AN DER GESCHICHTSWISSENSCHAFT IST NICHTS DRAN, WAS AN IHR NICHT DRAN IST

aus telegraph 171999
von Wolfgang Wolf

In einem fiktiven Streitgespräch über die Glaubwürdigkeit der Geschichtswissenschaft läßt Tucholsky 1927 den daran Zweifelnden seine Auffassung wie folgt begründen:

,,Weil ich nicht einmal daran glaube, daß man von Stockholm bis nach Berlin restlos übertragen kann, was sich da ereignet hat. Die Ereignisse wohl – die Zahlen wohl – aber das Letzte nicht. Das nicht, worauf es eigentlich ankommt.

Die Nuance, mehr: die Farbe, der Ton, die Musik – ohne das Tun der Menschen nicht verständlich gemacht werden kann… – es geht nicht. So schwer ist es nun schon bei gegebener Gleichzeitigkeit – bei räumlichen Unterschieden von ein paar hundert Flugkilometern. Soll es da mit der Zeit besser sein?“

Darin besteht mein Problem: „Aber für diesen Stoff gibt’s doch Gleichzeitigkeit zwischen Autor, Redakteuren und den meisten Lesern?“ Und das Alter-? ist das nicht auch ein Zeitproblem? Wer das Entstehen der DDR als Alternative zum Vergangenen und dessen Wurzeln mit erlebte, engagiert dabei mit wirkte, hat ein anderes Verhältnis zu ihr, muß ein anderes Verhältnis zu ihr haben – egal ob positiv oder negativ – als jene, die in sie hineingeboren wurden, denen ihr realer oder vermeintlich alternativer Charakter erst nachträglich zu vermitteln war. Tucholsky läßt den Streit um den Wert von Geschichte unentschieden ausgehen; sein Artikel endet mit dem in der Überschrift zitierten Satz. Also bitte, keine übertriebenen Erwartungen an das, was zu vermitteln ich versuchen werde.

Linke Opposition seit der Mitte der achtziger Jahre
1. Gemeint sind hier jene politischen Kräfte, die eine demokratisch-sozialistische Alternative zur real existierenden DDR anstrebten. Dafür gab es zwei prinzipiell verschiedene Konzeptionen: einerseits den ‚Dritten Weg‘ – Reformierung des ‚realen Sozialismus‘ zu einer Gesellschaft etwa in der Mitte zwischen dem Ausgangsstatus und dem Kapitalismus und andrerseits die Überwindung der pseudosozialistischen Ordnung als Voraussetzung für einen radikal-demokratischen Sozialismus jenseits von Kapitalismus und ‚Realsozialismus‘. (Außer Acht zu lassen sind hier jene Gruppierungen, denen im Herbst 1989 ,sozialistische‘ Losungen nur zu taktischen Zwecken dienten.)

2. Für die Anhänger beider Richtungen stand Ende der 80er Jahre die Auswegslosigkeit des Kurses der DDR-Führung außer Zweifel. Aber beiden Fraktionen erschien auch die Erhaltung einer reformierten bzw. im Wesen revolutionierten DDR als die dem Sozialismus dienlichere Lösung, statt ihres Versinkens im kapitalistischen Weltmeer mit der Konsequenz eines kompletten Neuanfangs. Beiden war die Schwäche ihrer Position angesichts der enormen, von der Politik der SED-Führung betriebenen und der überwiegenden Mehrheit ihrer Mitglieder getragenen Erosion des Ansehens des Sozialismus in der Bevölkerung (da es angeblich zum ‚realen‘ keine Alternative gab) zwar bewußt, aber beide haben diesen Umstand unterschätzt bzw. verdrängt: Du hast keine Chance? Ergreife sie!. Der Dritte Weg war über eine Reform von oben, beginnend mit einer zu reformierenden SED, (ab Herbst 1989 über ihre Auflösung und eine Neugründung) zu realisieren. Er war gescheitert, als sich im Dezember 1989 für die Parteiauflösung keine Mehrheit fand, und verlor jeglichen ernst zu nehmenden sozialistischen Anspruch mit dem Konzept zur Wirtschaftsreform der Modrow/Luft-Regierung. Die Analyse für das Scheitern jenes Kurses ist allerdings nicht mein Thema.

