aus telegraph 1/1999
Anfang September 1989 fand in Böhlen ein Treffen von Vertretern verschiedener sozialistischer Tendenzen, darunter Christen und Marxisten, statt. Auch Mitglieder der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands waren anwesend.
Die Teilnehmer des Treffens berieten angesichts der wirtschaftlichen Stagnation und der sich entwickelnden politischen Krise in der DDR über die Notwendigkeit einer tiefgreifenden politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Umgestaltung, die dafür notwendige Zusammenarbeit aller auf den Positionen des Sozialismus stehenden weltanschaulichen und politischen Kräfte in der DDR und die Notwendigkeit der Erarbeitung einer linken, sozialistischen Alternative im Geiste sozialistischer Demokratie und Freiheit.
In diesem Sinne verabschiedeten die Teilnehmer des Treffens den Appell
,,Für eine vereinigte Linke in der DDR“ und beschlossen seine Veröffentlichung.
Die Teilnehmer des Treffens rufen alle unabhängigen sozialistischen Gruppen und Vertreter selbständigen linken Denkens auf:
Entwickelt die enge Zusammenarbeit und das Bündnis der Linken!
Vertretet offensiv die Positionen sozialistischer Demokratie und Freiheit!
Erarbeitet eigenständige alternative Konzepte und Programmatik im
Geiste einer demokratischen, freiheitlichen sozialistischen Entwicklung
in der DDR!
Die Teilnehmer des Böhlener Treffens schlagen allen Gruppen mit sozialistischer Tendenz eine gemeinsame Konferenz vor. Inhalt einer solchen Konferenz sollte die Erarbeitung von Mindestanforderungen an die Verwirklichung einer grundlegenden Gesellschaftsreform im Sinne eines freiheitlichen Sozialismus sein. Die Erarbeitung solcher Mindestanforderungen muß im Geist der Suche eines für alle sozialistischen Tendenzen akzeptablen Minimalkonsens erfolgen.
Eine solche Konferenz kann über die üblichen persönlichen Kontakte vorbereitet werden.
Während des Böhlener Treffens wurde von einzelnen Teilnehmern ein Vorschlag zur Erarbeitung dieses Minimalkonsenses zur Diskussion gestellt. Dieser Vorschlag wird von Teilnehmern als diskussionswürdig erachtet und als Anregung für einen breiten Meinungsstreit der Linken veröffentlicht. Die Teilnehmer des Treffens vereinbarten ihre erneute Zusammenkunft. Böhlen, Anfang September 1989
Für eine vereinigte Linke in der DDR!
Appell!
Angesichts der anhaltenden wirtschaftlichen Stagnation und der sich verschärfenden politischen Krise in unserem Land wenden wir uns mit diesem Aufruf an alle politischen Kräfte in der DDR, die für einen demokratischen und freiheitlichen Sozialismus eintreten. Ein linkes alternatives Konzept für eine Wende wird immer dringlicher!
Wir sind uns der schwierigen Voraussetzung durchaus bewußt: Die Diskreditierung einer sozialistischen Perspektive durch das, was die hier Herrschenden zum Zerrbild dieses alten Kampfziels der Arbeiterbewegung verkommen ließen, hat bei der Mehrheit der Bevölkerung mehr Desillusionierung und Passivität als mutiges und problembewußtes Denken und Handeln bewirkt. Und doch gibt es nicht nur die Ausreisewelle, sondern auch immer mehr Menschen, die bleiben und die bestehenden Verhältnisse ändern wollen. Dabei ist die Herstellung eines breiten Konsenses unter den Linken in unserem Land und die Ausarbeitung eines realistischen, politisch tragfähigen und durchgreifenden gesellschaftlichen Programms einer sozialistischen Umgestaltung der DDR heute wichtiger als jemals zuvor.
Dies gilt aus mehreren Gründen:
Zunächst zeigt die Umgestaltung in der UdSSR, daß tiefgreifende Reformen im ,,real existierenden Sozialismus“ nicht nur notwendig, sondern auch möglich sind. Andererseits sprechen die gefährlichen politischen Turbulenzen im Gefolge des viel zu spät begonnenen gesellschaftlichen Wandels in der UdSSR und der VR Polen eine deutliche Sprache: So zeigen zum Beispiel die jetzt ausufernden (weil über Jahrzehnte angestauten) nationalen Konflikte in der UdSSR oder die weitgehende Neutralisierung kommunistischen, sozialistischen und selbst sozialdemokratischen Denkens im Sog des Bankrotts der PVAP sowie das noch unbewältigte stalinistische Erbe der kommunistischen Parteien mit aller Deutlichkeit, was geschieht, wenn zum Problem des verschleppten Wandels noch die Abwesenheit tragfähiger sozialistischer Konzepte hinzukommt. Das Beispiel der Ungarischen VR zeigt überdies deutlich, wie unter diesen Bedingungen die konzeptionslosen Anleihen aus dem Arsenal marktwirtschaftlicher Regulative im Bemühen um eine Wirtschaftsreform selbst Krisen und soziale Divergenzen produzieren. Wenn wir es auch in der DDR zulassen, daß die hier sich anstauenden politischen, wirtschaftlichen und sozialen Probleme überfällige Reformen zu einer dramatischen ,,Flucht nach vorn“ werden lassen, sind die Gefahren eines Ausverkaufs an den Kapitalismus oder einer Militärdiktatur neostalinistischer Option durchaus real.
