neuen Weltordnung und versucht sich zu Problemen der Neuzeit zu verhalten, zur Frage beispielsweise, wie man sich dabei fühlt, dass wir jetzt wieder jemand sind und deutsche Kanonenboote demnächst vor Afghanistans Küsten auftauchen (Seite an Seite mit unseren westlichen Bruderstaaten und etwas hinter ihrem Rücken versteckt natürlich). Dazu fällt mir dann nur der sicherlich deplazierte Witz aus der DDR-Zeit ein, was der Unterschied zwischen Freunden und Brüdern ist: Freunde kann man sich aussuchen. Oder was meine ich eigentlich als Stasigeschädigter zu den neuen Sicherheitsgesetzen der Rot-Grünen Regierung und zur neuerlichen Aufwertung von Geheimdiensten? Nun, der Zahn, dass ich als Neudeutscher ohne den seinerzeit von den Nazis in Deutschland eingeführten Personalausweis herumlaufen könne, der wurde mir ja schon durch die Schönbohmsche Neuauflage der Berliner Polizeigesetze gezogen. Als Bewohner des seinerzeit zur Unsicherheitszone erklärten Gebiets um den Prenzlberger Helmholtzplatz hatte ich dieses Recht verloren. Auch an die Wiedereinführung der Überwachungskameras auf dem Berliner Alexanderplatz habe ich mich gewöhnen müssen und mit Überdruss der Argumentation gelauscht, dass das Gleiche halt nicht das Gleiche sei. Früher hätten diese Kameras im Dienste einer volksfeindlichen Diktatur gestanden, nunmehr dienten sie im Dienste der Demokratie der Sicherheit der Bürger. Dieses Sklavenargument kannte ich irgendwoher. Insofern ist es natürlich ganz in Ordnung, dass jetzt das BKA auch ohne Anfangsverdacht ermitteln kann und damit endlich dem Verfassungsschutz gleichgestellt ist, der zum Ausgleich größere Zugriffsrechte auf die Daten der Bürger erhält. Erst recht ist selbstverständlich der Fingerabdruck im Ausweis eine sozusagen natürliche Ergänzung dieses Dokuments, zumal mein eigener Fingerabdruck und alle möglichen anderen Geruchs- und Speichelproben sich aus alten Zeiten ohnehin in den Archiven befindet. Ich würde aus dem alten Waffenarsenal auch die Kennzeichnung von verdächtigen Mitbürgern mit radioaktiven Isotopen anregen. Was sollte man eigentlich dagegen haben, da es dem Schutz von Freiheit und Demokratie dient? Krieg ist eben Frieden, Freiheit ist Sklaverei, Unwissenheit ist Macht und – möchte man hinzufügen – Information ist Werbung.
Natürlich, man kann gegenüber offensichtlich wahnsinnigen religiösen Fanatikern nicht vorsichtig genug sein und da war mein erster Gedanke nach dem Anschlag auf das World-Trade-Center, dass nun in der Tat der Zeitpunkt für das sofortige Abschalten aller AKWs und das Ende der Castor-Transporte herangekommen ist. Laut einer Information des „Guardian“ hat ein Journalist in den vergangenen Tagen in der Tat in einem der afghanischen Ausbildungslager eine Karte gefunden, auf der alle europäischen Kraftwerke verzeichnet waren. Aber auf diese auf der Hand liegende Idee ist unser Innenminister nicht gekommen. Wie neulich Sebastian Pflugbeil ausführte, steht bei den bundesdeutschen Behörden nicht mal genügend Jod zur Verfügung, um nach dem eingetretenen Katastrophenfall im weiteren Umkreis das Schlimmste zu verhüten. Damit enthüllt sich das ganze Theater als das, was es ist: ein Vorwand, um Repressionsmethoden einzuführen, die vor ein paar Monaten noch nicht einmal ein Hinterbänkler der CSU vorzuschlagen gewagt hätte.
