aus telegraph 10/1989
vom 20. Dezember 1989
zu den Ergebnissen des ersten Gesprächstages am „Runden Tisch“.
Die Gespräche am „Runden Tisch“ beginnen in einer Zeit erneuter Zuspitzung der andauernden Krise in unserem Land. Die von Modrow geführte Regierung bleibt den Beweis schuldig, daß ihre gesetzgeberischen und anderen Aktivitäten einem Konzept folgen, welches einem freiheitlichen und demokratischen Sozialismus den Weg ebnet. Je mehr die politischen Kräfte des Landes die Aussicht auf eine solche Perspektive verwässern, werden die Stimmen gegen den drohenden Ausverkauf der DDR leiser und die für einen Anschluß an die BRD lauter. Unter letzteren lassen sich zunehmend rechte Kräfte vernehmen. …Mit der fehlenden demokratischen Legitimation der Volkskammer hat auch die Regierung keine demokratische Grundlage. Angesichts dieser Situation sehen wir, daß die Bevölkerung mangels anderer Alternativen immer nachdrücklicher freie Wahlen fordert. Dabei wächst der Zorn der Bürger über den erkennbar werdenden Umfang von Machtmißbrauch und Korruption und über die Versuche, ihn zu verschleiern. Die ausbrechende Erbitterung richtet sich gegenwärtig vor allem gegen die Nachfolgeeinrichtung des verfassungsfeindlichen Ministerium für Staatssicherheit.
Wir wollen aber die Aufmerksamkeit vor allem auf Vorgänge in der Wirtschaft unseres Landes lenken: Vielerorts beginnen die von SED-Richtlinien befreiten Betriebs- und Kombinatsleitungen in Ausnutzung der Agonie der Gewerkschaften selbstherrlich Entscheidungen zu treffen, kommerzielle Kontakte mit potentiellen ausländischen Kapitalgebern aufzunehmen und unkontrolliert Vertragsabschlüsse in Erwartung signalisierter gesetzgeberischer Schritte der ModrowRegierung vorzubereiten. …
Die „Vereinigte Linke“ will mit allen Kräften des Landes zusammenarbeiten, die auf direkte Demokratie, basisdemokratische Formen der Volkssouveränität und Volkskontrolle vor allem in den Betrieben orientieren. Nur so wird internationale wirtschaftliche Zusammenarbeit, auch mit westlichem Kapital, einer souveränen sozialistischen Entwicklung in unserem Land dienen können. Ansonsten wird ein Ausverkauf mit allen Konsequenzen und in erster Linie zu Lasten der arbeitenden Menschen beginnen. Wir wenden uns also weder gegen Wahlen noch gegen Wirtschaftskooperation. Umso entschiedener sind wir aber gegen blindes Vertrauen in parlamentarische Mechanismen und gegen Manipulationen mit Volksvermögen durch Managerwillkür. Wichtig ist, ob es gelingt, daß noch vor den Wahlen Beauftragte der Volkskontrollausschüsse, Bürgerkomitees, unabhängigen Arbeiterkommissionen und Betriebsräteinitiativen zu einem landesweiten Volkskongreß zusammentreten, beraten und ihre Forderungen stellen. …
Wir meinen …, daß die Entwicklung von Formen unmittelbarer Demokratie und direkter Volkskontrolle nicht im Gegensatz zum Parlamentarismus steht. Wohl aber wird dann „Regieren“ für das Volk mehr bedeuten, als sich über Parteien für oder gegen eine Regierung auszusprechen. Wir meinen auch, daß eine Betriebsrätebewegung nicht im Gegensatz zum Kampf um die Wirtschaftlichkeit von Betrieben steht.
Annett Seese, Thomas Klein
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