Jedoch bieten die DDR und die CSSR noch die besten wirtschaftlichen und politischen Voraussetzungen für einen erfolgreichen radikalen Wandel in Richtung Sozialismus, wenn es gelingt, die zweifellos starken sozialistischen Potentiale für eine solche Perspektive wiederzugewinnen. Daß gerade diese beiden Länder politisch weitab von dieser Entwicklung zu verharren scheinen, ist nicht nur politbürokratischer Herrschaftstechnik geschuldet. Dies geht eben auch auf die vergleichsweise günstigere wirtschaftliche Situation zurück. So kann es den Machthabern gelingen, jenen auf demokratische Wirtschaftsreformelemente gestützten Beharrungskurs solange fortzusetzen, wie die sozialen Spannungen noch beherrschbar bleiben.
Wir sind der Auffassung, daß insbesondere die DDR vor einer historischen Chance radikaler Erneuerung des sozialistischen Gesellschaftskonzepts steht. Wird sie warten, so hat das Folgen, die möglicherweise nicht nur in unserem Land über lange Zeit hinweg die Aussicht auf ein sozial gerechtes und die freie Entfaltung jedes Gesellschaftsmitglieds garantierenden Gemeinwesens suspendieren.
Die äußeren Bedingungen für die radikale Erneuerung sind kompliziert genug: Im modernisierten internationalen Kapitalismus begünstigt die Enttäuschung der Werktätigen über die Wirkungslosigkeit des sozialdemokratischen Wohlfahrtstaatlichkeitsmodells die weiter anhaltende neokonservative Wende nach rechts. Die Gewerkschaften stehen mit dem Rücken zur Wand. Der Rückgang des Einflusses westeuropäischer kommunistischer Parteien und der Prozeß ihrer galoppierenden Sozialdemokratisierung verdient das Prädikat dramatisch. Der Internationalismus kommunistischer Massenparteien hat de facto aufgehört zu existieren und kann sich hinter dem dagegen noch funktionierenden, aber nichtsdestoweniger kläglichen sozialdemokratischen Internationalismus verstecken. Die Faszination des ermutigenden Aufbruchs der KPdSU aus dem Ghetto von Stagnation, Stalinismus und Machtanmaßung weicht mehr und mehr der Sorge, die nun anwachsenden zentrifugalen Kräfte könnten noch mehr zerreißen als die Blockaden gegen eine wirkliche sozialistische Entwicklung. Der wirtschaftliche Umbruch in den Reformländern greift nicht oder bedient sich zweifelhafter Methoden. Die Defizite einer radikalen Erneuerung theoretischen Denkens auf marxistischer Grundlage sind angesichts der heutigen Herausforderungen katastrophal.
Und doch ist die Chance da: Ein souveräner Umschwung in Richtung Sozialismus wäre heute nicht mehr militärischer Einmischung seitens ,,wohlmeinender Bruderländer“ ausgesetzt. Aufgrund der desolaten Wirtschaftslage ist die politische Einmischung des Westens über den Kanal der ,,Wirtschaftskooperation“ viel größer.
Die entscheidende Frage bleibt die soziale Basis, die politische Reife und die seriöse Programmatik votierender Kräfte im Lande selbst. Für uns heißt dies unter den in der DDR herrschenden Bedingungen, dieses Fundament wiederzugewinnen. Und hier sind uns die Voraussetzungen zweifellos günstiger als in anderen ,,sozialistischen“ Ländern – ungeachtet der weiter bestehenden politischen Unterdrückung auch und erst recht linker Kräfte in der DDR. Die Linken in unserem Land können sich kein Sektierertum leisten. Sie müssen die treibende Kraft einer ,,Koalition der Vernunft“ sein, welche sich auf die Vielfalt aller sich zum Sozialismus bekennenden politischen und sozialen Kräfte in der DDR stützt, aber darüber hinaus allen sozialen und politischen Gruppierungen unter dieser Voraussetzung des Sozialismus eine Perspektive bieten kann. Eine vereinigte Linke muß in diesem Sinne in freier, gleichberechtigter, offener und öffentlicher Diskussion in kürzester Zeit ein konzeptionelles Programm für die politische und wirtschaftliche Umgestaltung erarbeiten, welches den Charakter hat, sich bei seiner Realisierung auf eine breite gesellschaftliche Akzeptanz stützen zu können. Niemand, der diesen Prozeß der Erneuerung mitgestalten will, auch kein Mitglied der SED, darf aus diesem Prozeß ausgegrenzt werden.
