GEDANKEN ZUM CHARAKTER DER SOZIALEN BEWEGUNG IM HERBST 1989

aus telegraph 1/1999
von Renate Hürtgen

„Wir erinnern uns für einen Moment der Zukunft…“ (V. Braun)

I. Es ist auch im Jahre 10 nach der „Wende“ noch nicht einfacher geworden, den Charakter der Bewegungen vom Herbst 1989 auf den Begriff zu bringen. Enttäuschung über heutiges Verhalten ehemaliger Bürgerbewegter, sowie die fertigen Urteile westlicher Analytiker, die wenig Schwierigkeiten haben, unserer geschichtlichen Tat je nach politischem Standort oder Kalkül irgendein orginelles Etikett aufzukleben, machen eine etwas gelassenere Betrachtung kaum möglich. Es ist dabei nicht gemeint, sich von Ansprüchen und Maßstäben opportunistisch zu lösen und mit einem unpolitischen oder haltungslosen Gestus einen „objektiven“ Standort einzunehmen. Mein Vorschlag geht dahin, die Bewegungen von 1989 stärker nach der tatsächlichen Funktion hin zu beurteilen, die sie zum damaligen Zeitpunkt hatten und den Versuch einer begrifflichen Fassung der sogenannten Wende offener zu diskutieren, um nicht vorschnell in eine Schublade zu stecken, was noch der Prüfung bedarf.

II. Es gab durchaus unterschiedliche „Arten“ von Bürgerbewegungen, die sich im Herbst 1989 in den Gruppen gesammelt und damit ihrer politischen Intention eine organisatorische Basis verschafft hatten. Die Orientierung der meisten Gruppen ging in die Richtung eines Staats-Bürgersinnes, das heißt, ihre Forderungen sind im Namen eines gemeinsamen Interesses aller DDR-Bürger (mit Ausnahme derer ganz oben) gegen die Monopolisierung der Macht gestellt worden. Im Mittelpunkt standen dabei die Kritik am Informations- und Entscheidungsmonopol von Staat und Partei. Nur wenige Gruppen oder Einzelpersonen innerhalb der Bürgerbewegungen haben bereits sehr früh diese Plattform des Gemeinsinns verlassen und ihre Forderungen explizit im Namen einer besonderen Gruppe, eines Einzel- oder Sonderinteresses formuliert. Zu solchen Gruppen gehörte die „Initiative für eine unabhängige Gewerkschaftsbewegung“. Was ihre Sonderstellung innerhalb des Gros der Bürgerbewegten ausmachte, war weder politisches Kalkül oder besondere Einsicht in den Gang der Geschichte, sondern hing einfach mit dem zusammen, was man sich vorgenommen hatte: Eine Interessenvertretung für einen Teil der Bevölkerung gegen einen anderen Teil zu organisieren. Diese Praxis hat sie schneller als andere Gruppen in eine Funktion gedrängt, die im November 1989 noch gar nicht auf der Tagesordnung der sozialen Bewegungen stand. Sie hat auf die bestehenden und zu erwartenden Widersprüche innerhalb des für einen kurzen Moment einigen DDR-Volkes hingewiesen und gegen das Interesse von vielen Bürgerbewegten die Befürchtung in Anschlag gebracht, daß der neue Staat – das war damals durchaus noch der neue DDR-Staat! – dem alten nicht unähnlich „die Daumenschrauben anziehen“ würde.

III. Die Sicht auf soziale Gegensätze für die Zeit nach der erfolgreichen Beseitigung des Staats- und Parteienmonopols, den einige Teile der Bürgerbewegung einbrachten, war eher so etwas wie ein Vorgriff auf kommende Zeiten. Den in der Mehrzahl staatsbürgerlich argumentierenden und agierenden Bürgerbewegungen ist ihre Absicht nicht vorzuhalten, die politische Stagnation beenden zu wollen. Auf ihre „ungenügende“ Fähigkeit zu verweisen, sich von der Wir-sind-doch-alle-Bürger-Haltung nicht gelöst zu haben, erscheint angesichts der Tatsache, daß dies ja gerade ihre „historische Aufgabe“ war, unsinnig. Deutlicher als noch vor Jahren wird allerdings inzwischen erkennbar, daß sich hinter dem allgemeinen Bürgerbegehren bereits damals (und nicht erst heute im Zuge der unterschiedlichen Parteienzuordnung ehemaliger Bürgerbewegter) handfeste Sonderinteressen verbargen, für die nur keine oder wenig Zeit blieb, sie artikulieren und austragen zu können. In ihrem staatsbürgerlichen Protest hat diese Bürgerbewegung ihr Ziel durchaus erreicht: Der Monopolist war vom Sockel gestoßen! Eine notwendige Ausdifferenzierung der Gesellschaft, einschließlich ihrer bürgerbewegten Teile, war noch gar nicht erfolgt. Sie wäre sicher nach anderen Bündnislinien verlaufen, aber Enttäuschung und politische Neuzuordnungen hätte es nicht weniger ge-
geben als heute.