Dazu noch der unerträgliche Hochmut aus dem Westen des Landes, als hätten sie die Demokratie erfunden, während wir Ostdeutschen – schuldig oder unschuldig – totalitär geschädigt wären und die Lebensnotwendigkeiten der Republik nicht verstehen könnten. Dabei war es doch bloß der Zufall der Unterschiedlichkeit der Besatzungsmächte, nicht irgendwelche Verdienste, der sie ihre gegenwärtige Position verdanken (falls dies eine ist). In der Sowjetzone wurde von den Russen der Aufbau des Stalinismus befohlen und es fanden sich je länger je mehr genügend Henkersknechte, die dies auf eine sehr deutsche Weise ausführten. In den westlichen Besatzungszonen wurde parlamentarische Demokratie befohlen und mit Hilfe von kollaborationswilligen Kräften eine Verfassung und die Westintegration oktroyiert, was zugegeben auf mehr Gegenliebe bei der westdeutschen Bevölkerung als das DDR-Regime bei der ostdeutschen stieß. Aber was immer an demokratischen Kräften aus der Zeit der Weimarer Republik überlebt hatte, Sozialdemokraten und Zentrumsleute, gewöhnten sich auch in Westdeutschland nur schwer an den Stil einer stets von den „Aliierten“ beaufsichtigten Teilsouveränität.
Und 1990 wurde dann jede Möglichkeit genutzt, das wiedervereinigte Deutschland in der gleichen Weise in den Cordon Sanitaire der Westmächte einzuspannen, als hätte man Angst, welches Potential und welche Eigendynamik ein blockfreies Deutschland hätte entwickeln können. In der Tat ist es natürlich richtig, dass die Zustimmung der USA nur zu diesen Bedingungen zu erhalten war und den Briten hatte man sogar zusichern müssen (so die Protokolle der Zwei-Plus-Vier-Verhandlungen), dass nicht daran gedacht sei, „Mitteldeutschland wieder zu einem wirtschaftlichen Zentrum zu entwickeln“. Aber immerhin wäre es doch ehrlicher, statt endlose Tiraden über die Freundschaft zu Amerika aufzuführen, endlich klarzustellen, dass wir uns nach wie vor im Zustand einer Halbkolonie der USA befinden und jetzt in den sauren Apfel beißen müssen, ob wir wollen oder nicht. Zumal das Argument der Verdienste der USA für den Wiederaufbau Deutschlands für den östlichen Teil schon gar nicht greift: Wir Ostdeutschen schulden den Amis nicht das Schwarze unter dem Nagel.
Was mich eigentlich mehr interessiert, ist die Alternative, die es dazu gibt. Das soll, wie man hört, ja ein breites Bündnis sein und in der Tat sind wieder mal beeindruckend viele Leute auf der Straße. Die Frage ist, ob das nur wieder das Konglomerat der Stunde ist oder ob endlich, endlich das Bedürfnis erwacht, mal etwas vernünftiger über ein neues Konzept nachzudenken. Das wage ich jedenfalls nicht von der traditionellen westdeutschen Linken zu erwarten, die sich in 40 Jahren westdeutscher Marginalität in ein neurasthenisches, reflektierendes, aber politik- und reflextionsunfähiges Spiegelbild der herrschenden Verhältnisse verwandelt hat. Es würde in der Tat um eine eigenständige, lebensfähige Alternative gehen, nicht um jeweilige aus der Opposition motivierte Antworten. Ich sehe noch das sprachlose Entsetzen von westlinken Zeitgenossen vor mir, als ich es seinerzeit wagte, die Situation zu diskutieren, als ich in Chiapas von Zapatisten nach Waffen durchsucht wurde. Wohlgemerkt, ich hatte gar nicht gesagt, dass diese Durchsuchung falsch war, ich hatte sie nur als eigentümlich bezeichnet. Mit den gleichen feuchtblanken Augen wurde von den gleichen Leuten seinerzeit das in der DDR beschönigt, was man in der Bundesrepublik lästig, unerträglich und menschenrechtswidrig fand.
