In der Gewißheit, daß der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund nicht die Interessen der Mehrheit der Werktätigen in der DDR wahrnimmt, nicht ihr Vertrauen genießt und sich stattdessen als Bündnispartner der SED begreift, haben wir, Mitarbeiter im VEB Geräte- und Reglerwerk „Wilhelm Pieck“ Teltow, beschlossen, aus dem FDGB auszutreten und die unabhäbgige Betriebsgewerkschaft „Reform“ zu gründen.
Wir reihen uns in die demokratische Reformbewegung unseres Landes ein und unterstützen die Forderung nach Zulassung der aus ihr hervorgegangenen Gruppen und Parteien, deren ungehinderte politische Betätigung und gleichberechtigte Teilnahme an freien und kontrollierten Wahlen, so wie die Forderung nach Pressefreiheit, Meinungsvielfalt in den elektronischen Massenmedien, Redefreiheit, einem demokratischen Versammlungs- und Demonstrationsrecht. Wir schließen uns dem Kampf der Reformkräfte um Freilassung der aus politischen Gründen Inhaftierten an.
Die „Reform“-Gewerkschaft ist allein ihren Mitgliedern verpflichtet und wird sich nicht den Beschlüssen von Parteien und anderen Organisationen unterordnen.
Wir appellieren in der heutigen kritischen Situation an alle Kolleginnen und Kollegen unseres Betriebes und die Werktätigen unserer Republik, Verantwortung für unsere gemeinsame Zukunft zu tragen.
Die DDR ist u n s e r e Republik! Suchen wir gemeinsam nach einem Weg aus der Perspektivlosigkeit, der nicht in die Bundesrepublik führt! Führen wir den Kampf um Reformen:
– Eigenständigkeit der Betriebe und freie Entfaltung der Initiative der Werktätigen statt bürokratische Bevormundung und Gängelung
– Mitbestimmung der Gewerkschaften in den Betrieben
– Streikrecht der Werktätigen
– Einstellung der Tätigkeit nichtgewerkschaftlicher Organisationen und Parteien in den Betrieben
– Abschaffung der Privilegien einzelner Personen und ganzer gesellschaftlicher Gruppen
– Verbesserung der Versorgung der Bevölkerung mit Konsumgütern
– Überwindung von Mangelwirtschaft, Schlangestehen und Schwarzhandel
– Aufhebung jeglicher Reisebeschränkungen für alle Bürger Organisieren wir uns in unseren Gewerkschaften!
Unabhängige Betriebsgewerkschaft „Reform“
– VEB GRW Teltow
Zur Diskussion schlagen wir folgende programmatische Schwerpunkte vor:
1. Die Bevormundung und Gängelung der Betriebe durch staatliche Organe, deren unmittelbare Einmischung in betriebliche Angelegenheiten und die Verlagerung ökonomischer Entscheidungen des Betriebes auf übergeordnete Planungs- und Leitungsebenen einerseits und die Allmacht und Allgegenwärtigkeit der SED mit ihrem Wahrheitsmonopol andererseits halten wir für eine der Hauptursachen der sinkenden Effektivität unserer Betriebe und katastrophale Wirtschafts- und Versorgungslage in der DDR. Die zentral geleitete Planwirtschaft und der durch sie geplante Mangel lassen keinen kontinuierlichen Reproduktionsprozeß zu, führen zu Desorganisation und und Bürokratisierung, Stagnation und ökonomischer Orientierungslosigkeit der Betriebe auf dem Markt, schließlich zu Interessenlosigkeit und Gleichgültigkeit der Werktätigen. Statt die Initiative der Werktätigen, ihren Fleiß und ihr Arbeitsvermögen – die einzigen Quellen unseres materiellen Wohlstandes – zu nutzen und zu fördern, werden sie nun bereits 40 Jahre lang Schritt für Schritt den angeblich höheren Werten eines fiktiven Sozialismus geopfert.
