aus telegraph 1/1999
von Thomas Ruttig
Am Anfang stand, wie bei jeder vertikalen islamischen Erweckungsbewegung, eine Vision. Mullah Muhammad Omar, einem ehemaligen Mujahedin-Kommandeur und deshalb manchmal mit dem Beinamen „Mujahed“ – oder „Achund(zade)“ – versehen, wurde im Sommer 1994 im Traum verkündet, er sei ausersehen, in Afghanistan eine „wahre islamische Ordnung“ zu errichten. Nach dem Sturz des Najibullah-Regimes im April 1992 hatte er zunächst seine militärische Aufgabe als erfüllt angesehen und sich zu religiösen Studien zurückgezogen. Doch daß die Mujahedin-Führer den Krieg untereinander fortsetzten, empörte ihn zusehends. 1994 gründete Mullah Omar mit 33 Gleichgesinnten die Islamische Bewegung Taleban (paschto: De Talebano Islami Ghurdzang bzw. Tahrik).
Die Entstehung der Taleban
Ausgangspunkt der militärischen Erfolgsstory der Taleban ist die ländliche Umgebung der südostafghanischen Stadt Kandahar, in der 1747 von paschtunischen Stämmen der afghanische Staat gegründet wurde. Im Oktober 1994 überfallen 126 Taleban ein Waffenlager der Islamischen Partei Afghanistans. Dort fällt ihnen schweres Gerät in die Hände. Die Bewegung wächst.
Am 24. September hält Pakistans Innenminister Nasirullah Babur, früherer Armeegeneral und Paschtune wie die meisten Taleban, eine Rede im afghanisch-turkmenischen Grenzort Torghundi. Es werde bald eine Landverbindung in die GUS-Staaten Mittelasiens eröffnet, kündigt er an. Ende Oktober wird ein pakistanischer LKW-Konvoi mit Hilfsgütern gleich hinter der Grenze in Afghanistan von Mujahedin gestoppt, die Wegzoll verlangen. Anfang November machen sich die Taleban dorthin auf und kämpfen den Konvoi frei.
In der europäischen Presse tauchen erste Berichte über die neue Bewegung auf. Der Londoner „Guardian“ (5.12.94) berichtet, „Anscheinend sind sie entschlossen, das Land, das sich seit 15 Jahren im Krieg mit sich selbst befindet, zu befrieden. Von einfachen Afghanen sind sie herzlich empfangen worden.“ Die Bewegung sei „puritanisch und regressiv“, eine Bewertung, die bis heute gültig ist. Als ihre Haupttaktik wird erwähnt, sie hätten eine Million Pfund an Mujahedin-Kommandanten verteilt, um sie auf ihre Seite zu ziehen.
Im Februar 1995 beherschen die Taleban neun Provinzen, haben Tschahrasyab eingenommen – das bisher uneinnehmbare Hauptquartier Hekmatyars, des bisherigen Favoriten des pakistanischen Militärgeheimdienstes ISI – und stehen vor der Hauptstadt Kabul. Ihr Hauptquartier haben sie in Kandahar eingerichtet. Im März 1995 schalten die Taleban in der Region Kabul mit der schiitischen Hezb-e Wahdat-e Islami (Islamische Einheitspartei) einen ihrer wichtigsten Gegner aus und ermorden deren Führer, den Geistlichen Abdul Ali Mazari. Nach und nach nehmen sie die wichtigsten Städte Afghanistans ein: Im September 1995 Herat im Westen, im September 1996 Jalalabad im Osten und noch im selben Monat die Hauptstadt Kabul. Überall profitierten sie von Zerwürfnissen unter ihren Gegnern. Als letzte wichtige Stadt stürmen sie im August 1998 das nordafghanische Mazar-e Scharif, Zentrale ihrer in der „Islamischen Allianz zur Rettung Afghanistans“ zusammengeschlossenen Gegner, und richten ein Massaker an. Der legendäre Feldkommandat Ahmad Schah Masud bleibt ihr einziger starker Gegner. Mit seinen Verbündeten kontrolliert er noch zwei Provinzen im Nordosten des Landes und vier weitere teilweise. In weiteren laufen Guerilla-Aktionen gegen die Taleban.