3. Hier geht es mir um jene Linken, die unter Sozialismus eine Gesellschaft selbst bestimmter Verhältnisse anstrebten, in Ostberlin bis zum Herbst 1989 vor allem im Friedenskreis Friedrichsfelde und der personell mit ihm z.T. verflochtenen Gruppe Gegenstimmen, in der Umwelt Bibliothek, in der Kirche von Unten (einschließlich der ihr assoziierten Antifa-Gruppe) und in einer Hand voll thematischer Arbeitskreise mit sozialistischer Grundorientierung präsent; jene also, die ab September 1989 über das Projekt einer Initiative für eine Vereinigte Linke (IVL, bisweilen auch VL) ihren Sammlungsversuch starteten. Um das Handeln dieser Linken im Herbst 1989 zu verstehen, sind Ausführungen über deren Arbeit nötig.

Die radikal-demokratische, sozialistische Linke 1985 – 1989
4. Die ‚Friedrichsfelder Plattform zur ‚Politikfähigkeit der unabhängigen Friedensbewegung‘ (öffentlich vorgetragen anläßlich der Friedenswerkstatt Pfingsten 1985) beförderte den Differenzierungsprozeß innerhalb der alternativen Friedensbewegung. Die Ende 1986 einseitig betriebene Gründung der Initiative für Frieden und Menschenrechte (IFM) war der Vollzug nun auch der organisatorischen Spaltung ihrer politikfähigen Kräfte. Die Linken konzentrierten sich fortan auf eigene Projekte: Um die DDR in Richtung auf Sozialismus zu verändern, war ihr sozialistischer Anspruch zu delegitimieren, war also nachzuweisen, daß ihre (ohnehin immer fragwürdiger gewordenen) ‚sozialistischen Errungenschaften‘ nur zu haben waren, wenn man ihr undemokratisches, staatsbürokratisches Wesen in Kauf nahm. Nur so konnte der weiteren Erosion des Sozialismusbegriffs begegnet werden. Es ging nicht um eine ‚verbesserte‘ sondern um eine ‚veränderte‘ DDR. Dazu wurden auf die DDR bzw. das ‚sozialistische‘ Staatenbündnis bezogene Themen bearbeitet, wie: Weltraumrüstung, internationale Abrüstung, Charakter der Arbeit und Arbeitsrecht, Menschenrechte, Atomenergie und Energiepolitik, Weltwirtschaft und Entwicklungshilfe, Wirtschaftsreformen, Gleichstellung der Frauen, Reformfähigkeit des Systems, Bildungswesen, Systemwettbewerb, Antifaschismus und rechte Skinheads, Müllimporte aus der BRD…- die Liste ist unvollständig. Die Wirkungserwartungen waren gering, die Ergebnisse gleich Null. Dort, wo Vorträge und Papiere ihre Adressaten erreichten, hinterließen sie kaum Spuren. In der späteren VL waren sie weithin unbekannt.

5. Die DDR steuerte unaufhaltsam auf eine Katastrophe zu: Die SED-Führung hatte sie in eine immer enger werdende Sackgasse geführt, aus der auszubrechen nur mit der Konsequenz des Herrschaftsverlusts, verbunden mit dem hohen Risiko, den ins Rollen gekommenen Stein nicht mehr aufhalten zu können, zu haben war. Letzte Bestätigung: Die von einer Politbürominderheit im Sommer 1988 korrigierten Planvorgaben für 1989 wurden schon im Herbst wieder auf den alten (irrealen) Stand gebracht. Schon die Anti-IWF-Kampagne (1988) machte die Orientierung der Linken auf einen selbstbestimmten Sozialismus öffentlich. Und bei der dazu nötigen Zusammenarbeit mit Dritte-Welt Gruppen hatte sich auch die Basis verbreitert. Trotzdem blieben die Linken – angesichts des Bündnisses der IFM mit den Ausreise-An-trag–stel-lern und ihrer ‚Staats–bürger-rechts–gruppe‘- ei–ne Minderheit innerhalb jener Minorität, die die so genannte alternative Szene ohnehin bildete. Dessen ungeachtet faßte Gegenstimmen 1988 den ihre Kräfte überfordernden Beschluß zur Ausarbeitung einer gesamtgesellschaftlichen Reformkonzeption. Als Ausweg bot sich die über Umwege vermittelte Kooperation mit einer ominösen innerparteilichen SED-Opposition an, die personell bis ins SED-Politbüro und den Ministerrat reichen sollte, getarnt als AG Stadtökologie beim Pankower Kreisverband des Kulturbunds. Die im Sommer 1989 offenbar gewordene existentielle Staatskrise kam der Arbeitsaufnahme. dieser Projektgruppe zuvor.