Andererseits zeigen gerade wieder jüngste Erfahrungen, wohin prinzipienloser gesellschaftskonzeptioneller Relativismus führen kann. Wir wenden uns entschieden dagegen, daß politbürokratische Unterdrückung durch kapitalistische Ausbeutung ,,ersetzt“ wird. Die Linken müssen sich auf der Basis des gesellschaftlichen Eigentums an Produktionsmitteln als die vorherrschende und perspektivische Grundlage sozialistischer Vergesellschaftung des Ausbaus der Selbstbestimmung der Produzenten in Verwirklichung realer Vergesellschaftung der gesamten ökonomischen Tätigkeit, der konsequenten Verwirklichung des Prinzips der sozialen Sicherheit und Gerechtigkeit für alle Gesellschaftsmitglieder, der politischen Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, konsequenten Verwirklichung der ungeteilten Menschenrechte und freien Entfaltung der Individualität jedes Gesellschaftsmitglieds des ökologischen Umbaus der Industriegesellschaft treffen. Die Zeit ist überreif für eine offene Diskussion der damit verbundenen Fragen. Der Prozeß des Dialogs einer sich vereinigenden Linken auf solcher Grundlage kann und sollte auch unter den heute noch geltenden Bedingungen der beruflichen Diskriminierung und der Ausübung politischen Drucks auf politisch nicht angepaßtes Denken trotzdem öffentlich erfolgen. Dem organisatorischen Zusammenschluß einer vereinigten Linken hat der beschriebene Prozeß des Dialogs vorauszugehen.
Mindestanforderungen für die Gestaltung einerfreien sozialistischen Gesellschaft in der DDR
Vorschlag füir einen Minimalkonsens einer breiten unabhängigen sozialistischen Opposition
Vorbemerkung
Die hier formulierten Vorschläge sind der Versuch, ein Minimum konstruktiver Gemeinsamkeiten zu finden, die für alle sozialistischen Tendenzen akzeptabel sind. Dieser Versuch ist schwierig, weil so grundsätzliche Probleme, wie die Form der sozialistischen Demokratie (Parlamentarismus, Rätesystem oder Kommune) als politisch umstritten innerhalb der Linken ausgeklammert werden müssen.
Die Präzisierung solcher Fragestellungen muß nicht nur klärender Diskussion innerhalb der Linken, sondern auch vor allem dem Prozeß der Selbsttätigkeit der Massen vorbehalten bleiben.
1. Verwirklichung der sozialistischen Demokratie als Ausdruck der Volkssouveränität durch die Volksmacht, das heißt der Selbstbestimmung und Selbstverwaltung des werktätigen Volkes. Dem dient die Realisierung folgender Grundsätze:
a) Sicherung individueller und kollektiver Freiheitsrechte entsprechend der UN-Menschenrechtscharta (einschließlich ungehinderter Reisefreiheit und Streikrecht)
b)Rechtsstaatlichkeit (einschließlich individueller und kollektiver Einklagbarkeit der Freiheitsrechte sowie gesetzliche Verantwortlichkeit der Behörden und ihrer Funktionsträger gegenüber den Bürgern)
c) Funktionelle Gewaltenteilung auf der Grundlage der Volkssouveränität (einschließlich Verfassungskontrolle und Verwaltungsgerichtsbarkeit sowie Wahrnehmung der Volkssouveränität gegenüber den rechtsprechenden und vollziehenden Apparaten)
d)Starke basisdemokratische Verankerung der staatlichen Gewalt mittels Volksabstimmungen sowie politischer Rechte für Betriebsräte und Wohnbezirksräte
e) Selbstverwaltung aller territorialen politischen Gemeinschaften (Gemeinden, Kreise usw.) einschließlich der Bildung ihrer Rechtspflege- und Polizeiorgane durch sie selbst bei einschließlich gerichtlicher Kontrolle ihrer von staatlicher Aufsicht freien Tätigkeit
f) Bundesstaatlichkeit auf der Grundlage der Länderstrukturen von 1949 sowie des Landes Berlin (DDR) und Bildung einer Länderkammer nach dem Senatsprinzip aus den Volksvertretungen der Länder
g) Politische und Meinungspluralität einschließlich Parteienpluralität auf der Grundlage freiheitlich-demokratischen Verfassungsrechts
h) Verhältniswahlrecht
i) Recht von Gesetzesinitiativen und geregelte Vetorechte für demokratische
Massenorganisationen (Gewerkschaft usw.)
