von Jenz Steiner
Es war einmal ein Ehrenmal
„Ewiger Ruhm und Ehre den im Kampf gegen den Faschismus gefallenen Helden“ – so oder ähnlich lauten die Inschriften sowjetischer Ehrenmale, die an die Befreiung vom Faschismus erinnern sollen. Es gibt sie noch: vergessen und verwildert, gepflegt und restauriert, umgesetzt und unverstanden. Dass sie noch nicht verschwunden sind und durch Staatsverträge geschützt werden, liegt daran, dass sie oft nicht nur Mahnmale, sondern auch Kriegsgräberstätten sind. Die Staatsrituale sind weniger und kleiner geworden. Sie beschränken sich auf Kranzniederlegungen einiger Parteien, Opferverbände und Botschaften am 8. Mai und am 1. September oder wurden ganz abgeschafft. An Größe und Wucht haben die Gedenkstätten nicht verloren, doch ihre Symbolkraft haben sie eingebüßt. Die nun nachrückenden Generationen können die Monumente aus Marmor, Stahl, Granit und Beton weder einordnen noch entschlüsseln. Für sie sind solche Gedenkstätten vor allem eins: langweilig. Meine Altersgenossen suchen hingegen nach neuen Blickwinkeln.
Selfie mit der Mutter Heimat
Einmal im Jahr besuche ich mit meinen Schülerinnen und Schülern der 9. Klasse das Sowjetische Ehrenmal in Berlin-Treptow. Große Erklärungen spare ich mir während der Exkursionen. Ich bin kein Oberlehrer und ob meine Geschichtsauffassung die richtige oder derzeitig korrekte Sicht ist weiß ich auch nicht so genau. Stattdessen lasse ich sie das Gelände selbst entdecken. Das klappt nicht immer. Manchmal setzen sie sich am Eingang auf den Sockel der drei Meter großen „Mutter Heimat“, die um ihre Söhne trauert. Dort bleiben sie dann sitzen und chillen, bis wir wieder gehen. Sie chatten und spielen lieber mit ihren Smartphones, machen „Duckface-Selfies“, schicken sie ihrer gesamten WhatsApp-Kontaktliste, bewerfen einander mit Kartoffelchips und bespritzen sich mit Cola und Energy-Drinks. Ich greife nicht ein, halte keine pathetischen Reden und spare mir die Kommentare zur Störung der Totenruhe, zum Respekt gegenüber den Menschen, die ihr Leben gelassen haben, damit sie hier in Frieden spielen können. Diese Ansagen habe ich als Kind selbst nicht verstanden und bin lustig weiter über Gedenktafeln, Grabplatten und Mosaike gehüpft.
Höhle oder Führerbunker
Manchmal läuft eine kleine Schülergruppe zum Hauptmonument und fragt mich vorher, ob man „in den Bunker reinkommt“ oder was „in der Höhle“ ist. Einmal meinte ein Schüler zu seinem Kumpel, dass das der Führerbunker wäre. Den zwölf Meter hohen Soldaten aus Stahl mit dem Kind auf dem Arm und dem Schwert in der Hand, der das Hakenkreuz zertritt, nehmen sie meist gar nicht als Soldaten wahr, eher als Prinzen oder Ritter. An den sechzehn Sarkophagen mit den Stalin-Zitaten und Schlachtenreliefs trotten sie gelangweilt vorbei. Ich belehre sie nicht. Ich mache ihnen keine Vorwürfe – ihnen nicht, nicht ihren Lehrern und erst recht nicht ihren Eltern. Wie kann ich erwarten, dass ein Denkmal von 1949 heute den Nerv junger Menschen treffen kann? Sie haben eine andere Ästhetik und keinen Bezug zu dem, was hier vor sieben Jahrzehnten geschah. Das konnte der Bildhauer Jewgeni Wutschetitsch damals natürlich nicht ahnen.
Fame und Ehre den Sowjetsoldaten
Mit den Begriffen „Ruhm“ und „Ehre“ können meine Schüler nichts anfangen. „Ruhm“ ist für sie „fame“, und den erlangt man mit einem erfolgreichen YouTube-Kanal, wenn man bei „DSDS“, „Berlin Models“ oder „Berlin Tag und Nacht“ mitmacht. Was ihnen „Ehre“ bedeutet, spüren sie immer erst dann, wenn sie einen Gesichtsverlust erlitten haben, etwa nachdem jemand ihr Mutter, ihre Familie oder das Heimatland der Eltern beleidigt hat. „Ruhm“ und „Ehre“ passen in ihrer Welt nicht recht zusammen mit Soldaten, mit Krieg oder der Befreiung vom Faschismus. Müssen sie auch nicht.
Keine Heldengeschichten auf Lager
Mir ist wichtig, dass die Jugendlichen das Areal einmal gesehen haben und es als Teil ihrer Stadt einordnen können. Ich verschone sie mit der Heldengeschichte vom Sergeanten Nikolaj Iwanowitsch Massalow, der kurz vor Kriegsende am Landwehrkanal ein dreijähriges Mädchen aus dem Kugelhagel gerettet haben soll. Zum Vermitteln von Geschichte fehlen mir die glaubhaften und nachvollziehbaren Geschichten, die einen Bezug zu ihrem Leben haben. Ich stupse sie nur mit der Nase drauf. Jeden weiteren Schritt überlasse ich den Schülerinnen und Schülern. Wenn die Zeit reif ist, werden sie sich vielleicht selbst auf Spurensuche begeben. Ich will und kann es nicht erzwingen.
Blick zum Himmel als Friedensdenkmal
Wenn ich Besuch von Freunden aus Russland bekomme, ist das Treptower Ehrenmal Pflichtprogramm. Meine Gäste sind keine glühenden Kommunisten und haben aufgrund der Perestroika in ihrer Jugend den Sprung vom Leninpionier zum Komsomolzen nicht mehr geschafft. Und dennoch hat das Ehrenmal für sie einen ähnlich starken Symbolcharakter wie das Reichstagsgebäude. Einmal, mitten im Sommer, ging ich mit einem gleichaltrigen Moskauer Freund nach Treptow. Er hielt seinen Fotoapparat in der Hand und wusste nicht recht, was er dort fotografieren solle. Plötzlich sprach er einen vielleicht 25jährigen Berliner mit Shorts, Dreadlocks und freiem Oberkörper an, der sich am Eingangsportal aus rotem Granit in der Sonne rekelte. Er fragte, ob er ihn fotografieren dürfe. Der junge Sonnenanbeter wunderte sich zwar, doch stimmte er zu. Natürlich wollte ich von meinem russischen Freund wissen, warum er gerade ihn fotografieren wollte. Seine Antwort kam spontan: „Weißt Du, für mich sind solche Augenblicke ein größeres Friedensdenkmal als die ganze Anlage hier. Da liegt einer, starrt in den Himmel und sonnt sich. Das wäre auf solchen Anlagen bei uns früher unmöglich gewesen. Er kann es machen, weil er nichts zu befürchten hat, weil hier gerade Frieden herrscht. Das ist jetzt normal, aber nicht selbstverständlich.“