Während sich in der Tagespresse hartnäckig die Einschätzung hielt, die Taleban seien „aus dem Nichts“ gekommen, hält der französische Afghanistan-Experte Olivier Roy entgegen: „Das Neuartige ist nicht die Existenz der Taleban-Fronten, sondern ihre unerwartete Koordination und das Vorhandensein einer politischen und militärischen Strategie, in Verbindung mit der Verfügung über finanzielle und militärische Mittel.“ Taleban-Fronten will er schon Mitte der 80er Jahre im Kampf gegen die Sowjets beobachtet haben. Sie gehörten zu einer der sieben großen „Peschawar-Parteien“ der Mujahedin, der Bewegung für die Islamische Revolution (Harakat-e Inqilab-e Islami). Sie stützte ihren bewaffneten Kampf auf sogenannte Ulema-Netzwerke, d.h. ihre Fronten waren um lokale Madrassas (Koranschulen) organisiert. Die religiösen Lehrer wurden im Kampf zu Kommandanten, die Schüler (murid oder taleb) zum Fußvolk. Aus dieser Partei (oder aus der Hezb-e Islami-Abspaltung von Yunus Khales, ebenfalls traditionalistisch) soll auch Mullah Omar stammen.
Struktur und Programm der Taleban
Die Taleban verfügen bis heute nur über ihr „Ein-Punkt-Programm“: Errichtung einer „wahrhaft islamischen Ordnung“. Das wollen sie durch die Entwaffnung aller anderen Gruppen erreichen, die sie des Verrats am Islam bezichtigen. Sie selbst sehen sich als „neutrale Partei“, deshalb lehnen sie sowohl ausländische Vermittlung als auch die Entsendung einer „neutralen“ Streitmacht (ob von UNO oder Islamischer Konferenz) zur Beendigung des Krieges ab.
Anfangs erklärten die Taleban, sie hätten keinerlei politische Ambitionen. Konsequenterweise bildeten sie zunächst auch keine Regierung und ernannten kein Staatsoberhaupt. Sie kündigten an, sich „nach dem Krieg“ mit Stammesältesten, Ulema und dem „Volk“ über die Zukunft Afghanistans zu beraten. Das hat sich inzwischen geändert. Ende 1997 riefen sie das „Islamische Emirat Afghanistan“ aus, mit dem Amir ul-Mu’menin (Oberhaupt der Gläubigen, ein Titel den auch die ersten vier Kalifen nach dem Propheten Muhammad trugen), nämlich Mullah Omar, an der Spitze. Der etwa 38jährige steht einem 30- (nach anderen Quellen 25-) köpfigen Obersten Rat (Schura) vor, der sich in Kandahar befindet. In Kabul wurde als Rumpfregierung ein sechsköpfiger „amtierender Rat“ unter der Nummer 2 der Taleban, Mullah Muhammad Rabbani, eingesetzt.
Das Taleban-Fußvolk stammt aus den Madrassas in der North West Frontier Province und Belutschistan (Pakistan) sowie im Innern Afghanistans, die während des Krieges gegen die Sowjets von Saudi-Arabien, Großbritannien und den USA finanziert wurden. Unterhalten wurden sie von pakistanischen Isla-mistenparteien wie der JUI sowie, in den Stammesgebieten, von Netzwerken des -Sufi-Ordens der Naqschbandija.
Die in Frankreich lebende afghanische Autorin Mariam Abou Zahab schildert ihre Lebensumstände und Erziehung:
„Die Mehrheit der Taleban gehört zu eher benachteiligten Schichten der paschtunischen Gesellschaft. (…) Waisen sind unter ihnen zahlreich: aus kleinen privaten oder mit einer der Widerstandsparteien verbundenen Madrassas – im wesentlichen mit der Harakat-e Inqilab-e Islami von Maulawi Muhammadi -, die manchmal in Mujahedin-Stützpunkten eingerichtet wurden und während der sowjetischen Besetzung Kinder von Märtyrern (schahid) oder besonders armer Familien aufnahmen. Die Schüler dieser Madrassas wohnten dort, wurden verpflegt und erhielten eine Ausbildung, die es ihnen erlaubte, später ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Sie wurden außerdem von jungen Jahren an für den Jihad mobilisiert. Erinnern wir uns, daß sich weltliche Bildung, die sich in den ländlichen Regionen vor der sowjetischen Besetzung schon etwas ausgebreitet hatte, während des Krieges wieder völlig verschwunden war und in allen Formen mit dem Kommunismus assoziiert wurde, also en bloc zurückgewiesen wurde.
