von Andrej Holm
aus telegraph #102/103
Vor einigen Wochen wurde eine sogenannte Erstauswertung einer Untersuchung zu Fragen der politischen Mentalitäten und Einstellung von ostdeutschen Jugendlichen veröffentlicht. Die öffentlichen Reaktionen darauf blieben bisher – wie so oft bei ostdeutschen Themen – gering. Grund genug, sich mit der Untersuchung und den Ergebnissen zu beschäftigen.
Die Studie ist die Fortsetzung der zu DDR-Zeiten begonnenen Mentalitätsstudien von Jugendlichen, die damals vom Zentralinstitut für Jugendforschung Leipzig (ZIJ) in Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern der Karl-Marx-Unversität Leipzig und der Pädagogischen Hochschule Zwickau durchgeführt wurden. Als Jugendliche gelten in der Untersuchung alle zwischen 14. und 27. Lebensjahr. Von den 1987 erstmals befragten 1240 Schülern sind heute nur noch gut 500 im „Jugendalter“, von ihnen antworteten fast 400 auf die Fragen der Forscher. Die Untersuchung gilt zum einen repräsentativ für die ostdeutsche Jugendstruktur generell und bietet als sogenannte Längsschnittstudie einen einmaligen historischen Vergleich von Einstellungen und Mentalitäten in Ostdeutschland.
Die zentrale Frage der Untersuchung ist die nach der Verankerung des politischen Systems in der Gesellschaft. Insbesondere die Jugend – so die Ausgangsvermutung – bietet sich dabei als Indikator an. Wenn die Jugend das politische Wertsystem der jeweiligen Gesellschaft verinnerlicht hat, ist alles o.k., weisen jedoch die jungen Menschen eine große Distanz zu den Werten und Normen der Dominanzgesellschaft auf, dann ist damit zugleich die hegemonielle Zukunftsfähigkeit der gesellschaftlichen Ordnung in Frage gestellt.
Um entsprechende Aussagen treffen zu können, gliederte sich die Untersuchung in zwei zentrale Themenbereiche: die „Haltung der Jugend zur deutsche Einheit“ einerseits und die „Akzeptanz des politischen Systems der BRD“ andererseits. Die Antworten dabei fallen sehr verschiedenen aus.
Während die staatliche Einheit im wesentlichen von den meisten Befragten als Selbstverständlichkeit begrüßt wird, herrscht gegenüber dem Wertkanon der neuen Gesellschaft und den politischen Parteien eine große Skepsis. Das meistgebrauchte Wort der Studie ist deshalb auch „ambivalent“ – denn es gibt kein widerspruchsfreies Bild einer politischen Mentalität der ostdeutschen Jugend. Die Schwäche der vorliegenden „Erstauswertung“ ist die mangelhafte Interpretation: leider werden nur ausgewählte Antwortergebnisse präsentiert und das Urteil letztendlich dem Leser überlassen. Die Kurzformel der Ergebnisse wird vorsichtig formuliert: „Ja zur deutschen Einheit, aber Kritik am Gesellschaftssystem“.
Wo Sachsen oder Deutschland draufsteht ist oft der Osten drin
Bei einer grünlicheren Durchsicht der vorliegenden Umfragedaten läßt sich diese Aussage präzisieren: „Deutschland zuerst, aber nicht so wie in Westdeutschland und möglichst ohne Westler“.
So antworteten auf die Frage „als was fühlen Sie sich“ 90% der befragten Jugendlichen mit „als Deutsche/Deutscher“, aber auch andere Regional- und landsmannschaftliche Identitäten standen hoch im Kurs: Immerhin 88% fühlten sich als „Sachsen“, 80% als „Bürger/Bürgerinnen der Bundesrepublik Deutschland“ und immerhin 78% als „Ostdeutsche“. Dieser offensichtliche Identitätsmix zeichnet sich durch eine erstaunliche hohe Anzahl von gleichzeitigen Zugehörigkeitsgefühlen aus – rechnet man die positiven Antworten zusammen , hat jeder Befragte durchschnittlich fast 5 gleichzeitige Identitäten (gefragt wurde nur nach räumlichen bzw. staatlichen Zugehörigkeitsgefühlen). Es ist für den größten Teil der Befragten kein Widerspruch, sich als Ostdeutscher und zugleich als BRD – Bürger zu verorten. Die Identitätszuschreibungen werden additiv auf das jeweilige Selbstbild introjiziert und verweisen in ihrer Beliebigkeit letztendlich auf ein erstaunliches Identifikationsdefizit: Wer zugleich Alles sein kann, ist eigentlich auch nichts richtig.