6. Bei der in den Umweltblättern (Vorläufer des telegraph) veröffentlichten Einladung zu einer Diskussion über ein Projekt für eine vereinigte Linke spielte die später zur programmatischen Gründungsurkunde erklärte ‚Böhlener Plattform‘ fast keine Rolle. Ihre Autoren hatten mich immerhin legitimiert, in meiner Diskussionsrede auf wichtige Inhalte dieses (der Versammlung nicht vorliegenden) Papiers zu verweisen. Die Forderungen der ‚Böhlener‘ hoben sich allerdings qualitativ von allen anderen programmatischen Äußerungen neu entstandener Bewegungen und der SDP ab: Es ging ihnen eben nicht nur um parlamentarische Korrekturen und Rei-se-freiheit, sondern um einen prinzipiellen Kurswechsel in Rich—tung Sozialismus. Notwendige Voraussetzung: Rücktritt der DDR-Führung. Damit hatten ihre Autoren als Einzige die Grenzen der DDR-Verfassung überschritten. Aber wieder blieb öffentliches Echo aus.

7. Warum wollten die Linken die DDR retten? Natürlich als Alternative zur monopolistisch beherrschten, kapitalistischen BRD. Damit war aber ihre Fortexistenz nur als sozialistisches Land sinnvoll. Ihr überwiegend nichtkapitalistisches Eigentum an Produktionsmitteln machte nur Sinn als besonders günstige Ausgangsposition für sozialistische Produktionsverhältnisse und damit auch zur Möglichkeit, die Ambivalenz ‚realsozialistischer Errungenschaften‘ zu überwinden.

8. Zum Projekt der Autoren der ‚Böhlener Plattform‘ und der IVL-Gründerinnen und Gründer gehörte, als wichtige Massenbasis reformwillige SED-Oppositionelle – bei zulässiger Beibehaltung ihrer Parteimitgliedschaft – zu gewinnen. Immerhin war jeder sechste volljährige DDR-Bürger vor Beginn der großen Austrittswelle Mitglied oder Kandidat der SED, einschließlich der Träger fast des gesamten gesellschaftswissenschaftlichen und politischen Fachwissens der DDR. Der Plan ging nicht auf. Unterschätzt wurde die dominierende Rolle des sogenannten Parteibe-wußtsein, sieht man von ohnehin nicht erwünschten Karrieristen in der SED ab. Mit der von Krenz verkündeten ,Wende‘ schien Veränderungswilligen über innerparteiliche Reformen der Weg geebnet: entweder zur Bestandssicherung der DDR über kosmetische Reformen oder auch für einschneidende Veränderungen in dieser Gesellschaft. Der Sinn eines Wechsels zur IVL oder einer Doppelmitgliedschaft war nicht mehr zu vermitteln.

9. Rückblickend wird mir die Grundschwäche der IVL schon auf ihrer eigentlichen Gründungsversammlung deutlich, auf der die Beschlüsse zur Einberufung und Vorbereitung einer DDR-weiten theoretischen Konferenz gefaßt wurden. Ich erinnere mich nur zwei relevanter Gruppierungen: eindeutige Mei-nungs-führerschaft radikaldemokratischer Marxisten und die auf Aktionen drängenden so genannten ‚Bunten‘. Dazu kamen vereinzelte Christen, eher abwartende Anhänger anarchistisch-libertärer Ideen und erwartungsvoll Neugierige. Schließlich gab’s noch vereinzelte Chaoten, denen sich an Scheinproblemen aufgeilende Selbstdarstellung wichtiger war, als die Sache. Nur die beiden erstgenannten Gruppierungen waren in sich relativ geschlossen. Ein sich an Strömungen, Plattformen, Gruppierungen orientierender politischer, weltanschaulicher, theoretischer Pluralismus als existentiell notwendiger Wert – einer nicht auf Parteistrukturen zielenden Bewegung hatte damit nur eine sehr schmale Basis. Ihre angestrebte Verbreiterung über thematische Arbeitsgruppen erwies sich als illusorisch, da sich mit Rücksicht auf eine handhabbare Kon-ferenzkonzeption sofort wieder Mei-nungs-führerschaft durchsetzte, von den dabei dominierenden Marxisten zwar nicht bewußt angestrebt; aber sie waren die Einzigen, die auf konzeptionelle Vorarbeit zurückgreifen konnten. Andrerseits: Auf Sachgebieten, wo der Konferenz radikalmarxistische Konzeptionen fehlten, setzten sich sozialistisch verbrämte bürgerlich-demokratische Auffassungen durch.

