aus telegraph 8/1989
vom 16. November 1989
Die DDR-Regierung hat geruht, die Grenze nach Westen wieder zu öffnen. Sie tat das ebenso bei Nacht und Nebel und über die Köpfe der Bevölkerung hinweg wie bei der gewaltsamen Schließung im Jahre 1961. Immerhin aber bleiben die Löcher in den Mauern ein populäres und erfreuliches Ergebnis. Verwandte und Freunde, Aus- und Eingesperrte, konnten sich nach Jahren, oft Jahrzehnten sehen und eine neue fremdartige Welt der Farben erschloß sich allen und zwar völlig ohne Reiseprivilegien.
Das alles ist ganz nett für den Anfang, trotzdem können und wollen wir nicht aufhören zu kritisieren und die Dinge beim Namen zu nennen. Und es gibt einiges zu bedenken. Wie gesagt, eigentlich war die Öffnung der Grenze, ebenso wie deren Schließung 1961, ein Gewaltakt. Das ZK der SED suchte nach Wegen, dem Druck von der Straße auszuweichen und öffnete die Schleusen des SED-Staats. Vorbereitet war nichts, weder politisch, verwaltungs- und finanztechnisch oder gar wirtschaftlich. Und so begann das Ost-West-Gefälle seine aus der Zeit vor 1961 bekannten Konturen zu zeigen. Während ein Teil der DDR-Bürger noch das Begrüßungsgeld verzehrte, packten andere bereits auf dem Westberliner Polenmarkt aus dem Lada die Kindersachen zum Verkaufen aus. Ab Mittwoch gab es lange Schlangen vor Ostberliner Sparkassen. DDR-Bürger lösten ihre Konten auf, um sie im Westen umzurubeln. Die Westberliner Arbeitsvermittlungen haben Hochkonjunktur für Kurzzeitjobs. Der Kurs beträgt 1:10 – von einem Tag Arbeit im Westen kann man im Osten einen Monat leben. Was weiter folgt, ist abzusehen: Weitererer Schwund der Warendeckung der DDR-Währung, Inflation, Bezugsscheinsystem, offene Wirtschaftskrise. Die Situation wird nur noch durch das Eingreifen westdeutscher Banken „gerettet“ werden können. Die Weichen sind auf die wirtschaftliche Eroberung der DDR für westliches Kapital gestellt. Es ist, als ob die SED sagen wollte: Bevor wir das Land der Opposition und der Bevölkerung übergeben, machen wir es lieber kaputt und verkaufen es meistbietend an den Westen. LDPD-Chef Gerlach steht in freundlichstem Kontakt zu westdeutschen Konzernchefs und Politikern und im ZK der SED wurde die Konföderation mit der BRD erörtert.
Trübe Aussichten also für den größten Teil der Bevölkerung,besonders für die, die wie wir hofften, endlich eine politische Alternative in diesem Lande verwirklichen zu können. Noch schlechter, wenn die Zahl von 19,2 Milliarden Dollar Auslandsschulden stimmen sollte, die aus einem internen SED-Reformpapier hervorgehen. Das ist zwar brutto, aber Außenstände in Afghanistan und Vietnam sind kaum einforderbar. Ganz davon abgesehen: Wir übernehmen, soviel ist auch jetzt klar, ein wirtschaftlich ruiniertes Land. Fast alle der großen Industriebetriebe sind in den roten Zahlen und sind darüber hinaus technisch so weit veraltet, daß wir sie ohne allzuviel Schamgefühl sofort zu Industriedenkmälern machen könnten. Ganz zu schweigen von den Umweltschutzbelangen. Wir stehen, vor allem auf dem Energiesektor, vor der Aufgabe, aus dem Nichts eine effektive Wirtschaft aufzubauen. Natürlich könnte genau das reizvoll und zukunftsträchtig sein. Die Alternativenergie wurde international in den letzten Jahren durch die Ölkonzerne,die Atomlobby und die mit ihnen verbündeten Regierungen zugrunde gerichtet. Wir könnten alle verfügbaren Patente aufkaufen und durch großzügige Subventionen zum führenden Land für zukunftsweisende Energietechniken werden. In zehn Jahren ein wahre Goldgrube und vor allem für Wälder, Flüsse, Tiere und die Menschen unseres Landes eine Wohltat.
Dazu brauchen wir aber Kredite, hohe Kredite, und zwar aus Quellen, die uns weder wirtschaftlich ausbeuten, erobern, ausweiden oder wiedervereinigen wollen. Zunächst aber müssen wir uns diejenigen endlich vom Halse schaffen, die uns für einen Apfel und ein Ei an die internationalen Konzerne verscheuern wollen.
r.l.
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