aus telegraph 5/1989
vom 22. Oktober 1989
Wir werden gebeten, folgenden Brief an die Leser weiterzureichen. Diejenigen, die den Brief unterstützen, sollen ihn sehr schnell abschreiben und ihn einem Volkskammerabgeordneten zukommen lassen, und zwar vor der Wahl von Egon Krenz zum Staatsratsvorsitzenden und zum Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrates am Dienstag.
Mögen doch an dieser Stelle einmal die Abgeordneten der jetzt plötzlich so eigenständigen Blockparteien ihren eigen Willen beweisen! Aber auch eine Anzahl von SEDAbgeordneten sind in letzter Zeit um Glaubwürdigkeit bemüht.
Werte(r) Frau/Herr Volkskammerabgeordnete(r)!
Als ein am öffentlichen Dialog interessierter Bürger wende ich mich mit einem dringenden Problem an Sie.
Die nächste Volkskammertagung steht unmittelbar bevor. Es gibt dabei, wichtige und weiterreichende Beschlüsse für die weitere Entwicklung des Sozialismus in der DDR und der weiteren Vertiefung und Entfaltung der Demokratie zu fassen.
Ein Stück erlebbarer Demokratie und gesellschaftlicher Wandlung stellen für mich die zu erwartenden breiten Diskussionen auf ihrer nächsten Tagung dar. Dabei sollten wichtige Entscheidungen nicht unter Zeitdruck und unüberlegt gefällt werden.
Die Wahl des Generalsekretärs des Zentralkomitees der SED, Egon Krenz, zum Vorsitzenden des Staatsrates und zum Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrates stellt für mich eine bedenkliche Machtkonzentration in den Händen einer Person dar. Demokratie im Sinne des Wortes (lat. Volksherrschaft) bedeutet für mich Gewaltenteilung.
Ich möchte Ihnen noch einige weitere Gründe für mein Votum gegen die Wahl von Egon Krenz darlegen. Seine Haltung zu den blutigen Ereignissen in diesem Jahr in der Volksrepublik China war in meinen Augen nicht geeignet, Vertrauen bei vielen dialogbereiten Bürgern hervorzurufen. Des weiteren wurde er nach meiner Ansicht seiner Aufgabe als Vorsitzender der Wahlkommission der Republik bei den diesjährigen Wahlen zu den örtlichen Volksvertretungen nicht gerecht. Die vielfältigen Anfragen zu den festgestellten Unstimmigkeiten bei der Wahl blieben von ihm unbeantwortet.
Ich beauftrage Sie, als den gewählten Vertreter der Bürger, in unserem obersten staatlichen Machtorgan, der Volkskammer, mein Anliegen zur Aussprache zu bringen.
Bitte wirken Sie darauf hin, daß die Wahl der Person des Staatsratsvorsitzenden und der Person des Nationalen Verteidigungsrates auf einen späteren Zeitpunkt verschoben wird. Die Wahl sollte dann zwischen mehreren Kandidaten möglich sein, die in einer breiteren öffentlichen Diskussion für diese wichtigen Funktionen vorgeschlagen werden.
Hochachtungsvoll!
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