30 Jahre Weizsäcker-Rede zum 8. Mai. Eine Polemik
Von Marek Winter
(Aus der telegraph Sondernummer “8. Mai 2015 – 70 Jahre Tag der Befreiung”)
Als der ehemalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker am 31. Januar 2015 starb, erinnerten Nachrufe von „junge Welt“ bis „FAZ“ vor allem an die Rede, die er am 8. Mai 1985 im Bundestag gehalten hatte. Unisono klassifizierten sie diese Rede, in der er als erstes westdeutsches Staatsoberhaupt den 8. Mai 1945 als Tag der Befreiung bezeichnete, als Wendepunkt bundesdeutscher Geschichtsbetrachtung. Dass sie 1985 einen aufsehenerregenden Bruch mit bis dahin geltenden Geschichtsbildern darstellte, zeigt wie sehr Politik und Gesellschaft in der BRD bis weit in die 80er Jahre einem in der NS-Zeit geprägten Denken verhaftet waren. Angesichts des 30. Jahrestages der Rede lohnt es sich durchaus, nochmal einen Blick auf ihren Text zu werfen.1
Die Feststellung „Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung.“ findet sich gleich im ersten Absatz. Doch beachtenswert ist, was Weizsäcker sagt, bevor er zu dieser Feststellung kommt: „Viele Völker gedenken heute des Tages, an dem der Zweite Weltkrieg in Europa zu Ende ging. Seinem Schicksal gemäß hat jedes Volk dabei seine eigenen Gefühle. Sieg oder Niederlage, Befreiung von Unrecht und Fremdherrschaft oder Übergang zu neuer Abhängigkeit, Teilung, neue Bündnisse, gewaltige Machtverschiebungen – der 8. Mai 1945 ist ein Datum von entscheidender historischer Bedeutung in Europa.“ Alles ist relativ, für die Einen so und für die Anderen so, für „uns Deutsche“ jedenfalls gilt: „Der 8. Mai ist für uns Deutsche kein Tag zum Feiern.“ Hinter diesem »Uns« steht das »Wir«, von dem Max Horkheimer schrieb: „das Schuldbekenntnis der Deutschen nach der Niederlage des Nationalsozialismus 1945 war ein famoses Verfahren, das völkische Gemeinschaftsempfinden in die Nachkriegsperiode hinüberzuretten. Das Wir zu bewahren war die Hauptsache. […] Das Wir ist die Brücke, das Schlechte, das den Nazismus möglich machte. Der Unterschied zwischen dem Einzelnen und dem Kollektiv wird eingeebnet, wer ihn bewahrt, steht draußen, gehört nicht zu »uns«, ist wahrscheinlich ein Kommunist. […] Wer in der Politik und vielen anderen Sparten von sich selbst spricht und die Landsleute als »sie« bezeichnet, erscheint, auch wenn die Hörenden es nicht realisieren, ihnen als Verräter – nur im Zufallsfall als anständiger Mensch.“2 Wir Deutschen hatten es vor allem schwer: „Die Menschen, die ihn [den 8. Mai 1945] bewusst erlebt haben, denken an ganz persönliche und damit ganz unterschiedliche Erfahrungen zurück. Der eine kehrte heim, der andere wurde heimatlos. Dieser wurde befreit, für jenen begann die Gefangenschaft. Viele waren einfach nur dafür dankbar, dass Bombennächte und Angst vorüber und sie mit dem Leben davongekommen waren. Andere empfanden Schmerz über die vollständige Niederlage des eigenen Vaterlandes.“ Die eben noch so stolzen Herrenmenschen mussten gar plötzlich feststellen, dass Angriffskrieg und Massenmord moralisch verwerflich sind: „Die meisten Deutschen hatten geglaubt, für die gute Sache des eigenen Landes zu kämpfen und zu leiden. Und nun sollte sich herausstellen: Das alles war nicht nur vergeblich und sinnlos, sondern es hatte den unmenschlichen Zielen einer verbrecherischen Führung gedient.“ Doch aus der Dunkelheit zum Licht empor, durch Wirtschaftswunder und Aufschwung zu neuer Größe brach sich die Erkenntnis Bahn: „Und dennoch wurde von Tag zu Tag klarer, was es heute für uns alle gemeinsam zu sagen gilt: Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.“ Die Rede vom „System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft“ klingt reflektierter als das „Ich bin’s nicht, Adolf Hitler ist es gewesen“, entsorgt aber die individuelle und kollektive Verantwortlichkeit der Deutschen ebenso schnell und praktisch.