IV. Viel schwieriger ist es, jene Teile der DDR-Bürgerbewegung einzuordnen und zu bewerten, die sich schon 1989 mehr auf die Fahnen geschrieben hatten, als die Beseitigung des Staatsmonopols. Auch sie sind zunächst nach ihrer Funktion im Gesamtvorgang zu beurteilen. Und diese Funktion bestand ganz maßgeblich darin, der Entwicklung einen ordentlichen Schub zu geben! Unter ihrem Banner konnten sich all jene finden, denen das Ziel, einen pluralistischen Staat zu errichten, zu wenig für diesen historischen Moment war, jene, deren Interesse sich mit einer anderen Art zu leben und zu arbeiten verband, die ein Stück Zukunft einbringen wollten. Dazu gehörten im Herbst 1989 durchaus nicht nur die linken Aktivisten im Bürgerbewegungsspektrum, sondern z. B. auch all jene, die über basisdemokratische Strukturen und Betriebsräte in den Betrieben nachdachten. Sie haben mit ihren oft phantasievollen Forderungen den entscheidenden Anteil daran, daß sich jene Minimalhoffnung auf einen pluralistischen Staat rasch erfüllte.

V. An dieser Funktion, aber auch an ihren eigenen Zielstellungen, sind diese Gruppen der DDR-Bürgerbewegung zu messen. Und hier tut sich ein Widerspruch auf, dem wir auf den Grund gehen sollten. Meine These ist, daß, wer eine grundlegende soziale Veränderung der Gesellschaft, ob nun damals in der DDR oder heute in der Bundesrepublik, anstrebt, sich für die Lage und die Bedürfnisse der produzierenden Menschen interessieren muß, wenn er eingreifenden Erfolg haben will. Das hängt mit dem Stellenwert der Arbeit zusammen, ihrer Art und Weise wie sie organisiert ist, welchen Raum sie für Partizipation läßt und welcher Logik sie folgt. Man kann das Thema auch links liegen lassen, aber dann sollte es kein Erstaunen darüber geben, daß sich mit nur-politischen Kategorien keine sozialen Alternativen denken lassen. Die Bürgerbewegung der DDR – und nicht nur die Gruppen unter Anleitung von Pfarrern und Malerinnen – hat insgesamt wenig interessiert, welcher neuen Natur die Arbeit sein sollte in einem veränderten Gemeinwesen. Die Belegschaften in den Betrieben der DDR haben sie nicht gerade animiert, sich dieser Anstrengung zu unterziehen und aus ihrer unmittelbaren Lebenslage heraus, gab es keinen Anlaß, eine Forderung nach Aufhebung der alten Arbeit zu stellen. Die kleinere Gruppe derer, die Alternativen zum östlichen ( bald auch westlichen) Gesellschaftsmodell in die Bewegung vom Herbst 1989 bringen wollte, hat das Thema einer alternativen Arbeitsweise zwar diskutiert, aber mehrheitlich als Forderung nach betrieblicher Mitbestimmung, nicht als Problem veränderter Arbeits- und Eigentumsverhältnisse. Zum einen mag das damit zusammengehangen haben, daß die Vertreter dieser Gruppen in ihre politische „Wendepraxis“ mehrheitlich mit der Auffassung gegangen sind, es herrsche in der DDR Volks- oder gesellschaftliches Eigentum, welches allerdings noch seine reale betriebliche Organisation der Partizipation der Produzenten finden müsse; die „Natur der Arbeit“ hätte also schon ihre nichtkapitalistische Form, jetzt müsse die entsprechende Staatsform errungen werden. Zum anderen war das zunächstliegende Ziel auf dem Weg zu einer erhofften alternativen sozialen Veränderung zum DDR-Sozialismus auch für jene, die die Arbeit zum Kernstück dabei machen wollten, aber kein Volkseigentum voraussetzten, tatsächlich zunächst eine Veränderung der Mitbe-stim-mungsstrukturen. Denn keiner konnte annehmen, die allgemeine Emanzipation der Produzenten stünde nach 55 Jahren Abwesenheit jeglicher Mitbe-stimmungspraxis vor den VEB-Betriebstoren. Dennoch: ohne einen Anspruch nach ihr, wird man sie auch nicht einleiten können.

VI. War es nun eine soziale oder eine bürgerliche oder eine politische oder was für eine Revolution, die wir da im Herbst 1989 eigenfüßig losgetreten haben? Und war es überhaupt eine Revolution? Um der Antwort auf diese und auf alle Fragen über den Charakter der Herbstereignisse 1989 den leidigen „Bekenntnischarakter“ etwas zu nehmen (Sag, bist Du für oder gegen die Revolution?), der kaum noch ein Nachdenken ermöglicht, weil man sich wie Faust nach Gretchens Frage vorkommt und lieber das Erwünschte nennt, um die Beziehung nicht zu gefährden, soll die Haltung von Volker Braun und Heiner Müller zum Thema zitiert werden. Ihre unterschiedlichen Urteile machen auf produktive Weise deutlich, daß noch ein gehöriges Stück Arbeit vor uns liegt, bis wir den richtigen Begriff von der Sache gefunden haben.