(…) Die Lebensbedingungen der Schüler, von denen die meisten sechs bis zwölf Jahre alt waren, waren extrem hart. Schlecht ernährt, direkt auf dem Boden baufälliger Gebäude schlafend, war der gesundheitliche Zustand der Kinder beklagenswert. Der Unterricht, in der Hauptsache mündlich, bestand vollständig aus dem Auswendiglernen des Koran, was im allgemeinen drei bis vier Jahre Studium verlangte. Die Schüler lernten Persisch und Arabisch lesen, ohne jedoch zu schreiben. (…)
Die sehr sparsame Lebensweise in den Madrassas, die dauernden Entbehrungen und eine militant-islamische Erziehung, die die Werte des Paschtunwalay (des paschtunischen Stammeskodexes) und die Scharia vermischt, hat die Taleban radikalisiert und sie dazu mobilisiert, ihre Rache zu nehmen. In diesem Sinne hat sich die Bewegung einer Weiterführung der sozialen Umstrukturierungen verschrieben, denen Afghanistan während des Kriegs ausgesetzt war. Sie ist eine Reaktion der benachteiligten sozialen Schichten und der Jugend gegen die Khans und die traditionellen Notabeln, eine Reaktion der Peripherie gegen das Zentrum und des ländlichen Raumes gegen die Stadt, die als ein Ort des Verderbens gesehen wird, an dem die traditionellen paschtunischen Werte in Gefahr sind.
Die Bewegung hat sich auch der Tradition der paschtunischen Endzeit-Bewegungen verschrieben, die in Momenten der Krise auftreten, wenn die moralischen und religiösen Werte bedroht sind, wenn die Lösung in einer Rückkehr zur alten Ordnung und in einer Demoralisierung des öffentlichen Lebens zu stecken scheint. Der von den paschtunischen Mullahs in solch einer Situation proklamierte Jihad beruht auf den kulturellen und religiösen Werten, des Paschtunwalay und der Scharia, die nicht als verschieden und konfliktiv empfunden werden. In diesem Sinne sind die Taleban eine profund afghanische Bewegung.
Schließlich ist der Endzeitcharakter der Taleban-Bewegung umso mehr betont, da sie sich – wie sie immer wieder wiederholt – als Retter Afghanistan versteht, die aus Kandahar gekommen ist und sich nach manchen Berichten auf die Erscheinung des Mahdi beziehen.“
Oft wird behauptet, die Taleban verträten eine sehr konservative Islam-Variante, wie sie auf dem afghanischen Dorf zu finden gewesen sei. Abgesehen davon, daß es das afghanische Dorf nicht gibt, liegt wohl William Maley näher an der Wahrheit: „Es sind nicht die Werte des Dorfes, sondern die Werte des Dorfes, wie sie von Bewohnern von Flüchtlingslagern oder Madrassa-Studenten interpretiert wurden, von denen die meisten niemals ein gewöhnliches Dorfleben gekannt haben.“
Die Bedingungen des Erfolgs
Nach dem Abzug der sowjetischen Besatzungstruppen im Februar 1989 und dem Fall des von ihnen eingesetzten Najibullah-Regimes im April 1992 beendeten die Mujahedin-Parteien den Krieg nicht, sondern trugen ihn im Ringen um die (alleinige) Macht vom Land in die Städte. Durch Straßenschlachten im „Beirut-Stil“ (Peter Marsden) wurden insbesondere weite Teile der Hauptstadt Kabul komplett zerstört. Massenhaft kam es zu Übergriffen gegen die Bevölkerung: Morde, Entführungen, Vergewaltigungen, Verkauf von Frauen und Kindern in die Prostitution… Masuds Truppen verübten eines der großen Massaker, an Hazaras, einer ethnischen und religiösen Minderheit, im Kabuler Stadtteil Afschar. UNICEF zählte 1994 2500 bis 3000 Tote allein in Kabul; amnesty international kam von 1992 bis 1995 auf 15.000 Todesopfer.