Wenn Weizsäcker der Opfer des Nationalsozialismus gedenkt, tut er dies nicht, ohne im selben Atemzug diese Geste für uns Deutsche nutzbar zu machen: „Wir gedenken heute in Trauer aller Toten des Krieges und der Gewaltherrschaft. Wir gedenken insbesondere der sechs Millionen Juden, die in deutschen Konzentrationslagern ermordet wurden. Wir gedenken aller Völker, die im Krieg gelitten haben, vor allem der unsäglich vielen Bürger der Sowjetunion und der Polen, die ihr Leben verloren haben. Als Deutsche gedenken wir in Trauer der eigenen Landsleute, die als Soldaten, bei den Fliegerangriffen in der Heimat, in Gefangenschaft und bei der Vertreibung ums Leben gekommen sind.“ En passant werden so ermordete Juden und Soldaten, die ihre Ermordung erst ermöglichten, bzw. an dieser beteiligt waren, Angegriffene und Angreifer, Ermordete und Mörder gleichgesetzt, wird der deutsche Vernichtungskrieg und das notwendigerweise gewaltsame und Opfer fordernde Bemühen der Anti-Hitler-Koalition um dessen Beendigung auf eine Stufe gestellt. Im Weiteren werden weitere Opfergruppen (Sinti und Roma, Homosexuelle, Geisteskranke, Oppositionelle, sogar Kommunisten) aufgezählt, derer gedacht wird, die sich von dem Gedenken nichts kaufen konnten, im Gegenteil, deren wenige Überlebende weiterhin als vorbestraft galten, diskriminiert und ausgegrenzt wurden. Weiterhin erinnert er wortreich an „die Trümmerfrauen in Berlin und überall“, die schließlich die Lasten des Krieges und des Wiederaufbaus besonders zu schultern gehabt hätten.
Die Shoa? Das Projekt eines Herrn Hitler: „Am Anfang der Gewaltherrschaft hatte der abgrundtiefe Hass Hitlers gegen unsere jüdischen Mitmenschen gestanden.“ Der dabei von einer Handvoll Helfer unterstützt wurde: „Die Ausführung des Verbrechens lag in den Händen weniger. Vor den Augen der Öffentlichkeit wurde es abgeschirmt.“ Nun war die Behauptung, die Deutschen hätten von NICHTS gewusst, so schamlos, dass Weizsäcker sich zu gewissen Zugeständnissen gezwungen sah: „Wer seine Ohren und Augen aufmachte, wer sich informieren wollte, dem konnte nicht entgehen, dass Deportationszüge rollten. Die Phantasie der Menschen mochte für Art und Ausmaß der Vernichtung nicht ausreichen. Doch in Wirklichkeit trat zu den Verbrechen selbst der Versuch allzu vieler, auch in meiner Generation, die wir jung und an der Planung und Ausführung der Ereignisse unbeteiligt waren, nicht zur Kenntnis zu nehmen, was geschah.“
Historisch ordnet Weizsäcker den 8. Mai als Endpunkt des europäischen Bürgerkriegs ein. Damit bezieht er sich auf den Historiker Ernst Nolte, der mit seinem Exkulpationsversuch, der NS sein nur eine Reaktion auf den Bolschewismus, Auschwitz die Antwort auf den Gulag gewesen ein Jahr später den Historikerstreit auslösen sollte. Für Weizsäcker ist klar, die Anderen waren auch nicht besser und außerdem gab es da Versailles: „Über hundert Jahre lang hatte Europa unter dem Zusammenprall nationalistischer Übersteigerungen gelitten. Am Ende des Ersten Weltkrieges war es zu Friedensverträgen gekommen. Aber ihnen hatte die Kraft gefehlt, Frieden zu stiften. Erneut waren nationalistische Leidenschaften aufgeflammt und hatten sich mit sozialen Notlagen verknüpft.“ Es folgen ein paar Worte zur Verantwortung der westlichen Demokratien, ausführlicher zum Hitler-Stalin-Pakt und schon ist es wieder an der Zeit, festzustellen, wer aber so richtig schlimm gelitten hat: „Während dieses Krieges hat das nationalsozialistische Regime viele Völker gequält und geschändet. Am Ende blieb nur noch ein Volk übrig, um gequält, geknechtet und geschändet zu werden: das eigene, das deutsche Volk.“
Den Lasten, die insbesondere die Heimatvertriebenen infolge des Zweiten Weltkrieges zu tragen hatten, widmet er einen eigenen Teil der Rede. Frisch von der Leber weg lügt er: „Früh und beispielhaft haben sich die Heimatvertriebenen zum Gewaltverzicht bekannt. Das war keine vergängliche Erklärung im anfänglichen Stadium der Machtlosigkeit, sondern ein Bekenntnis, das seine Gültigkeit behält. Gewaltverzicht bedeutet, allseits das Vertrauen wachsen zu lassen, dass auch ein wieder zu Kräften gekommenes Deutschland daran gebunden bleibt. […] Die Völker Europas lieben ihre Heimat. Den Deutschen geht es nicht anders. […] Heimatliebe eines Vertriebenen ist kein Revanchismus.“ Weizsäcker hielt die Rede zu einem Zeitpunkt, als in der alten Bundesrepublik heftig um den Umgang mit der deutschen Vergangenheit gestritten wurde. Bekannt ist der „Historikerstreit“ um das Verhältnis von NS und Stalinismus, der ein Jahr nach der Weizsäckerrede ausbrach. Eine heftige Debatte löste auch der Besuch von Helmut Kohl und Ronald Reagan auf dem Soldatenfriedhof in Bitburg aus. Am 5. Mai 1985, drei Tage vor Weizsäckers Rede, hatte Kohl gemeinsam mit Reagan in Bergen-Belsen und auf dem deutschen Soldatenfriedhof in Bitburg, auf dem auch SS-Leute beigesetzt waren, Kränze niedergelegt. Damit sollte die Versöhnung zwischen den ehemaligen Kriegsgegnern besiegelt werden. Die Inszenierung war Teil des Bemühens der Regierung Kohl um eine geschichtspolitische Normalisierung, die Deutschland auf eine Stufe mit den Siegermächten des Zweiten Weltkrieges stellen sollte.
