aus telegraph 1/1999
von Wolfram Kempe
Ich bin gebeten worden, über die Zeit vom Herbst 89 bis zum Frübjahr 90 etwas zu schreiben, und dies vor allem deswegen, weil ich in dieser Zeit keiner der Oppositionsgruppen angehörte und das, was sich im oppositionellen und politischen Bereich abspielte, quasi von außen betrachtete wie übrigens die Mehrheit der DDR-Bürger auch.
Als ich angefangen habe, mir über dieses Thema Gedanken zu machen, fiel mir wieder ein, wie ich mich mit Freunden daran machte, zur Jahreswende 89/90 eine eigene Zeitung zu gründen, den ANZEIGER. Als wir damit begannen, wußten wir nur zwei Dinge genau: es sollte eine linke Wochenzeitung sein, und sie sollte unabhängig sein von allen Organisationen und Bewegungen, die es bis zu diesem Zeitpunkt in der DDR gab, also auch von den sogenannten Bürgerbewegungen. Ich will versuchen, kurz zu erklären, warum uns diese Unabhängigkeit damals so wichtig war.
Zuallererst war dieses Bestreben Ausdruck der Erfahrungen mit der Basisdemokratie, mit der ,,Opposition von unten“ und ihrer Erscheinungsweise in der Politik der damaligen bewegten Zeiten in der DDR. Es ist natürlich, das will ich noch einmal betonen, ein Blick von außen. Ich kann nichts sagen über die inneren Strukturen der einzelnen Gruppen, über interne Diskussionsprozesse, die in den Gruppen liefen. Von daher wird einiges, was ich schreibe, naturgemäß ungerecht sein. Ich will diese Erfahrungen in sechs kurzen Punkten zusammenfassen.
Das erste, was mir damals auffiel, war der Umgang mit denjenigen, die am 7./8.Oktober in Berlin tatsächlich den Widerstand getragen haben, die am 8. Oktober auf der Schönhauser Allee gesessen haben und die ,,Internationale“ sangen, die ,,zugeführt“ worden sind. Das waren in ihrer übergroßen Mehrheit nicht diejenigen, die nachher als ,,Vertreter der Bürgerbewegungen“ durch die westdeutschen Medien gereicht worden sind. Das waren nicht diejenigen, die für die Bürgerbewegung in der DDR gesprochen haben. Öffentlich sind diese Leute, die die Kartoffeln aus dem Feuer geholt haben, nur auf Demonstrationen in Erscheinung getreten. Dort waren sie auch hochwillkommen, von den ,,Organisatoren“, denn der Erfolg einer Demonstration ist ja nicht ganz unabhängig von der Zahl der Teilnehmer. An der politischen Willensbildung innerhalb der Gruppen waren diese Leute kaum oder gar nicht beteiligt. Im Gegenteil. In dem Moment, wo sich die politische Auseinandersetzung in der DDR weg von Straßen und Plätzen hinein in die Versammlungssäle und an die Runden Tische verlagerte, hatten sie ihre Schuldigkeit getan und sind sogar als die mehr oder weniger Radikalen ausgegrenzt worden. Um dies nochmal richtig deutlich zu machen, will ich daran erinnern, daß es am 24. Juni 1990 in Berlin-Lichtenberg eine große antifaschistische Demonstration gegen das von Neonazis besetzte Haus in der Weitlingstraße gegeben hat. Ich war in der Organisationsgruppe dieser Demonstration. Drei Wochen vorher bin ich von Bürgerbewegung zu Bürgerbewegung gerannt und habe um Unterstützung gebeten. Ich bin mir dabei vorkommen, als wenn ich mit Leuten rede, die in einem anderen Land leben. Das, was sich wirklich tat im ersten Halbjahr 1990 in der DDR, beispielsweise die explosionsartig anwachsende faschistische Organisierung im Lande, spielte nach meinem Eindruck in den Diskussionen, die dort geführt wurden, kaum eine Rolle. Gewiß wurde es jedoch als Gefahr nicht wahrgenommen. Ich hatte lediglich den Eindruck, daß die Bürgerbewegten mit jungen Leuten, die ständig schwarz-rote Fahnen schwenkten, ständig in so einer schwarzen Montur herumrannten und irgendwelche blöden Sprüche klopften, nichts zu tun haben wollten.
