aus telegraph #105
Erklärung von:
L.Ansorg, E.Drees, F.Ebert, A./H.Falcke, H-J.Fischbeck, O.Freund, C.Führer, B.Gehrke, H-P.Gensichen, F.Heilmann, J.Hermann, M.Hoffmann, R.Hürtgen, M.Klähn, T.Klein, L.König, I./M.Kukutz, E.Maaß, H.Lietz, W.Musigmann, A.Noasck, C./S.Pflugbeil, P.Rösch, W.Rüddenklau, S.Schaaf, W.Schilling, K.Schlüter, W.Schmitt, R.Schult, T.Sello, S.Steinbacher, M.Subklew-Jeutner, C.Ulbricht, W.Ullmann, H-J.Tschiche, H-J.Vogel, K.Wolfram
Aus eigener Erfahrung mit der Diktatur in der DDR,
aus guter Erinnerung
an politischen Druck und Widerstehen,
an Volksverdummung und Wahrhaftigkeit,
an hohle Phrasen und aufsässige Verse,
an militaristisches Gehabe und grundsätzliche Gewaltlosigkeit,
an Bevormundung und Solidarität
und aus jüngster Erfahrung mit der parlamentarischen Demokratie in der Bundesrepublik
wenden wir uns nicht an den Bundeskanzler, nicht an Rot-Grün, nicht an die Oppositionsparteien, sondern an Euch, einfache Bürger wie wir.
„Die Kommunikation zwischen Staat und Gesellschaft ist offensichtlich gestört.“
Das war 1989 so. Und das gilt heute wieder.
Wir fühlen uns in wachsendem Maße ohnmächtig gegenüber wirtschaftlichen, militärischen und politischen Strukturen, die für Machtgewinn und Profit unsere Interessen in lebenswichtigen Fragen einfach ignorieren. Wir fühlen uns in unserer Auseinandersetzung mit den aktuellen Problemen unseres Landes und der Welt mehr und mehr an die uns wohlbekannten Übel der Diktatur erinnert.
So können wir uns zwar alle vier Jahre bei den Wahlen für eine von vielen streitenden Parteien entscheiden. Wir stellen jedoch fest, dass die Programme dieser Parteien mit der Politik, die sie dann tatsächlich machen, kaum etwas zu tun haben.
Die politischen Losungen in der DDR waren selten lustig, sie werden in ihrer Hohlheit von den Wahlwerbungen der Parteien heute übertroffen.
Wir haben uns über das Abstimmverhalten der Volkskammerabgeordneten amüsiert. Angesichts des Abstimmverhaltens der Bundestagsabgeordneten ist uns das Lachen vergangen.
Wir haben es gelernt, hohle Phrasen und den sinnverkehrenden Gebrauch von Schlagworten zu erkennen und schadlos an uns abperlen zu lassen:
Früher: Ewige Waffenbrüderschaft; Unverbrüchliche Solidarität; Friedensdienst (mit der Waffe in der Hand); Erz für den Frieden (gemeint war das Uran der WISMUT für die russischen Atombomben); Mein Arbeitsplatz – mein Kampfplatz für den Frieden; Wer nicht für uns ist, ist gegen uns!
Heute: Kreuzzug gegen das Böse; Ewige Freiheit; Grenzenlose Gerechtigkeit; Uneingeschränkte Solidarität; Geschlossenheit; Wer nicht für uns ist, ist für die Terroristen!
Wir haben in der Revolution von 1989 Kopf und Kragen riskiert, um das verhasste und verachtete System von Bütteln und Spitzeln in der DDR zu überwinden.
Wir hatten erwartet, dass nach dem Ende des Kalten Krieges auch die westlichen Geheimdienste abrüsten. Keiner von uns hat jedoch damit gerechnet, dass nach Beendigung des Kalten Krieges die Telefonabhöraktivitäten steil ansteigen, dass die von uns abgerissenen Stasi-Videokameras nur durch neue ersetzt werden. Wir sind entsetzt darüber, dass heute die Polizei zusammengestrichen und der Geheimdienst aufgeblasen wird. War denn alles umsonst? Wir wissen, wohin so was führt.