Müller: (Dezember 1989) „Der Prozeß ist revolutionär, vielleicht die erste Revolution in Deutschland, das Tempo ist schwindelerregend, eine sozialistische Revolution ist es nicht und kann es, nach Jahrzehnten stalinistischer Perversion des Sozialismus, nicht sein.“

(Januar 1990) „Der Prozeß, der jetzt im Ostblock einsetzt, läuft auf die Trennung der Kommunisten von der Macht hinaus“.

(Januar 1990) „Haben sie für die November-ereignise den Begriff Revolution verwendet? Doch, den hab ich schon benutzt, denn natürlich war das eine Revolution. Man muß sich von den linken Zuordnungen dieses Wortes verabschieden. Denn auch der Staatsstreich von Hitler war eine Revolution“ .

… eine „Emanzipation von Kolonialisierten“ würde derzeit stattfinden.

Braun: (November 1989) „Wir erleben die größte demokratische Bewegung in Deutschland seit 1918 – und die Richtung geht wieder von unten nach oben. Das ist keine Gewähr, daß diese Bewegung anders verläuft als alle Kämpfe der deutschen Geschichte. Aber wir sehen die ruhige, unaufgeregte Kraft der Massen, die das notwendige Bedürfnis haben, ihr unergiebiges Leben zu ändern. Sie verabschieden sich aus dem zentralistischen Sozialismus“.
(März 1990) „Es ist eine ernste Zeit des eben Möglichwerdens und gerade Vertuns“.
„In den alt-neuen Widersprüchen der begonnenen und verramschten Revolution, …“.

(März 1994)“Aber das Jahr 89 … war ein Moment des Möglichwerdens, des Erlebens historischen Handelns. … Wir haben, geschlagen wie wir sind, unsere Kraft geschmeckt, die Macht der Menge, wir haben einen Staat verschwinden gemacht, wir haben die Ämter geöffnet. Wir erinnern uns für einen Moment ´der Zukunft´, es hat sie gegeben“.

(Januar 1997) „In dem kurzen Herbst der
Anarchie…“.

VII. Müller nennt die Bewegungen vom Herbst 1989 eine Revolution, Braun hütet sich vor diesem Begriff, sein Kompromiß heißt: die verramschte Revolution. Der Grund aber für diesen unterschiedlichen Gebrauch ist bei beiden der gleiche. Sie erkennen, daß die politischen Strukturen, das monopolistische Staatswesen, zur Disposition gestanden haben – nicht mehr aber auch nicht weniger. Sie feiern dieses Ereignis – ob Revolution oder nicht – auch darum als Höhepunkt unserer Geschichte, weil Momente in ihm aufscheinen, die über eine politische Emanzipation hinausweisen. Dennoch macht es Sinn für Volker Braun, den Begriff der Revolution – anders als Müller – noch reserviert zu halten für eine andere Art von Veränderung: „Eine Umwälzung, die nicht den Grund berührt, der die Arbeit ist, versumpft und findet sich wieder in alter Geschichte.“ Und dieser Grund ist nicht berührt worden im Herbst 1989, er ist überhaupt noch nicht berührt worden in der jüngsten Geschichte, weswegen die Gesellschaften in Ost und West durchaus vergleichbar sind. „Es kann kein Zufall sein, daß die eine Gesellschaft die andere in Grün ist und sich unsere Erfahrungen ähneln wie ein Über-raschungsei dem andern.“ Die politischen Strukturen der Unterdrückung haben sich geändert, aber nicht die arbeitsteiligen Hierarchien, sagt Braun. Bleibt noch die bange Frage, ob sich angesichts eines derartig mageren Resultates die ganze Aufregung 1989 gelohnt hat? Die Antwort steht nicht nur bei Müller und Braun fest: Die Emanzipation der Unterdrückten kommt ohne einen Lernprozeß nicht aus, und endlich hat es nach langer Zeit wieder eine erlebbare kollektive Erfahrung von Geschichte gegeben, die Stagnation ist aufgebrochen. Daß sich nicht erfüllt hat, was die notwendigen Utopisten und Sich-nicht-bescheiden-Könnenden erhofften, heißt ja nicht, daß sich jetzt nicht neue Möglichkeiten in den neuen Widersprüchen auftun, die wir mit denselben Utopien und unerhörten Ansprüchen wieder „zum Tanzen“ bringen müssen.

Und welchen Namen wir dem ganzen verleihen sollten, ob es nunmehr eine „bürgerliche Revolution“ war, wenn ja nur die politischen Formen modifiziert worden sind, oder aber eine Kolonisierung (der Kolonisierten, wie Müller sagen würde), vielleicht nur eine „abgebrochene Moderne“ oder die Implosion eines Sackgassenunternehmens, eine Konterrevolution oder die Pleite eines Konkurrenten auf dem Weltmarkt – wir kommen nicht um die Anstrengung herum, uns einen Begriff von der DDR-Gesellschaft zu machen, bevor wir den Charakter ihrer Aufhebung bestimmen.

Renate Hürtgen: Mitbegründerin der „Initiative für eine Unabhängige Gewerkschaft (IWG)“. Sie ist Mitarbeiterin bei den „Kritischen GewerkschaftlerInnen“.

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