Massendemonstrationen in der DDR

aus telegraph 1/1989 (#01)

Dresden:

Am 3. Oktober versammelten sich am Dresdener Hauptbahnhof noch mehr Menschen als am Tag zuvor. Nach Schätzungen sollen es fünf bis zehntausend gewesen sein. Gegen 21.00 Uhr wurden sie von Einheiten der Transportpolizei und der Kampfgruppen zum Verlassen des Bahnhofes gezwungen. Das gesamte Bahnhofs­gelände wurde abgesperrt. Nach mehrmaliger Aufforderung seitens der Einsatzkräfte, die Versammlung vor dem Bahnhof aufzulösen, gingen diese brutal gegen die Demonstranten vor. Aus einer Gruppe von 200 bis 300 Personen kamen Steinwürfe in Richtung des Bahnhofes. Zwei LO¦s wurden umgekippt, ein Wagen angzündet. Aus den Reihen der Demonstranten, die sich hauptsächlich aus Ausreisewilligen zusammen­setzten, erklangen Rufe nach „Freiheit“ und der Zulassung des „Neuen Forum“. Die Polizei war an diesem Abend wie auch an den folgenden mit Helmen, Schilden und Gummiknüppeln ausgerüstet. Wasser­werfer wurden aufgefahren. In der Nacht vom Donnerstag zum Freitag bildeten sich Menschenansammlungen in der Prager Straße und vor dem Hauptbahnhof. Beide Gruppen wurden in der Prager Straße in einem Kessel zusammengetrieben. Wasserwerfer fuhren in die Menge und trieben sie auseinander. Danach erfolgten zahlreiche Festnahmen. Das Gelände des Dresdener Hauptbahnhofes war während der ganzen Zeit durch die dort stationierten Kampfgruppen abgeriegelt.

Am Freitag Abend soll sich ein Demonstrationszug von der Kreuzkirche in Richtung Prager Straße bewegt haben. Nähere Informationen sind bisher nicht bekannt.

Am 7. Oktober ab 20.00 Uhr formierte sich ein Demonstrationszug, der sich vom Hauptbahnhof in Richtung Neustadt und wieder zurück bewegte. Die Zahl der Teilnehmer soll 20 bis 30 000 betragen haben. Auch an diesem Abend kam es zu Übergriffen der Polizei, die teilweise mit Gasmasken ausge­rüstet war und Knallkörper in die Menge warf, sowie zu zahlreichen Festnahmen.

Laut einer Information aus Dresden sollen ein Panzer- und ein Fliegerbatallion in höchste Alarmstufe versetzt worden sein.

Am 8. oktober formierten sich mehrere Demonstrationszüge ausgehend vom Theaterplatz . Verschiedene Züge wurden gestoppt, dabei gab es 70 bis 100 Festnahmen. Weitere Gruppen versammelten sich am Busbahnhof. Gegen 20.00Uhr durchbrachen mehrere Menschen die Polizeikette in der Prager Straße und begannen einen Sitzstreik. Die Demonstranten formulierten Forderungen, die später dem Oberbürger­meister im Beisein von Bischof Hempel und Superintendent Ziemer übergeben wurden. Der Sitzstreik wurde unter der Bedingung abgebrochen, daß der Rat der Stadt Gespräche mit den Demonstranten führt. Eine Delegation erhielt die Auskunft, daß am 9. 10. eine Information dazu von staatlichen Stellen komme. Die Ergebnisse der Gespräche werden in 4 Dresderer Kirchen am Abend in ausgesprochen politi­schen Veranstaltungen bekanntgegeben.