Keiner von uns hat damit gerechnet, dass ein schrecklicher Terroranschlag in den USA zum Anlass genommen werden könnte, scheinbar unumstößliche Maßstäbe von Recht und Gerechtigkeitsgefühl in der ganzen westlichen Welt ins Rutschen zu bringen.
Wir haben nicht vergessen, wie die Gummiparagraphen des politischen Strafrechts der DDR uns die Luft abgeschnürt haben.
Wir greifen uns jetzt an den Hals, wenn wir lesen, mit welcher Leichtfertigkeit das Terrorismus-Bekämpfungsgesetz (der so genannte Otto-Katalog) des Innenministers und die entsprechenden Entwürfe in anderen westlichen Staaten und auf europäischer Ebene Gummistricke drehen, die wir glücklich losgeworden zu sein gehofft hatten.
Wir sind verblüfft und entsetzt, dass unsere Sehnsucht nach Gerechtigkeit mit höhnischem Gelächter und dem süffisanten Verweis auf den Rechtsstaat beantwortet wird.
Wir sind entsetzt, wie selbstverständlich von hochrangigen Politikern gebilligt wird, dass die vermeintlichen Anstifter des Terroranschlags mit einer grotesk übermächtigen Militärmaschinerie umgelegt werden. Beweise für ihre Schuld? Geheim und wohl doch auch überflüssig! Haben deutsche Politiker bereits die amerikanische Begeisterung für die Todesstrafe übernommen?
Wir sind entsetzt, mit welcher Dumpfbackigkeit Gegnern des Kriegseinsatzes in Afghanistan entgegengehalten wird, dass Krieg gegen Terroristen helfen kann.
Weshalb traut sich niemand an die Waffenhändler in den USA und in der Bundesrepublik heran?
Weshalb versuchen die USA mit allen Mitteln, die Errichtung eines Internationalen Strafge-richtshofs zu verhindern?
Natürlich wollen wir, dass ein unabhängiges Gericht und nicht der Oberbefehlshaber der stärksten Armee der Welt entscheidet, ob die vorgelegten Beweise eine Verurteilung der vermeintlichen Hintermänner des Terroranschlags rechtfertigen.
Wir sind entsetzt darüber, dass ganz nebenbei schon die Diskussion um die Anwendung der Folter salonfähig wird. Sind die Mächtigen in den westlichen Staaten nicht auf dem besten Wege, Verhaltensweise, Denkstruktur und Wertesystem einer Terroristenbande anzunehmen?
Wir haben es einfach satt.
Wir haben es satt, dass unter dem Banner von Freiheit und Demokratie gegen unsere Interessen regiert wird.
Wir haben es satt, uns für dumm verkaufen zu lassen.
Wir haben es satt, uns das platte Geschwätz auf Parteitagen anzutun.
Wir haben Volksvertreter satt, die unsere Interessen nicht vertreten und das auch noch als Erfolg feiern.
Wir haben einen Bundeskanzler satt, der um der Macht willen Abgeordnete dazu bringt, ja zum Krieg zu sagen, wenn sie nein meinen, und nein zu sagen, wenn sie ja meinen.
Wir machen nicht mit, wenn Kriegseinsätze mit Worthülsen wie „Verantwortung übernehmen“, „der neuen Rolle Deutschlands in der Welt“, mit „Politikfähigkeit“ und „der Durchsetzung der Rechte der Frauen“ verharmlost werden.
Wir verweigern uns diesem Krieg.
Nur eine Diktatur braucht linientreue Parteisoldaten. Demokratie braucht mündige Bürger. Lassen wir Medien, Parteien, Kultur und Wissenschaft nicht von röhrenden Funktionären gleichschalten.
Die erbärmlichen und erschreckenden Umstände der Rot-Grünen Entscheidung für den Krieg lassen keinen Raum mehr für parteitaktische Spielchen, für die Sorge um den eigenen warmen Arsch – machen wir endlich den Mund auf!
Reden wir mit unseren Kindern und mit unseren Eltern über diesen Krieg, über Gerechtigkeit in Deutschland und der Welt und über die Rechtsstaatlichkeit, die uns zwischen den Fingern zu zerrinnen droht!
Wir haben 1989 gelernt, dass es Sinn hat, zu widersprechen.
Berlin, Dezember 2001
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