10. Der (verfehlte) Anspruch, mit dieser Novemberkonferenz einen hinreichenden theoretischen Klärungsprozeß als Grundlage für einen organisatorischen Rahmen zu gewinnen, wurde nicht erfüllt. Angesichts der in der Vorbereitung nicht bewältigten und auf der Konferenz nicht gelösten Pluralismus-Frage erscheint mir ihr vorgebliches Scheitern an der Organisationsfrage als sekundäres Problem. Die Befürworter einer Lösung der Organisationsfrage auf dieser Konferenz konstituierten sich hier als ‚Bund unabhängiger SozialistInnen‘ (BuS). Mag sein, daß der BuS das Überleben der VL gesichert hat. Das nötige breite Bündnis war jedenfalls nicht zu Stande gekommen: Es fehlten existentielle Grundlagen. Am Ende standen sich zwei Positionen gegenüber: Die Einen sagten, ,,Wir haben keine Zeit zu verlieren!“; die Anderen: ,,Wer und mit wem?“

11. Die letzte große Aktion, die von der VL initiierte Dezember-Kundgebung auf dem Platz der Akademie, läutete – würdigt man den zeitgleichen Auftritt Kohls in Dresden – schon die Phase des Abwehrkampfs ein. Es ist wohl das Schicksal aller revolutionären Bewegungen, solche Wendepunkte nicht rechtzeitig zu bemerken. Aber selbst der unaufhaltsame Beginn des konterrevolutionären Vormarschs, als ein schneller und konzentrierter Rückzug auf ganz wenige, vielleicht doch noch zu rettende Restpositionen, etwa auf dem Gebiet betrieblicher Mitbestimmung, angeraten war, wurde von der VL-Mehrheit verpaßt. Mag sein, daß eine künftige ‚Geschichte des Sozialismus‘ die Rolle des einsamen Leuchtturms ‚VL‘ in der Brandung einer unaufhaltsam ansteigenden ,Einig-Vaterland‘-Flut (Runder Tisch, Verweigerung der Teilnahme an Modrows Kabinett der Früstücks-minister) hervor hebt. Für den Gang der Ereignisse blieb das Handeln der Linken jenseits von SED/PDS folgenlos.

Haben also die Linken im Herbst 1989 versagt?
12. Revolutionäre Bewegungen sind erfolgreich, so lange sie für Ziele eintreten, die über einfache Losungen zu vermitteln sind; Ziele, die aktuelle Interessen großer Volksmassen ausdrücken (1789: Freiheit und Brot; Februar 1917: Frieden und Freiheit) oder sich mindestens auf breite Zustimmung der Volksmassen stützen können (Oktober 1917: Frieden und Boden). Der scheinbar auf wahre Volkssouveränität zielende Ruf „Wir sind das Volk!“ hält einem Vergleich mit „Alle Macht den Sowjets!“ (Sommer 1917) bzw. „Alle Macht den Räten!“ (Dezember 1918) nicht stand. Die Losung war nicht auf Machtübernahme gerichtet, sondern nur eine andere Version von ,,Aber sie haben ja gar nichts an!“ aus dem Märchen über des Kaisers neue Kleider, bezogen auf die ‚volksdemokratisch‘ kostümierte DDR-Führung. Mit dem 9. November 1989 hatten in Panik geratene SED-Politiker versucht, wieder in die Vorhand zu kommen. Die Sache ging nach hinten los. Eine massenwirksame, auf ein kurzfristig als realisierbar erscheinendes Ziel gerichtete Losung entstand erst mit der Rückverwandlung der sozialen Kategorie ‚Volk‘ (Beherrschte) in ihre ethnischnationale Variante: „Wir sind ein Volk!“. Die Konterrevolution wagte sich hervor, von Anbeginn nicht frei von chauvinistischer Einfärbung.