Die Dialektik des tatsächlichen Normalisierungsprozesses spiegelt sich in der Weizsäcker-Rede und ihrer internationalen Rezeption. Ihr Bruch mit der apologetischen Geschichtsdeutung bezüglich der NS-Verbrechen, die bis dahin die Politik der BRD dominierte, wurde weltweit anerkannt und trug dazu bei, dass Misstrauen gegenüber dem Nachfolgestaat des Dritten Reiches zu verringern. Die deutsche Wiedervereinigung und dadurch ausgelöste Ängste vor einem „Vierten Reich“ störten kurzzeitig den Prozess der Normalisierung. Die erste Wehrmachtsausstellung (1995) und die Goldhagen-Debatte (1996) erschütterten das Bild des von einer kleinen Clique von Verbrechern ins Verderben gestürzten Volkes, das von nichts wusste und nur widerwillig seine Pflicht erfüllt hatte und warf Fragen nach individueller und kollektiver Beteiligung an Vernichtungskrieg und Shoa auf. Doch schon Ende der 90er Jahre wandte sich die Aufmerksamkeit wieder dem deutschen Leid zu. Mit tabubrecherischem Gestus wird seither immer wieder behauptet, gern anlässlich des Erscheinens popkultureller Werke zum Zweiten Weltkrieg, man habe bisher über das Leiden der Deutschen im Zweiten Weltkrieg nicht reden dürfen, aber jetzt, jetzt sei es endlich an der Zeit, über das Leid der Vertriebenen (Vorschlag für ein „Zentrum gegen Vertreibungen“, 1999), der Bombenopfer (Jörg Friedrichs, Der Brand, 2002), der von Rotarmisten vergewaltigten Frauen (Anonyma – eine Frau in Berlin, 2008), der ganz normalen Deutschen (Unsere Mütter, Unsere Väter, 2013) zu reden. Gleichzeitig fährt ein Bundespräsident, dem die Gleichsetzung von Drittem Reich und Stalinismus ein Herzensanliegen ist, durch die Gegend, knuddelt die Überlebenden der Massaker von Oradour und Distomo und überbringt die Nachricht: Geld gibt’s nicht.
Was bei der Relektüre von Weizsäckers Rede auffällt, ist, dass all die leidenden Deutschen, von denen man angeblich nie reden durfte, bei ihm schon vorkommen, ja dass deren Leiden gar den Schwerpunkt der Rede bildet. Sein Eingeständnis deutscher Verbrechen, das Erinnern an ihre Opfer und die Benennung des 8. Mai als Tag der Befreiung werden so erkennbar als Resultat der Erkenntnis, dass das Leugnen deutscher Verbrechen weniger gewinnbringend ist, als deren Eingeständnis. Die Anerkenntnis des Leidens der Opfer der Deutschen macht den Weg frei für die Darstellung der Deutschen als Opfer. Mit der „Aufarbeitung der Vergangenheit“, lässt sich der Kritik an der eigenen Gesellschaft, die der Auseinandersetzung mit deren Geschichte lange innewohnte, leichter die Spitze nehmen als mit plumper Abwehr. Nicht trotz der begangenen Verbrechen, sondern wegen ihrer „Aufarbeitung“ kann man heute stolz sein, Deutscher zu sein. Insofern hatte „Der Spiegel“ Recht, als er einen Nachruf auf Weizsäcker mit dem Titel „Er hat uns befreit“ versah. Befreit von der Last der eigenen Geschichte.