Leipzig:

Am Montag, dem 2. 0ktober, nach dem traditionellen Fürbittgottesdienst in der Nikolaikirche bewegte sich ein Demonstrationszug in Richtung Bahnhof. Binnen kürzester Zeit war er auf 10 bis 20 000 Menschen angewachsen. Die Innenstadt von Leipzig wurde vollständig abgeriegelt, trotzdem soll sich die Zahl der Demonstrationsteilnehmer auf 25 000 erhöht haben. Die Sicherheitskräfte gingen mit Brutalität gegen die Eingeschlossenen vor, es gab zahlreiche Verletzte und Festnahmen.

Am 7. Oktober gegen 14.00 Uhr diskutierten etwa 100 Personen vor der geschlossenen Nikolaikirche. Der Platz um die Kirche wurde abgesperrt und geräumt, dabei gab es eine unbestimmte Zahl von Festnahmen. Eine Stunde später versammelte sich in der Grimmaschen Straße eine große Menschenmenge. Sie wurde von Sicherheitskräften eingeschlossen und eine Panik brach aus. Später bewegte sich die Menge in Richtung Karl-Marx-Platz und obwohl die Innenstadt vollständig abgeriegelt war, wuchs die Menge auf ca. 10 000 Menschen an. Durch die teilweise mit Maschinenpistolen ausgerüsteten Polizeikräfte gab es regelrechte Hetzjagden auf Demonstranten. Trotzdem bildeten sich immer wieder Diskussionsgruppen und während der ganzen Zeit wurde nach der Zulassung des „Neuen Forum“ und „Schämt euch was“ gerufen. Wiederum gab es viele Festnahmen.

Arnstadt:

Am 30. September trafen sich gegen 14.00 Uhr etwa 800 Menschen auf dem Marktplatz. Ein Redner sprach über das „Neue Forum“. Nach lebhaften Diskussionen löste sich die Menge nach etwa einer Stunde von allein auf.

Am 7. Oktober bewegte sich ein Demonstrationszug von etwa 600 Personen vom Marktplatz aus durch die Stadt. Von der anrückenden Polizei wurde ein Kessel gebildet, Die Demonstranten wurden zur Auflösung aufgefordert, die meisten folgten dieser Forderung, auf die Übrigen wurde eine Hetzjagd veranstaltet.

Potsdam:

In Potsdam versammelten sich am 7. Oktober 2 bis 3 000 Einwohner in der Nähe des Stadttores und zog danach singend in Richtung Platz der Nationen. Der Zug löste sich zum großen Teil vor dem Cafe Heyder von selbst auf; gegen die Übriggebliebenen ging die Polizei über­raschend vor. Einige versuchten sich den Festnahmen durch Festhalten an Absperrungen zu ent­ziehen, die Polizei schlug brutal auf die Menschen ein, dabei wurden selbst eine schwangere Frau und ein 12-jähriges Kind nicht verschont.

Karl-Marx-Stadt:

Nach der Absage einer Veranstaltung des „Neuen Forum“ am Luxor-Platz versammelten sich spontan 500 bis 1 000 Menschen. Diese Versammlung wurde unter Einsatz von Wasserwerfern aufgelöst. Es gab Verletzte und Festnahmen.

Magdeburg:

Nach dem traditionellen Shalom-Gebet am 5. Oktober zog eine Gruppe von vorwiegend Ausreisewilligen in Richtung Rathaus, dabei vergrößerte sie sich auf etwa 300 bis 500. Rufe nach Demokratie und Freiheit in der DDR ertönten. Die Polizei löste den Zug auf und nahm etwa 250 Personen fest.

Am 7, Oktober versammelten sich ca. 500 Menschen in der Innenstadt. Sie wurden von Bereitschafts­polizei und Kampfgruppen der Arbeiterklasse auseinandergetrieben. Dabei gab es 50 bis 90 Festnahmen.