Den einzelnen Identifikationsangeboten auf der Spur, stellt man jedoch schnell fest, daß vor allem zwei Selbstbilder stärker verankert sind. Die Befragten fühlen sich vor allem als „Deutsche“ und „Ostdeutsche“. Zum einen – und das wir in der Studie auch als zeitlicher Trend gut dargestellt – wächst die grundsätzliche Begrüßung der „deutschen Einheit“. Als geschichtsmächtige Selbstverständlichkeit, von fast 90% aller Jugendlichen wird sie nicht in Frage gestellt. Neben dieser rationalen Akzeptanz jedoch wurde auch die emotionale Seite hinterfragt: nur etwa die Hälfte der Befragten „freut“ sich über die „deutsche Einheit“, der Rest steht dem vereinigten Deutschland mit gemischten Gefühlen oder ablehnend gegenüber. Noch distanzierter bewerten die Befragten ihre „politische Identifikation“ mit der Bundesrepublik. 70% fühlen sich nur schwach oder überhaupt nicht mit dem politischen System der BRD verbunden. Insbesondere eine soziale Unsicherheit und Zukunftsängste – so die Studie – verhindern das Ankommen der Ostdeutschen Jugend in der Bundesrepublik. Fast alle Antworten auf verschiedensten Fragen nach Hoffnungen, Befürchtungen, Einschätzungen zeigen einen deutlichen ostdeutschen Subkontext in allen Sachthemen.
Ostdeutsche Sonderstellung wird Normalität
Nur 20% aller Befragten hat eine optimistische Prognose „für eine gesicherte Zukunft in Ostdeutschland“. Das ist absoluter Tiefstand der Zuversicht: noch 1993 waren es 44%, die für sich eine Perspektive in Ostdeutschland sahen. Entsprechend negativ werden die Chancen einer „wirtschaftlichen und inneren Einheit eingeschätzt“: gingen die Befragten 1990 davon aus , daß innerhalb von 6 Jahren eine wirtschaftliche Angleichung zu realisieren ist, so rechnen die im Jahr 2000 befragten mit einer zeit von noch mindestens 15 Jahren. Der „Verwirklichung der inneren Einheit“ wird sogar eine Zeitspanne von über 20 Jahren zugerechnet. Das heißt, die heute 20 bis 30 Jährigen rechnen für ihre und die nächste Generation mit einer Ostdeutschen Sonderentwicklung. Die Feststellung einer spezifisch ostdeutschen Situation wird von der Mehrzahl der Jugendlichen in keiner Weise infrage gestellt – die politischen Konsequenzen aus dieser Normalität des Sonderweges jedoch bleibt völlig im Dunkeln: wie weit sich diese Einschätzung in bestimmten Haltungen und Wertorientierungen niederschlägt, wird nicht systematisch erfragt. Doch einige Konfliktlinien werden deutlich: vor allem Fragen der Existenzsicherung rangieren bei den Ängsten der Befragten an erster Stelle, etwa 80% haben ganz allgemein Angst vor einer „zunehmenden Verteuerung des Lebens“. Die Frage des Arbeitsplatzes hingegen ist mit knapp 35% eine deutlich seltener genannte Befürchtung. In diesem geringen Stellenwert der Arbeit drücken sich letztendlich die deregulierten und zunehmend prekären Arbeitsverhältnisse in der Ostdeutschen Ökonomie aus. Ostdeutsche Jugendliche assoziieren Arbeit nicht mehr unmittelbar mit einer ausreichenden Existenzsicherung.
In der Untersuchung wird leider keine Verknüpfung zwischen der Feststellung einer eigenständigen Entwicklung Ostdeutschland und den sozialen Schwerpunktsetzungen der Befragten hergestellt. So kann dann auch das soziale Substrat einer möglichen ostdeutschen Identität im Vergleich zu anderen Identifikationen nicht genauer beschrieben werden. Einziger Hinweis auf eine inhaltliche Ausrichtung von ostdeutschen Sonderinteressen bleiben dann die 20%, die eine „Zunahme von Konflikten zwischen Ost- und Westdeutschen“ erwarten.
Andrej Holm ist freier Mitarbeiter der Zeitschrift telegraph und arbeitet an der Humboldt-Universität Berlin.
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