Vor allem aber die Sowjets tragen Verantwortung für die Greuel, denn ihr Einmarsch war erst der Auslöser für das große Schlachten. Der über zehnjährige Krieg (1978/79-89) unter ihrer Beteiligung hatte die Infra- und die Sozialstruktur zerstört. Vielerorts hatten, oft junge, Kommandeure wie Masud anstelle der alten Dorf- und Stammeschefs das Zepter übernommen. Der US-Afghanistan-Kenner Barnett Rubin spricht von einer „sehr jungen Gesellschaft, bestimmt von jungen Leuten, die das alte Afghanistan nicht mehr kennen“. Dazu kommt die „lost generation“ jener Kämpfer, die nichts mehr als das Waffenhandwerk beherrschen und für die die Kalaschnikow zum wichtigsten „Produktionsinstrument“ wurde.
Schließlich spielte die Einmischung der Regionalmächte und/oder Nachbarländer Afghanistans eine entscheidende Rolle. Besonders Pakistan und Iran kämpften um die Vormacht in Afghanistan und lieferten ihren jeweiligen Protegés Waffen. Saudi-Arabien und andere Golfstaaten, als Gegner Irans, unterstützten Pakistan. Später mischten sich die neuen Republiken Usbekistan, Tadschikistan (dessen eigener Bürgerkrieg von dem in Afghanistan beeinflußt wurde) und auch wieder Rußland und Indien ein – Rußland, weil hinter den Taleban auch die USA vermutet wurden, Indien, weil es gegen Pakistan geht.
Aber die Schlüsselrolle spielt Pakistan. Nach dem Sturz Najibullahs 1992 und dem Zerfall der Sowjetunion glaubte man den Weg frei ins „islamische“ Mittelasien, wo für die daniederliegende Wirtschaft des Landes dringend benötigte Märkte vermutet wurden. Der Wettlauf der westlichen Ölkonzerne auf das Erdöl und Erdgas in der Kaspi-Region und Mittelasien heizte das Rennen noch an, zumal als der US-Ölkonzern Unocal eine der Exportpipelines durch Afghanistan verlegen wollte.
Florierender Handel aber verlangt „Ruhe und Ordnung“. Da so auch das Programm der Taleban aussah, erschienen sie mancher Interessengruppe als geeignet, dies in Afghanistan durchzusetzen: der pakistanischen Transportmafia mit ihren Connections in Militär, Geheimdienst und Regierung, sowie Unocal. Bestimmten Kreisen in der Clinton-Administration war zu Gehör gekommen, daß die Taleban in den ersten Wochen ihrer Vormarsches afghanische Drogenbarone, alles regionale Mujahedin-Kommandanten, aufgeknüpft hatten. Die Taleban schienen ein Verbündeter im „War on Drugs“ zu werden.
Derweil reparierten pakistanische Ingenieur-Teams Straßen, Flughäfen und das Telefonnetz in Talebanistan. Bis heute sind die afghanischen Städte über pakistanische(!) Vorwahlnummern telefonisch zu erreichen. In pakistanischen Zeitungsberichten wird Afghanistan mitunter als in wirtschaftlicher Hinsicht „fünfte Provinz Pakistans“ bezeichnet. Die Finanzen kamen wohl überwiegend vom Golf, wahrscheinlich unter anderem über die von den Saudis beherrschte Islamische Weltliga (Rabitat al-‚alam al-islami). Bezeichnenderweise lehnt sich die berüchtigte „Sitten-“ oder „Religionspolizei“ der Taleban in ihrem Namen dem ihres saudischen Vorbilds an: Amr (Wezarat) bil-Maruf wa Nahi An il-Munkir – zuerst Amt, inzwischen Ministerium zur Förderung der Tugend und zur Verhinderung des Lasters.