Berlin:

Aus Anlaß der traditionell am 7. jeden Monats stattfindenden Aktionen gegen den Wahlbetrug am 7. Mai 1989 fand sich auch am 7. Oktober eine kleine Gruppe Menschen auf dem Alexanderplatz ein. Sie forderten in Sprechchören „Freiheit“ und die Zulassung des „Neuen Forum“. Dadurch erhielten sie Zulauf von immer mehr Umstehenden. Es formierte sich ein Demonstrationszug, der sich in Richtung Staatratsgebäudes bewegte. Auf der Höhe des Palastes der Republik, als der Zug bereits auf mehrere hundert Personen angewachsen war, wurden etwa 50 bis 60 Demonstranten von der Polizei eingekesselt. Nach Auflösung des Kessels zogen die Demonstranten am ADN-Gebäude vorbei in Richtung Prenzlauer Berg. Auf dem Weg zur Schönhauser Allee riefen Sprechchöre „Bürger laßt das Glotzen sein, kommt herunter, reiht euch ein“, „keine Gewalt“ angesichts eines riesigen Polizeiaufgebots. Der Demonstrationszug bestand inzwischen aus 5 000 bis 10 000 Menschen. In Höhe der Gethsemane-Kirche, in der seit Montag, dem 2. Oktober, eine Mahnwache für politisch Inhaftierte in der DDR stattfindet, wurden beide Gruppen auf der Schönhauser Allee bzw. der Pappelallee gestoppt. Sie wurden zum Helmholtzplatz abgedrängt und wieder eingekesselt. Hier gab es wieder unter brutalstem Einsatz von Gummiknüppeln eine große Zahl von Festnahmen. Kleinere Gruppen wurden versprengt, sie fanden sich jedoch meist später in der Nähe des S-Bahnhofes Schönhauser Allee wieder, auch weil viele in der Gethsemane-Kirche Schutz suchen woltten. Diese war jedoch volkommen abgeriegelt. Unter Einsatz von Räumgitterfahrzeugen, Wasser­werfern, Hunden und Gummiknüppeln wurden die Demonstranten schließlich auseinandergetrieben und hunderte festgenommen. An den Einsätzen waren Ordnungsgruppen der FDJ (16 bis 20jährige!), Polizei, Bereitschaftspolizei und Armee beiteiligt, die oftmals mit größter Gewalt auch gegen Frauen und Kinder vorgingen. Etwa gegen 23.30 Uhr führten ca. 350 Personen eine Sitzblockade vor dem S-Bahnhof Schönhauser Allee durch. Sie wurden eingekesselt, in einen Hinterhof getrieben und von dort aus auf LO¦s verladen und abtransportiert. Insgesamt soll es an diesem Abend ungefähr 700 Festnahmen gegeben haben.

Am 8. Oktober nache der Andacht in der Gethsemane-Kirche wurde diese vollständig von Bereitschafts­polizei, Kampfgruppen der Arbeiterklasse, Soldaten des Wachregiments, Polizei und zivilen Staats­sicherheitsmitarbeitern abgeriegelt. Auf der Schönhauser Allee versammelten sich spontan aus Soli­darität mehrere hundert Menschen. Nach Verhandlungen mit den Sicherheitskräften wurde die Möglichkeit gewährt den Kessel um die Kirche in Richtung Schönhauser Allee zu verlassen. Auf der Schönhauser Allee standen Räumgitterfahrzeuge, Wasserwerfer, Sonderkommandos mit Helm, Schild, Knüppeln, Stahl­ruten sowie Zivilkräfte. Es bildete sich ein Demonstrationszug, setzte sich in Richtung Zentrum in Bewegung mit Rufen wie: „Keine Gewalt“, „Gorbi“, „Bürger auf die Straße“ und „Väter, schießt nicht auf eure Söhne!“ Der Zug wurde in Richtung S-Bahnhof Schönhauser Alle unter brutalstem Polizeieinsatz zurückgetrieben. Es gab viele Festnahmen sowie zahlreiche Verletzte.

Auch setzten Sicherheitskräfte mehrmals zum Sturm auf die Gethsemane-Kirche an, jedoch wurde kein Kirchengelände betreten.

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