aus telegraph 1/1989 (#01)
Der erste Anlauf zur öffentlichen Diskussion einer vereinigten Linken ist, so muß man wohl sagen, gescheitert. Das lag sicher an einem großen Teil des Publikums, das ganz andere Erwartungen hatte, eine Debatte über nichtsozialistische Alternativen zum existierenden System wollte, und den Titel der Veranstaltung offenbar nur als augenzwinkerndes Ablenkmanöver verstand. Es war tatsächlich ein neues Publikum, nicht die anonymen Linken der „Böhlener Plattform“, auch nicht „die Massen“, auf die man gehofft hatte, sondern ganz normales DDR-Volk, das sich sonst in „Scene“-Veranstaltungen nicht blicken läßt. Auch die Umweltbibliothek erlebte überrascht diesen neuen Andrang aus dem Volk. Binnen vier Tagen waren die 2 000 Exemplare „Umweltblätter“ weg. Zum Zusammenlegen der Seiten stand eine Schlange an, als ob es Bananen gäbe und ohne Rücksicht auf die Nachfolger rissen die Leute ganze Stapel von für sie besonders interessanten Seiten an sich. Nebenan mußte trotz Arbeitsüberlastung nachgedruckt werden. „Egozentrisch“, „nicht gruppenfähig“, „politisch diffus“, „Kleinbürger“ – so waren Urteile von Mitarbeitern. Das war unser bisheriges Bild von Ausreisewilligen – so sind aber ganz mormale DDR-Bürger und wir werden in Zukunft mit genau diesen Leuten rechnen und mit ihnen sprechen müssen. Das bringt uns zu den Linken zurück.
Verständlich ist der Ärger, eine Veranstaltung, die ein guter Anlauf werden sollte, in solcher Weise von breitesten Volksmassen und allgemeinstem Unverständnis usurpiert zu sehen. Und es war wirklich auch wohl zu viel verlangt, den Abend in eine Agitprop-Veranstaltung umzufunktionieren und Lieschen Müller und (einem ebenfalls erschienenen) Gesellschaftswissenschaftler zu erklären, daß das, was wir „Linke“ nennen, eine Menschheitsbewegung und -sehnsucht ist, die seit den ersten Sklavenaufständen datiert und nicht mit den perversen Interpretationen eines Stalin und seiner Nachfolger verwechselt werden darf. Aber daß nicht nur hinter den Kulissen sich schon wieder die Anhänger der einzelnen Systemchen in die Bresche werfen, um der noch gar nicht geschaffenen Bewegung ihr besonders wissenschaftliches oder besonders revolutionäres Modellchen aufzudrängen, – das war nicht nötig, das war peinlich, auch das hinterließ sicher beim Publikum einen negativen Eindruck.
ßberwältigend aber war doch der Anblick eines mehrheitlich liberalen bis schweigenden Publikums, das sich im Laufe des Disputs um zwei Drittel verminderte, gegenüber einer Handvoll umso lautstärker agierender Linker, jeder auch noch von einer anderen Fraktion. Wenn das nicht so bleiben soll, wenn eine vereinigte Linke nicht als Sekte mit Spaltpilz enden soll, werden sich die Damen und Herren der „Böhlener Plattform“ schon aus ihren konspirativen Schützengräben ins Licht der Öffentlichkeit wagen müssen.
Nachsatz: Schon vor der Veranstaltung begann die Mahnwache in der Berliner Gethsemane-Kirche, ein Grund, warum viele besonders junge Leute nicht zur Kirche von Unten kamen. Es wäre eine Frage des (sagen wir mal) Anstands gewesen, daß die linken Theoretiker nach Abschluß der Veranstaltung bei der Mahnwache vorbeischauen. Es gab aber wohl Wichtigeres zu tun. Auch in den nächsten Tagen fand sich niemand ein, was dadurch ausgeglichen wurde, daß Vertreter des „Neuen Forum“ ebenfalls fehlten.
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