Gewalt – Maßstäbe

Nachttopf von Mielke kaputt – Herz in der Hose
aus telegraph 02/1990, vom 22. Januar

Das friedliche Zeitalter, das uns das Sternzeichen Wassermann angeblich verspricht, hat jedenfalls zu diesem Jahreswechsel noch nicht begonnen: US-amerikanische Invasion in Panama mit tausenden Toten unter der Zivilbevölkerung; in Rumänien mordete die Securitate. Und im Kaukasus herrscht Bürgerkrieg, der durch den Einsatz der Roten Armee eher verschärft als befriedet wird. Auf kleinere Gewaltherde unseres Planeten wie Libanon oder Kambodsha wollen wir gar nicht näher eingehen.

Was ist das aber alles gegen den Sturm der Vandalen nicht auf Rom, sondern das Hauptquartier der Stasi-Nasi in der Normannenstraße, stattgefunden am 15. Januar nachmittags? Wer abends fernsah oder morgens die Zeitung las, konnte meinen, wir wären knapp am Welt­untergang vorbeigeschrammt. Von amerikanischen Politikern bekamen wir sogar die Forderung zu hören, die DDR bis zu den Wahlen unter eine Militärregierung der Vier Mächte zu stellen wie nach dem 8. Mai 1945.

Dabei ist doch niemandem ein Haar gekrümmt worden. Auch Feuer wurde an keiner Stelle dieser monströsen Zwingburg des Stalinismus gelegt. Ein paar Fensterscheiben gingen zu Bruch, die Tiefkühltruhen wurden geplündert, ein Computer zertrümmert.

Ein junges Mädchen traf ich mit einer Flasche Body-Lotion vom Stasi-Friseur, einen jungen Mann mit einem Entgiftungspäckchen für den Fall des chemischen Krieges – Souvenier-Sammler alle beide. Von diesen Ausnahmen abgesehen – was wirklich stattfand, war ein schwei­gender Marsch einiger Tausender über die endlosen Treppen und Flure der Geisterburg, die schüchterne Inbesitznahme des labyrintischen Verstecks des ehemals allmächtigen und geheimnisvollen Feindes. Vorsichtig legten sich tausende Hände auf die Klinken der verschlos­senen Büros, und das war´s dann auch. Man hätte Schlimmeres erwarten können.

Der „telegraph“ ist nicht der „amis peuple“ von Marat, und unser Ruf heißt nicht Blut und Rache. Aber wir müssen anerkennen, daß „das Volk, der große Lümmel“ (Heine) auch dann im Recht gewesen wäre, wenn es mit dem großen Hammer gekommen und das Gebäude bis auf die Grund­mauern zerstört hätte. Was wäre aus der Bastille geworden, wenn sich 1789 die Revolutionäre vor sie gestellt hätten mit der puritanischen Parole: Keine Gewalt gegen Sachen?

Daß die SED und die von ihr kontrollierten Medien ein großes_Geschrei anheben würden, war zu erwarten. Ihre Politik gründet sich derzeit auf Angst- und Panikmache, um sich selbst als einzigen Ordnungsfaktor anbieten zu können, nicht nur dem eigenen Volk, sondern auch den westlichen Großmächten. Warum aber fällt die Opposition auf diesen „Panikfaktor“ herein und im Gefolge übereinander her? Warum z.B. verlangen Vertreter von „Demokratie Jetzt“ unbedingt die Ablösung von Reinhard Schult vom „Neuen Forum“, weil er und das Forum angeblich für die „Ausschreitungen“ verantwortlich sind. Wenn jemand dafür verantwortlich war, dann die SED und die Regierung Modrow, die die Auflösung der Stasi-Nasi immer wieder verschleppt und mit einem neuen Verfassungschutz versucht hatte, soviel wie möglich von den alten Strukturen zu retten. Die sind verantwortlich und nicht jene, die durch Warnstreiks versucht hatten, diese Pläne zu durchkreuzen. Die Kundgebung am 15. Januar, zu der das „Neue Forum“ aufgerufen hatte, war notwendig, und ihre Ergebnisse rechtfertigen vollauf die Scherben von Mielkes Nachttopf: Der riesige Komplex Normannenstraße ist von der Stasi-Nasi geräumt und wird jetzt kontrolliert von einem Bürgerkomitee, das sich am Abend spontan gebildet hatte. Und noch viel wichtiger: Modrow verzichtete auf die sofortige Bildung eines Verfassungsschutzes – das ist ein Rückzug, der einer Kapitulation gleichkommt. Ohne die Warnstreiks und ohne die Kundgebung – ohne Androhung von Gewalt also – hätte die Regierung heute noch nicht die Zahlen der Mitarbeiter der Stasi, deren Spitzel und Waffen veröffent­licht. Es war eine vergleichsweise sanfte Gewalt, und es wäre gut, wenn es dabei bleiben kann. Aber diejenigen von der Opposition, die meinen, daß unsere Revolution ohne Druck von unten fortschreiten könnte, befinden sich in einem folgenschweren Irrtum. Sie können am Runden Tisch die Kraft des Volkes nur vertreten, nicht ersetzen.

p.h.

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