Inzwischen haben die Taleban überwiegend auf Eigenfinanzierung umgestellt. Der Transithandel zwischen Iran (bis zur militärischen Konfrontation 1998) und dem Golf auf einer und Pakistan auf der anderen Seite soll ihnen 2,5 bis 3 Milliarden US-Dollar im Jahr bringen. Weitere Haupteinnahmequellen sind der Drogenhandel – indirekt über den „Zehnten“, den die Opiummohnbauern zu zahlen haben, und höchstwahrscheinlich auch direkt (95 Prozent der afghanischen Opiummohn-Anbaugebiete liegen im Taleban-Bereich) – sowie den Holzexport an den Golf, nach Pakistan und Japan.
Das Ende der Homogenität
Je näher die Taleban der vollständigen Kontrolle über Afghanistan kommen, desto stärker werden Spannungen innerhalb der bisher so monolithisch erscheinenden Bewegung. Das beginnt an der Spitze. Zwischen Taleban-Chef Mullah Omar Mujahed und seinem Stellvertreter Mullah Rabbani. Rabbani, heißt es, sei entmachtet worden, weil er bei einem Treffen mit US-Senator Richardson im Frühjahr 1998 dessen Vorschlag für eine Waffenruhe akzeptiert. Mullah Omar habe ihn deshalb beschuldigt, „zu weich“ zu sein. Von den Vereinigten Arabischen Emiraten aus, wo er sich angeblich zu einer medizinischen Behandlung aufhalte, dementierte Mullah Rabbani im Dezember 1998 alle „Geschichten über Differenzen innerhalb der Taleban“.
Pakistanische Medien berichteten seit Oktober über mehrere interne Umsturzversuche. In Kabul und Jalalabad seien danach einflußreiche Stammeschefs und frühere Mujahedin-Kommandanten, vor allem dem ehemaligen König nahestehende, sowie hohe Khalqi-Offiziere verhaftet worden. Inzwischen wird selbst aus dem paschtunischen Kernland der Taleban Aufruhr gemeldet. 1998 kam es mehrmals sogar in der Nähe von Kandahar zu bewaffneten Auseinandersetzungen mit Todesopfern, als sich lokale Stammesführer Zwangsrekrutierungen der Taleban widersetzten. Die sollen bei den schweren Kämpfen im Sommer 1997 und 1998 die Hälfte ihrer ursprünglichen Kerntruppe eingebüßt haben. In Jalalabad gingen im Dezember Studenten auf die Straße und protestierten gegen die Veruntreuung von Geldern für ihre Wohnheime durch den Unirektor.
Mullah Omars bunter Haufen: Die Fraktionen der Taleban
Die Konflikte in der Taleban-Bewegung entwickeln sich entlang bestimmter Bruchlinien, die mit der Struktur sowie der Entstehung und des Wachstums der Bewegung zusammenhängen. Ursprünglich ein kleiner Kern von früheren Mujahedin, zog ihr siegreicher Vormarsch immer neue Kräfte an. Dadurch handelt es sich schon längst nicht mehr um eine homogene Bewegung.
Die Taleban bestehen aus sechs verschiedenen Gruppen:
Da sind zum ersten ihre militärischen Führer, oft frühere Mujahedin-Kommandeure. Zu ihnen gehört beinahe die gesamte Führungsspitze der Taleban, darunter sowohl Mullah Omar, als auch Mullah Rabbani. Sie stammen meist aus der Bewegung der Islamischen Revolution (Harakat-e Inqilab-e Islami/HII), einer der sieben pakistangestützten Mujahedin-Parteien. Weitere, wie der einflußreiche Feldkommandeur Jalaluddin Haqqani, kamen aus dem Flügel des Maulawi Yunus Khales der Islamischen Partei Afghanistans (Hezb-e Islami Afghanistan/HIA). Khales selbst war in der Anfangszeit der Taleban so etwas wie ihr wohlwollender Berater, obwohl er pro forma unter Hausarrest stand.
Die zweite Gruppe bilden die Schüler der Madrassas, die eigentlichen Taleban, die der Bewegung ihren Namen gaben und ihr Fußvolk stellen (siehe weiter oben).