j) Förderung von vielfältigen Bürgerinitiativen und Sicherung ihrer breiten Einbeziehung in die staatlichen Entscheidungsprozesse
k) Umbildung der Massenmedien aus Organen der monopolisierten Regierungsgewalt in Medien der Öffentlichkeit durch die Anwendung des öffentlichen Rechts unter Sicherung des Medienzugangs für jeden Bürger
1) lnformationsfreiheit in allen öffentlichen Angelegenheiten und Rechtsschutz gegen den ,,gläsernen Menschen“ (Datenschutz)<
2. wirtschaftliche und soziale Grundlagen:
a) Öffentliches Eigentum an den Hauptproduktionsmitteln in demokratischer Mitbestimmung und Selbstverwaltung durch die Arbeitenden
b) Eigene freie Arbeit des Einzelnen als Grundlage seiner Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum
c) Konsequente Anwendung des Leistungsprinzips bei der Verteilung der Einkommen
d) Recht auf Arbeit
e) Kollektive Kontrolle der Arbeitenden über den Produktionsprozeß in Betrieb und Gesellschaft
f) Freie Entfaltung von Genossenschaften und Privateigentum auf der Grundlage eigener Arbeit
g) Verbot der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen (Aneignung
fremder Arbeit); insbesondere Verbot monopolbürokratischer Lohnarbeit und kapitalistischer Lohnarbeit (auch in privaten Kapitalgesellschaften)
h)Eigenfinanzierung der Wirtschaftssubjekte mit Rentabilitätszwang
i) An sozialen, wissenschaftlich-technischen, ökologischen und kulturellen Programmen ausgerichtete makroökonomische Wirtschaftssteuerung mittels aus solchen Programmen abgeleiteten Normativen
j) Umsetzung von Rahmenplänen mittels Staatsauftragstätigkeit auf der Basis von abzuschließenden Wirtschaftsverträgen mit Vorzugsbedingungen sowie mit ökonomischen Hebeln, wie Abgabe- und Zuschußpräferenzen, Krediten, Preisen, Zöllen usw.
k) Ökonomische Bewertung von Ressourcen, insbesondere Natur-Ressourcen
1) Konsequenter Ausbau der Haftung für Umweltschäden nach dem Verursacherprinzip
m) Durchsetzung staatlicher Außenwirtschaftspolitik mittels rahmenplangebundener Präferenzen, Zölle und Tarife
n) Dezentralisierung staatlicher Finanzpolitik zur Sicherung des finanziellen Eigenaufkommens der territorial-politischen Gemeinschaften sowie Lasten- und Finanzausgleich zwischen Ländern und Kommunen
o) Humanisierung und Qualifizierung der Arbeit, Verkürzung der Arbeitszeit und ökologischer Umbau der Industriegesellschaft als Hauptkriterien der Produktivkraftentwicklung in einer freiheitlichen sozialistischen Gesellschaft
p) Verfassungszwang für die vollziehenden Gewalten, im Falle ökologischer Notstände auch Notstandsmaßnahmen anzuordnen (Smog etc.)
3. Ziele der Verfassungs- und Gesellschaftsreform
a) Freie Entwicklung jedes Einzelnen als Grundlage für die Entwicklung aller
b)Überwindung der Ungleichheit der Klassen zugunsten der Verschiedenheit der Individuen
c) Kontrolle der Arbeit und ihrer Produkte durch die Arbeitenden d)Emanzipation der Frau
e) Schrittweise Zurückdrängung aller knechtenden und unterordnenden Verhältnisse und Tätigkeiten
f) Förderung solidarischer Verhaltensweisen und Minderheitenschutz
g) Verfassungsrechtliche Garantie des freiheitlichen Charakters der DDR auch durch die Fixierung der freiheitlichen und solidarisch-demokriatischen Verhältnisse im Innern
h) Verteidigung des Charakters der DDR als Gesellschaft sozialistischer Freiheit in der verfassungsrechtlichen Fixierung ihres Antidespotismus im allgemeinen und ihres
– Antistalinismus
– Antifaschismus
– Antimilitarismus im besonderen;
– Antikapitalismus
– Antinationalismus
– Antirassismus
© telegraph. Vervielfältigung nur mit Genehmigung des telegraph