13. Mit all dem hatte die Linke (dort, wo sie ihre sozialistischen Ziele betonte) nichts zu tun, und war nur dort gern gesehener (nötigenfalls aber auch zu entbehrender) Bündnispartner, so weit es nur um den Sturz der alten Ordnung und die Durch-setzung bürgerlicher Freiheiten ging (Demo am 4. November). Ihre spezifischen Ziele entbehrten jeder Aussicht auf Mas-sen-wirksamkeit. Sozialismus war schon im Herbst 1989 für die meisten meiner Kollegen in einem großen Berliner Kombinat gleich-bedeutend mit Rück-kehr zu gerade überwundenen Verhältnissen.

An Knotenpunkten ist die Geschichte immer offen? Für die Agierenden ja; nicht jedoch im historischen Rückblick. Offen schienen sehr bald höchstens noch Tempo und Modalitäten des Anschlusses. Aber auch da waren die Würfel Ende 1989 längst mit der Vereinbarung Bush-Gorbatschow zur rechtzeitigen Absicherung gesamtdeutscher NATO-Mitgliedschaft, so lange Gorbatschow noch im Machtbesitz war, gefallen.

14. Ist die Diskussion um das Versagen der Linken also reine Spiegelfechterei? Nützlich, wenn sie zum Verständnis der Vorgänge beiträgt; nützlich in dem begrenzten Sinne, in dem historische Forschung Lehren vermitteln kann (die allerdings in Zeiten revolutionärer Umschwünge von den Agierenden ohnehin mit Bezug auf historische Einmaligkeit gerade dieser Situation dann doch nicht berücksichtigt werden).

Linker und zugleich IM des MfS? – Persönliches
15. Seit der Veröffentlichung eines umfangreichen Beitrags von Wolfgang Rüddenklau über mich in diesem Blatt war mir klar: Wenn ich mich irgendwann in diesen Spalten wieder zu Wort melden sollte, kann dies nicht ohne gleichzeitige Äußerungen zu dieser Thematik geschehen. Aber: die folgenden Ausführungen enthalten nichts Endgültiges. Im gründlichen Durcharbeiten meines Lebens bin ich nach neun Jahren erst im Jahr 1970 angelangt. Die Sache ist mir zu wichtig, als daß ich heute bereits einen Schlußpunkt setzen könnte.

16. Meine Kontakte zum MfS reichten zurück bis ins Jahr 1954. Ihre Geschichte steht hier nicht zur Debatte. Für einen überzeugten Anhänger des Marxismus-Leninismus mit seiner Lehre von der Partei neuen Typus waren mir Beziehungen zu ‚Schild und Schwert‘ dieser Partei nichts Schändliches; eher aller Ehren wert.

17. Aus der SED 1984 ausgeschlossen, bot mir das MfS die Chance, über mein Eindringen in die unabhängige Friedensbewegung der Partei meine Treue und Zuverlässigkeit beweisen zu können. Ich suchte den Klassenfeind zunächst im Pankower Friedenskreis – und fand ihn da nicht. Ich nahm die Aufgabe ernst, zumal sie mir die nicht erwartete Gelegenheit bot, meine innerhalb der Partei nicht mehr mögliche Kritik mit weniger Rücksichtnahme nunmehr in Wort und Schrift von außen anbringen zu können. Was ich seit 1984 in der Szene zu politischen und gesellschaftlichen Fragen geäußert habe, entsprach in jedem Fall meinen jeweiligen Erkenntnisstand – vom MfS zunächst als nötige Tarnung akzeptiert.

18. Die ‚Friedrichsfelder Thesen‘ ließen mich erkennen, daß es in der Friedensbewegung Kreise mit ernst zu nehmenden politischen Vorstellungen gibt. Auf die MfS-Zustimmung zum Überwechseln mußte ich warten; Kontakte gab es aber schon bald durch meine konstruktive Mitarbeit in thematischen Arbeitskreisen: zu Thomas Klein, Reinhardt Schult u.a. Linken. Den Klassenfeind fand ich auch hier nicht, aber die Lösung eines lange bewußt verdrängten Problems. Widersprüche zwischen Theorie und Realität wurden gewöhnlich mit Erfordernissen des internationalen Klassenkampfs begrün–det, auch mit subjektiven Fehlleistungen Einzelner. Daß vieles so nicht erklärbar war – etwa der ungeschriebene Lei-ter-kodex, der zu befolgen war, wollte man nicht scheitern – war mir in Kauf zu nehmendes Übel in einer ‚Epoche des weltweiten Übergangs vom Kapitalismus zum Kommunismus‘, wenngleich gesell-schafts-theoretisch nicht erklärbar. Vor allem Thomas Klein gab mir die nötigen Anstöße zu theoretischem Verständnis für das Systembedingte dieser nichtsozialistischen Gesellschaft. In meinen Überzeugungen habe ich 1986/87 die Seiten gewechselt – vom Quasisozialisten zum Sozialisten.

