aus telegraph 6/1989, vom 27. Oktober 1989
Nach der Ankündigung einer Amnestie auch für die während der Demonstrationen Verhafteten und die dafür Angeklagten, ist zunächst noch nichts klar. Es liegt völlig in der Willkür der Behörde und von bekannt böswilligen Polizeizeugen, wer zum „Gewalttäter“ ernannt wird. Außerdem gelten auch die Amnestierten als vorbestraft. Bei früheren Demonstrationen oder wegen sonstiger politischer Delikte in den Vormonaten Inhaftierte und Angeklagte werden vermutlich nicht frei kommen. Ob Verfahren gegen die Verantwortlichen des Polizeiterrors durchgeführt werden, steht in den Sternen. Wahrscheinlich werden unter dem Druck der öffentlichen Meinung einige armselige Untergebene bestraft werden. Auf jeden Fall tun wir gut, den Verlauf dieser Amnestie mit wachen Augen zu beobachten. Zur Kontrolle im Folgenden der aktuelle Stand des Kontakttelefon hinsichtlich Anklagen, Inhaftierungen:
In Leipzig sind noch mindestens 23 Personen in Haft, gegen die nach § 213, 214, 215 und anderen ermittelt wird. Namentlich wird Jens Kuhlow genannt. In Dresden sind 17-26 Personen in Haft. Götz Schlöttke wurde wegen Fotographieren während einer Demonstration zu einem Jahr Haft verurteilt. Von den uns bekannten Berliner Inhaftierten wird offenbar noch Olaf Stabs in Untersuchungshaft festgehalten. Nach Angaben Olaf Staps gibt es weitere ihm aus der Berliner Szene bekannte Gesichter unter seinen Mitgefangenen in der Keibelstraße. Haftadresse von Olaf Staps: UHA II, Keibelstraße 32, Berlin 1020. Bereits zu 1 Jahr, 4 Monaten verurteilt ist Thomas Rentschel wegen Druck eines Aufrufs zum Wahlboykott. Weiterhin ungeklärt ist das Schicksal von Angehörigen der Bereitschaftspolizei, die sich weigerten, auf Demonstranten einzuschlagen, zum Beispiel in Berlin und Leipzig. Daß mindestens eine Hundertschaft verurteilt worden wäre, wurde zunächst bei einer LDPD-Veranstaltung bestätigt, dann von der LDPD dementiert. Hinsichtlich der Verfahren gegen freigelassene Berliner ist unser Kenntnisstand der folgende: Donnerstag früh war Urteilsverkündung gegen Jörg Hoffmann wegen 215 (?). Das Gericht entschied auf Freispruch, Kosten soll auf Staatskasse gehen. Es stand in Frage, ob die Staatsanwaltschaft Protest einlegt. Ebenfalls am Donnerstag war die Verhandlung gegen Susanne Boeden. Am 30.10 soll Urteilsverkündung sein. Die Staatsanwaltschaft beantragte Freilassung nach § 25, der Rechtsanwalt Freispruch.
Niedergeschlagen wurde das Verfahren gegen Lutz Rentzel (22.10. § 25) und das gegen Mathias Miegel am 19. 10., das Ermittlungsverfahren wurde eingestellt. Das Ordnungsstrafverfahren gegen Uta Kielstein von 300 Mark wurde am 23.10 eingestellt, Erkennungsdienstliche Unterlagen wurden vor ihren Augen zerrissen. Verurteilt wurde, wir wollen das erwähnen, Hans Konrad Walter. In betrunkenem Zustand hat er die Polizei beschimpft. Er erhielt am 19.10. 1 Jahr Bewährung, Strafandrohung 6 Monate und 600 M Geldstrafe nach § 137 und 139, sicher eine unangemessen hohe Strafe, zumal die Vertrauenswürdigkeit von Polizeizeugen nach allen Erfahrungen gering sind. Ein weiterer ähnlicher Fall ist der von Stefan Bamberg, 19 Jahre alt und aus Borgsdorf 1404. Er hat in der Nacht vom 5.10. nach einer Brigadefeier eine Fahne heruntergerissen und Polizisten beschimpft. Er sitzt unter Anklage von §220 in U-Haft in Oranienburg. Folgende Verfahren stehen nach unserer Kenntnis noch an: Gegen Ines Bonk am 18.10. (ein beschleunigtes Verfahren wurde abgelehnt). Sie hat am 31.10 ein Gespräch bei der Staatsanwaltschaft. Gegen Janett Philipp ist am 18. 10. ebenfalls ein Schnellverfahren abgelehnt worden. Weiteres ist hier nicht bekannt. Ulf Weigand hat am 27.10. Verhandlung, Holger Gross hat am 1.11. 8.30 in der Littenstraße, Saal 115 Verhandlung. Die Termine gegen die im Zusammenhang mit der „China ist nicht fern“- Demonstration Angeklagten: Gegen Henryk Schulze wird am 31. 8.30 wegen § 217 2 verhandelt, getrennt von seinen „Mittätern“. Er soll als Rädelführer behandelt werden. Gegen Torsten Röder und Jörg Jacobi soll am gleichen Tag um 9.30 Uhr in Pankow verhandelt werden.
Insgesamt sind 69 Geldstrafen bekannt, 23 davon 1.000 bis 3.000 Mark (einer davon hat 2000 Mark bezahlt), 2 mal 20 Mark Ordnungsgeld. Der Rest liegt zwischen 100 und 500 Mark. In einem Fall, bei Elisabeth Osterberg gibt es für eine Geldstrafe per Strafbefehl eine Verhandlung am 30.10. um 10 Uhr in der Littenstraße. 8 Ermittlungsverfahren laufen noch und sind nicht eingestellt. 12 Haftstrafbefehle von 3 bis 6 Monate laufen. Es wurde Einspruch erhoben, ein Termin ist noch nicht bekannt. Gegen 9 Leute wurden Geldstrafen angedroht, hier gibt es aber noch keine Rückmeldung.
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