Die unabhängigen Gewerkschaften treten für eine umfassende Eigenständigkeit mit dem Recht der Betriebe ein,
-die Preise ihrer Erzeugnisse,
-die Löhne und Gehälter ihrer Beschäftigten,
-ihre Handels- und Kooperationsbeziehungen eigenverantwortlich zu bestimmen. In ihrem wirtschaftlichem Handeln orientieren sich die Betriebe an der Erwirtschaftung eines maximalen Gewinns.
2. Die Gewerkschaften vertreten die Werktätigen in den Betrieben und Einrichtungen bei der Durchsetzung ihrer Forderungen in Bezug auf
-Löhne und Gehälter,
-Arbeitszeit,
-Arbeitsbedingungen,
-Entscheidungen der Betriebsleitung mit wesentlichen Auswirkungen auf die Arbeits- und Lebensbedingungen der Betriebsbelegschaft.
3. Um die Interessen der Werktätigen hinreichend vertreten und durchsetzen zu können, werden die unabhängigen Gewerkschaften ihr Recht auf Mitbestimmung in den Betrieben und Einrichtungen durchsetzen und in Anspruch nehmen sowie in schwerwiegenden Fällen zum Mittel des Streiks in seinen vielfältigen Formen greifen.
4. Indem wir davon ausgehen, daß allein Gewerkschaftsorganisationen die Werktätigen in den Betrieben und Einrichtungen vertreten können, alle anderen politischen und gesellschaftlichen Organisationen dagegen eine Belastung für die Erfüllung der Arbeitsaufgaben und die Wettbewerbsfähigkeit darstellen, setzen wir uns dafür ein, daß die SED, die Kampfgruppen, die FDJ und die DSF ihre Tätigkeit in den Betrieben einstellen.
5. Die sich ständig verschlechternde Versorgungslage und der zunehmende Mangel an Konsumgütern sind verbunden mit einer Störung der Geld-Ware-Beziehungen, die sich in Schlangestehen, in langen Bestellfristen, in Erscheinungen von Korruption, in der Herausbildung eines Schwarzhandels äußert, die Lebensbedingungen der Werktätigen in unerträglichem Maße beeinträchtigt und sich schließlich negativ auf die Arbeitsmoral der Werktätigen auswirkt. Gleichzeitig werden einzelnen Personen und ganzen gesellschaftlichen Gruppen Privilegien bei der Versorgung mit wichtigen Konsumgütern eingeräumt.
6. Für die Wirtschaft der DDR sind der Export und Import von Waren sowie die internationale Zusammenarbeit und Kooperation von ausschlaggebender Bedeutung. Die privaten und dienstlichen Reisebeschränkungen in die sozialistischen und nichtsozialistischen Länder führen zu einer Isolierung unserer Betriebe und der gesamten Gesellschaft sowie zur Scheuklappenmentalität, sie säen Mißtrauen gegenüber dem Staat.
Wir können nicht einsehen, weshalb den Bürgern unserer Republik, die sich unter Verletzung der Gesetze der DDR in bundesdeutsche Botschaften begeben, großzügig Ausreisepapiere ausgehändigt und Transportmittel der Deutschen Reichsbahn zur Verfügung gestellt werden, währenddessen andere wegen sogenannter Republikflucht im Namen des Volkes zu Haftstrafen verurteilt werden und wieder anderen nun auch Reisen in sozialistische Länder verweigert werden. Wir wollen und können uns nicht damit abfinden, daß staatliche Organe darüber befinden, wer zu wem und aus welchem Anlaß ins Ausland fahren darf. Es ist demütigend für unsere Bürger, mit 15.- DM in die BRD zu fahren und auf die Almosen bundesdeutscher Ämter und Unterstützung von Verwandten und Bekannten angewiesen zu sein.
Die „Reform“-Gewerkschaften fordern deshalb die Aufhebung jeglicher Reisebeschränkungen, eine ausreichende Ausstattung der Reisenden mit Valutamitteln, die Abschaffung des Straftatbestandes der Republikflucht und die Freilassung der wegen Republikflucht Inhaftierten.
Teltow, den 17.10.1989
Ralf Börger
Hönower Str.9, Berlin 1157