Ich hätte ganz gern, im Unterschied zu den Zeiten unter dem Banner von Marx und Lenin, als zukünftige Werte Ergebnis des sich mit geschichtlicher Notwendigkeit entwickelnden fortschrittlichen Bewusstseins sein sollten (und dann unter anderem die bekannten Massengräber waren), etwas mehr Fixierung von Werten und Zielen. Ich habe stets versucht, mich so gegenüber Mitmenschen zu verhalten, wie ich es auch in einer von mir und anderen gedachten zukünftigen repressionsfreien Gesellschaft tun würde. Und ich glaube, dass nur konkretere Vorstellungen als die gegenwärtigen vagen Konsenspapiere eine breitere Öffentlichkeit davon überzeugen könnte, dass die neue Linke nun endlich aus dem Vergangenenheit gelernt hat und als Alternative etwas anderes anbietet als einen anderen und noch totaleren Über-wachungsstaat. Der Hinweis darauf, dass dies olle Kamellen wären, zu denen gegenwärtig keine Zeit sei, kann mich nicht überzeugen. Das Problem ist ja eben, dass zur Diskussion dieser „ollen Kamellen“ nie die richtige Zeit zu sein scheint.
Und ich hätte auch ganz gerne endlich mal ein unverstelltes Verhältnis der deutschen Linken zur deutschen Frage. Wenn man sich nicht in der splendid isolation des Sektierers befindet und hinter den Bannern Trotzkis oder Maos die Weltrevolution haben will, wird man sich mit dem Gedanken aussöhnen müssen, dass wir eben deutsche Linke sind und durchaus nicht zuerst das Weltproletariat oder die Bevölkerung Perus, sondern die der Bundesrepublik Deutschland von unseren Ideen überzeugen müssen. Es darf also – neben der bekannten Frage der unterschiedlichen sozialen Interessen – durchaus nicht tabu sein, deutsche und europäische Interessen gegen beispielsweise die der USA zu benennen. Es wäre gegen den gegenwärtigen Wirtschaftskrieg im Interesse der US-amerikanischen Ölkonzerne die Idee eines blockfreien und friedensstiftenden Deutschlands und Europa zu zeigen, die eine Vorreiterrolle in der Welt hinsichtlich der Stiftung von Frieden und Entwicklungshilfe spielen und die im Inneren durch unerhörte Experimente mit sozialer und politischer Integration von sich reden machen.
Bei einer dieser unabhängigen Linken mit Gewissen, die ich so liebe, war es Victor Serge oder Augustin Souchy, Angelica Balabanoff oder gar George Orwell, fand ich ein interessantes Gespräch zwischen einem Kommunisten und einem Trotzkisten irgendwo zwischen den Fronten. „So ist es also wahr“, so der Kommunist meiner Erinnerung nach, „dass wir beide bereit wären, für die gleiche Sache unser Leben zu geben?“ Der Trotzkist: „Ich halte das für möglich, wir müssten zuvor aber diese Sache erst einmal genau umreißen.“ Was nicht heißen soll, dass ich irgendwie mit dem Trotzkismus sympathisiere, aber genau dieser Satz fällt mir ein, wenn ich in einer Arbeitsgruppe oder einem Podium plötzlich beispielsweise neben einem früheren Angehörigen der RAF oder auch nur einem PDS-Mitglied sitze und peinlich berührt entdecke, dass ich zu einem bestimmten Punkt eine gleiche Meinung habe, obwohl sich unsere Grundsatzansätze wahrscheinlich diametral unterscheiden. Da hätte ich dann neben der Frage, ob zwei plus zwei gleich vier ist noch gern eine grundsätzliche Vorabsprache, wie denn die Haltung der Gegenüber zur Bedeutung der Menschenrechte ist, zum Verhältnis von Mitteln zum Ziel und auch zur leidigen Gewaltfrage. In diesen Dingen bin ich sehr altmodisch.
Dass wir gegen das neudeutsche militärische Großmachtsgepupe sind und gegen immer neue Beschränkung der Bürgerrechte im Gefolge dieser nationalen Anmaßung, ist nicht weiter überraschend. Aber es wird endlich einmal Zeit festzustellen, wofür wir sind.
Wolfgang Rüddenklau ist Gründungsmitglied der Umweltbibliothek Berlin und des telegraph, er lebt in Berlin.
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