Eine dritte Gruppe bilden jene Mujahedin, die sich während des Vormarschs der Taleban auf die siegreiche Seite schlugen. Sie stammen häufig aus der HIA (Gulbuddin Hekmatyar). HIA-Gruppen werden, auch von Taleban (möglicherweise als wohlfeile Ausrede), für einige der Massaker verantwortlich gemacht, die den Taleban angelastet werden. Diese Kräfte haben mit der Ideologie der beiden ersten Taleban-Gruppen wenig zu tun. Ihr Hauptanliegen war es, ihren lokalen Einfluß zu sichern. Sie und Überläufer anderer Mujahedin-Parteien regieren heute im Namen der Taleban allerdings mehrere zentral- und nordafghanische Provinzen, stehen aber meist weiter in Verbindung zu ihren früheren Verbündeten – für den Fall, daß sich die Zeiten erneut ändern sollten. Sie bilden die größte innere Gefahr für die Taleban-Bewegung.
Die wird derzeit aber meist früheren Offizieren des Kabuler Regimes zugeschrieben, der vierten Gruppe, deren Zahl Ahmad Schah Masud mit 1500 angibt. Masuds Bruder Ahmad Wali Masud, Rabbani-Botschafter in London, meint, daß ihre Bedeutung ihre Zahl übersteige, weil sie an militärischen Schaltstellen der Bewegung säßen und deren Großgeräte (Flugzeuge, Panzer) bedienten. Bei ihnen handelt es sich wohl in erster Linie um Mitglieder des früheren Khalq-Flügels der Demokratischen Volkspartei Afghanistan, der eine starke paschtunisch-nationalistische Strömung einschloß. Vor allem Anhänger der früheren Verteidigungsminister Schahnawaz Tanai und Muhammad Aslam Watanjar sollen sich den Taleban angeschlossen haben.
Berichtet wurde auch schon von Spannungen bis hin zu Schießereien zwischen afghanischen und pakistanischen Taleban. Letztere bilden die fünfte Gruppe in der Bewegung. Mehrere Tausend pakistanische (und aus anderen Ländern wie Bangladesch stammende) Taleban kämpfen an der Seite ihrer afghanischen Brüder, mit denen sie teilweise dieselben Koranschulen in Pakistan besuchten. Andere wurden von pakistanischen Isla-mistenparteien oder vom ISI rekrutiert. Einige von ihnen betrachten Afghanistan als Übungsfeld für den Tag, da sie die islamische Revolution nach Taleban-Art auch in ihr Land tragen wollen. Andere von ihnen sollen im Auftrag des ISI wohl eher auf den Krieg im indisch-besetzten Teil Kaschmirs vorbereitet werden.
Als sechste, kleinste, aber wichtigste Gruppe kommen die pakistanischen Militärberater hinzu – meist frühere oder noch aktive ISI-Agenten und ethnische Paschtunen, die für die Kampfführung und Koordination der Taleban zuständig sind. Ihre Bedeutung faßt der australische Afghanistan-Kenner Anthony Davis wie folgt zusammen: „(…) die entscheidenden Elemente des Taleban-Triumphes (…) waren: Planung; ein eindrucksvolles Command-and-Control-System und Aufklärung in einer fließenden taktischen Situation; niemals versagende logistische Unterstützung; unablässige, überwältigende Geschwindigkeit. (…) In dem kurzen Zeitraum von zwei Jahren vervielfachte sich ihre Zahl rapide von einer Streitmacht von weniger als 100 Männern zu einer von mehreren Tausend und schließlich, nach einer Schätzung, Ende 1996 zu wenigstens 30.000 bis 35.000 Kämpfern mit einer funktionierenden Brigade- und Divisionsstruktur. Sie war ausgerüstet mit Panzerfahrzeugen, einer bemerkenswert effektiven Artillerie, einer kleinen Luftwaffe, einem eindrucksvollen Kommunikationsnetzwerk und einem Ge-heim-dienstsystem. Die notwendigen organisatorischen Fähigkeiten und die logistischen Mittel von Null zusammenzubringen, zu expandieren und eine solch integrierte Kampfmaschine während einer Periode anhaltender Feindseligkeiten zu unterhalten sind ganz einfach nicht in pakistanischen Madrassas und afghanischen Dörfern zu finden.“
Der Autor ist Diplom-Afghanist und freier Journalist.
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