Der zweite Punkt, den ich kritisch anmerken will, steht mit dem ersten in einem unmittelbaren Zusammenhang. Noch innerhalb des Jahres 1989 verkehrte sich die Parole ,,Keine Gewalt“ im Grunde genommen in ihr genaues Gegenteil. Ursprünglich ist das eine Parole gewesen, die den Sicherheitskräften entgegengehalten wurde, zumindest war es noch am 7. und 8. Oktober in Berlin so. Später wandelten dann vor allem die ,,Promis“ aus den Bürgerbewegung diesen Satz zu einem Slogan gegen Träger des Widerstandes selber. Dieses Erlebnis stellt für mich die größte Perversion der Aufbruchstimmung des Herbstes 89 dar, und es hat maßgeblich meine eigene Distanz zu den Bürgerbewegungen begründet.
Der dritte Punkt, auf den ich hier kurz eingehen will, ist, daß meiner Erinnerung nach im ganzen Herbst 89 bei allen Bürgerbewegungen eine gewisse Konzeptionslosigkeit vorherrschte. Genauer gesagt: von etwaigen Konzepten über den weiteren Weg der DDR drang nichts nach außen. Die VL hatte mit der Böhlener Plattform nach meinem Eindruck das fun-dierteste, analytischste Papier veröffentlicht. Vom NEUEN FORUM war an Gesellschaftsanalyse schlechthin nichts zu hören, sieht man von verschiedenen Aufrufen ab, die natürlich die Situation im Lande wiederspiegelten und die allgemeine Stimmungslage auffingen. Papiere jedoch, die auch eine Handreichung zur Weiterentwicklung, zur Veränderung der aktuellen Situation hätten sein können, waren nicht vorhanden oder zumindest einer breiten Öffentlichkeit nicht bekannt. Und dies zu allem Überfluß in einer Situation, in der die Bürgerbewegungen insbesondere das NEUE FORUM die Meinungsführerschaft im gesellschaftlichen Diskurs inne hatten. Es ist mir natürlich klar, daß es bei der Geschwindigkeit, mit der sich die Verhältnisse zur damaligen Zeit in der DDR änderten, sehr schwierig war, überhaupt Konzepte zu entwickeln. Das Problem ist nur, daß ich an keinem Punkt festmachen könnte, sei es bei der Durchsicht alter Materialien oder sei es bei Presseveröffentlichungen, daß man sich überhaupt Mühe gegeben hätte. Das NEUE FORUM kämpfte zu dieser Zeit, vom Oktober und bis Mitte November hinein, um seine Zulassung und war sozusagen mit Organisationsdingen beschäftigt. Die VL hielt im November einen Kongreß ab, wo es zwar sehr theoretisch zuging, wo aber im Grunde genommen nichts unternommen wurde, um daneben existierende Basisinitiativen in irgendeiner Art und Weise aufzufangen. Ich denke dabei z.B. an die Initiative der Borsigarbeiter, ich denke an die Aufrufe zur Gründung unabhängiger Gewerkschaften. Ich weiß wie gesagt nicht, was in den Organisationen selbst diskutiert wurde, aber im gesellschaftlichen Kontext sind diese Diskussionen nach meiner Erinnerung nicht wirksam geworden, ganz zu schweigen davon, daß sie Spuren hinterlassen hätten.
Der nächste Punkt, den ich ansprechen will, ist die Haltung der Bürgerbewegungen zu dem, was sich nach dem 9. November abspielte, also zu der Deutschlandbesoffenheit, die damals über das ganze Land kam. Ich kann mich lediglich daran erinnern, vom NEUEN FORUM einen ganz zaghaften und letzten Endes untergegangenen Aufruf gelesen zu haben, in dem stand, man sollte doch bitte an die Arbeit zurückkehren und nicht so viel im Westen rumfahren. Die anderen Gruppen schwiegen ab Anfang Dezember und das betrifft vor allem Gruppen wie Demokratischer Aufbruch, Demokratie Jetzt oder die damalige SDP hieß es dann jedoch: ja, auch wir sind für die deutsche Vereinigung, wir können uns nicht dem entgegenstellen, was die Menschen wollen. Wir haben eine derartige Haltung als Moral von Lemmingen bezeichnet. Dies vor allem, weil letzten Endes kein wirkliches Gegenkonzept zum Wieder-ver-einigungsplan der westdeutschen Eliten entwickelt worden ist. In Übernahme westdeutscher Floskeln wurde stattdessen dahingehend argumentiert, ,,die Menschen“ in der DDR wollen eben keine Experimente mehr. Die deutschlandtrunkenen Forderungen auf den Leipziger Montagsdemonstrationen, die ab dem 6.November laut wurden, als der Vertreter des NEUEN FORUMS ausgepfiffen wurde, sind unkritisch übernommen worden. Eine deutliche antikapitalistische Position zu beziehen, war für die Bürgerbewegungen zu diesem Zeitpunkt offensichtlich nicht mehr opportun. Der Genauigkeit halber müssen zwei Dinge hinzugefügt werden. Erstens: Quer zu den sich verfestigenden Strukturen hat es im Dezember 1989 in Berlin eine Demonstration von 60.000 Menschen gegeben, die sich explizit gegen die Wiedervereinigung richtete. Zweitens: Es hat in dieser Zeit einen sehr starken Dif-feren-zie-rungsprozeß innerhalb der Bürgerbe-we-gungen gegeben, der sich gerade an der Frage Wiedervereinigung festmachte. Das betrifft besonders das NEUE FORUM. Ich will nur daran erinnern, daß Joachim Gauck, Karl-Heinz Eggert und auch Haschke, später DSU, alle mal Mitglieder des NEUEN FORUM gewesen sind.