19. Hatte die Stasi also angesichts des späteren Untergangs der DDR nicht eigentlich Recht, wenn sie die Linken verfolgte? Wäre hier nicht eine befriedigende Antwort für meine zwiespältige Rolle zwischen 1986 und 1989 zu finden? Natürlich nicht im Sinne einer sozialistischen Zukunft der DDR. Die Tätigkeit des MfS galt – jedenfalls so weit sie gegen links gerichtet war – der Verhinderung des Sozialismus; sofern sie bürgerlich-oppositionelle Kräfte betraf, trug sie zu seiner Diskreditierung bei. Und vom Standpunkt reaktionär-kommunistischer Machtsicherung? In der Anfangsphase war sie dazu sicher unabdingbar, später wurde sie auch hier zunehmend kontraproduktiv: Diskreditierung des Sozialismus wirkte auf die eigene Macht zurück. Aber solche Erwägungen dienen eher dazu, Linke in ihrer Ablehnungshaltung gegenüber Geheimdiensten zu bestärken.

20. Worin bestanden also die Gründe, warum ich mich bis zum Schluß in diesem Spagat übte, der meinen wechselnden Führungsoffizieren manches Rätsel und mir manchen Rüffel einbrachte? Sie bilden einen von mir noch lange nicht restlos entwirrten Knoten, wozu ich hier nur einige Stichworte liefern kann:
– exzellente Bedingungen, mein politisches Anliegen zu realisieren;
– Sorgen vor Folgen schwerwiegender Diskreditierung im Falle meiner Enttarnung durch das MfS (daher die Fortsetzung exakter Berichterstattung; als Gegenleistung gab es mitunter nützliche innerparteiliche Informationen);
– vergleichbare Sorgen bei Selbstenttarnung;
– mögliche Rückkopplungswirkung: ,,Die Linken sind das Gegenteil von Klassenfeinden!“;
– verabredet war: wer noch in der Partei ist, soll diese Stellung halten; war mein Fall nicht ein vergleichbarer Sonderfall?; waren Entwicklungen ausgeschlossen, wo ‚mit einem Bein im MfS‘ von Vorteil sein konnte?;
– zunehmende Rüffel, daß meine Nähe Pläne des MfS stören würden: ,,Halte dich da gefälligst raus!“
Ich höre auf: ein bodenloses Faß teilweise ernsthaft bedachter, z.T. nur zur Selbsttäuschung erwogener Gründe.

20. Warum ich im Herbst 1989 weiter gemacht habe? Wer das ernsthaft bedenkt, wird mir beipflichten, daß dies in jener Situation eher deeskalierend wirken konnte. Warum ich mich dann aber nicht wenigstens 1990 offenbart habe? Der Hauptgrund hierfür ist für die Öffentlichkeit ungeeignet. Und schließlich: die Erfolglosigkeit solches individuellen Wegs?

Welcher Weg Linker war nicht erfolglos?
21. Für meine Entscheidungen bin ich verantwortlich. Aber Reue ist eine mir seit frühester Kindheit unbekannte Gefühlsregung. Für Heiner Müller war sie eine unproduktive Haltung, für Tucholsky zur Täterbeurteilung unzulässig. Sie hilft auch evtl. Betroffenen nicht wirklich: Woran wollen sie die Aufrichtigkeit erkennen? Logische Konsequenz: natürlich auch keine Bitte um Vergebung.

WOLF, Wolfgang, Diplomökonom, von 1946 bis 1952 und von 1960 bis 1984 Mitglied der SED, 1964 erste Verpflichtung als Inoffizieller Mitarbeiter der Staatssicherheit, als „IM Max“ ab 1984 Mitarbeiter im Friedenskreis Berlin-Pankow, ab 1987 Mitglied von der Gruppe „Gegenstimmen“ und des Friedenskreises Berlin-Friedrichsfelde, Mitbegründer der Vereinigten Linken.

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