aus telegraph 5/1989
vom 22. Oktober 1989
Die SED-Führung kommt mit vielen Worten. Es war schon überraschend, in der Aktuellen Kamera vom Samstagabend zu sehen, wie in Berlin Stadtparteichef und Politbüromitglied Schabowski auf Demonstranten zuging, um mit ihnen zu sprechen, oder wie in Leipzig am Sonntag die Bürgerversammlung zu beobachten, auf der alles gesagt werden konnte und zum Abschluß zu einer Versammlung auf dem KarlMarx- Platz geladen wurde.
Es kommen viele wohlklingende Versprechungen, insbesondere zu besseren Reisemöglichkeiten und der FDGB-Vorsitzende Tisch fordert, daß doch Gewerkschaften nun Interessenvertretungen der Werktätigen werden müßten.
Es klingt alles wunderschön, aber ein Grundsatz wird immer eingehalten: So zu tun, als sei vorher nichts gewesen. Als hätte es Wahlbetrug, Grenzschließungen und die Gewaltexzesse der Sicherheitskräfte nicht gegeben, stellt sich z. B. ein Herr Schabowski hin und verkündet, „von Euch“ und „von Uns“ hat die Durchsetzung der „Wende“ viel „Courage“ gekostet oder kann in Leipzig davon geredet werden, daß man doch die Angriffe Anfeindender vergessen solle, nun, wo doch der „Dialog“ da sei.
Und die DDR-Medien erfreuen den Bürger mit angeordneter Offenheit, die das Aussprechen jahrelang verschwiegener angestauter Probleme, das Abdrucken verschiedener unabhängiger Resolutionen und die Beschwörung der „Wende“ (auf mehr als die Kohlsche Formel brachte man es wohl nicht) einschließlich der Berichte von Demonstrationen, aber nicht mehr beinhaltet.
Viel wird versprochen, besonders Reisen, aber nicht einmal da werden die Führenden konkret. Auf der Demonstration am Samstag wich Schabowski allen konkreten Frage aus und nutzte ausgiebig, über allgemeine Fragen sich wortreich und inhaltsarm zu verbreiten. Es gibt noch viele Beispiele dafür in der letzten Zeit.
Nirgendwo jedoch gab es nur einen konkreten glaubwürdigen Schritt. Immer noch laufen Ermittlungsverfahren gegen Demonstranten und sind Urteile in Kraft. Nirgendwo durften die für den Dialog abgestellten Kommunalpolitiker die Opposition als solche akzeptieren. Und man sagt es ja ganz offen, daß es wichtig ist, die Menschen von den Demonstrationen wegzubekommen und die weitere Entwicklung der schon vorhandenen Solidarstrukturen zu bremsen.
Sie lehnen sich jetzt verbal sehr weit aus dem Fenster und riskieren damit einen ständigen Druck nach wirklich greifbaren Veränderungen. Dann muß sich entweder die SED für scheibchenweises Abtreten oder die Brechung der inzwischen gewachsenen Zivilcourage durch polizeistaatliche Methoden entscheiden. Andere Möglichkeiten kann es unter Beibehaltung des Anspruchs der SED auf das Machtmonopol im Staat nicht geben.
Die Opposition muß die Politik der Scheinreformen und reinen Volksberuhigung versuchen zu durchkreuzen, indem sie u.a. den jetzt so eifrigen „Wende-„politikern die offenen Rechnungen aus ihrer Vergangenheit präsentiert.
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