Der vorletzte und für mich entscheidendste Punkt betrifft das „StelIen der Machtfrage“. Am 1. Dezember 1989 rief das NEUE FORUM Karl-Marx-Stadt zum politischen Generalstreik auf. Einen Tag später erklären unisono in Berlin Bärbel Bohley und Annelies Kimmel, damals Vorsitzende des FDGB, daß der Generalstreik doch wirklich das verkehrteste wäre, um auch nur irgendetwas in diesem Land zu verändern. Dies halte ich für den größten politischen Fehler der damaligen Wochen. Das Kampfmittel des politischen Streiks, des politischen Generalstreiks, war ja nicht nur durch 40 Jahre DDR, sondern auch zuvor durch zwölf Jahre Hitler-Diktatur nicht mehr verankert in der Arbeiterbewegung. Anfang Dezember 1989 hätte die Chance bestanden, es als politisches Kampfmittel wieder zu erlernen. Dies wäre nicht nur für die damaligen DDR-Verhältnisse wichtig gewesen, auch unter den Bedingungen der Bundesrepublik müßte es ja wieder gelernt werden, um zu normalen, demokratischen, westeuropäischen Verhältnissen aufzuschließen. Hier hätte die Möglichkeit bestanden, auch die Bundesrepublik grundsätzlich zu verändern. Diese Chance ist ohne Not aus der Hand gegeben worden. Stattdessen hat man sich auf die Runden Tische versteift. Es gab davor Runde Tische in Polen und in Ungarn, dort konnte man sehen, was passiert ist. Thomas Klein hat zu recht gesagt, daß natürlich gerade von der Seite der SED an diesen Runden Tischen ein großes Interesse bestand-ja warum auch nicht? Durch diese Einbindungen waren die Bürgerbewegungen an der damals fluktuierenden Macht beteiligt. Das hat ihnen genügt. Daß diese Machtfrage ganz real stand, hat unter Umständen lediglich die SED bemerkt. Runde Tische waren daher aus ihrer Sicht genau das richtige Sedativum, die richtige Ablenkung, die die Bürgerbewegungen davon abhielten, diese Frage nach der Macht auch öffentlich zu stellen und in ihrem Sinne zu beantworten. Als wenn auch nur symbolische Teilhaber dieser Macht waren sich die Bürgerbewegungen dazu zu fein.
Als letzten Punkt will ich etwas benennen, daß zum in Rede stehenden Zeitpunkt beginnt und sich bis heute fortgesetzt hat: die Abgrenzungssucht gegenüber der SED. Vor allem die eher bürgerlich orientierten Bürgerbewegungen verweigerten sich zunächst einer kritischen Begleitung der Transformation der Staatspartei hin zur SED-PDS und dann zur PDS. Er gipfelt meiner Einschätzung nach in einem pathologischen Verhältnis der Vertreter dieser Bürgerbewegungen, unabhängig davon, in welchen Parteien sie heute gelandet sind, zur PDS. Dieser Prozeß war damals wahrnehmbar und hat sich quasi in den letzten vier Jahren permanent verstärkt. Seine negativen Auswirkungen treffen hauptsächlich die PDS selbst: reformorientierte, sozialistische Kräfte sind in ihrer Auseinandersetzung mit realstalinistischen, alten Positionen entscheidend geschwächt worden. Auf diese Art und Weise ist eine weitere Chance verspielt worden.
(Mit freundlicher Genehmigung des Matthias-Domaschk-Archiv Berlin)
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